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VfGH vom 10.12.2015, G352/2015

VfGH vom 10.12.2015, G352/2015

Leitsatz

Gleichheitsrechtliche Unbedenklichkeit der im Wr MindestsicherungsG normierten Anspruchsvoraussetzung des tatsächlichen Aufenthalts in Wien; Möglichkeit einer verfassungskonformen Interpretation der Bestimmung angesichts des gesetzlichen Spielraums für eine Bedachtnahme auf berücksichtigungswürdige Gründe der Abwesenheit

Spruch

In § 4 Abs 1 Wiener Mindestsicherungsgesetz (WMG), LGBl für Wien Nr 38/2010, wird die Wortfolge ", sich tatsächlich in Wien aufhält" nicht als verfassungswidrig aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Anlassverfahren, Prüfungsbeschluss und Vorverfahren

1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zur Zahl E1864/2014 eine auf Art 144 B VG gestützte Beschwerde anhängig, der folgender Sachverhalt zugrunde liegt:

1.1. Die Beschwerdeführerin leidet nach der Aktenlage an chronischer Polyarthritis und ist aus diesem Grund arbeitsunfähig. Sie bezieht Leistungen der Mindestsicherung zur Deckung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes. Mit Schreiben vom teilte die Beschwerdeführerin dem Magistrat der Stadt Wien mit, dass sie sich von 12. Mai bis für einen (privaten) Kuraufenthalt zur Behandlung ihrer Erkrankung nicht in Wien aufhalten werde. Diese Kur sei ein Geburtstagsgeschenk ihrer Eltern gewesen.

1.2. Mit Bescheiden vom stellte der Magistrat der Stadt Wien daraufhin die Leistungen der Mindestsicherung mit ein und verfügte die Rückforderung der zu Unrecht empfangenen Leistungen für die Zeit von 12. bis . Begründend führte der Magistrat aus, dass die Beschwerdeführerin ihren Lebensmittelpunkt nicht in Wien habe bzw. sich nicht tatsächlich in Wien aufhalte und damit die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Leistungen der Mindestsicherung in diesem Zeitraum nicht erfülle.

1.3. Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am wies das Verwaltungsgericht Wien (im Folgenden: VwG Wien) die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde mit Erkenntnis vom ab. Das VwG Wien stellte fest, dass die Beschwerdeführerin die Behörde entsprechend ihrer Meldepflicht gemäß § 21 Abs 1 des Wiener Mindestsicherungsgesetzes (WMG), LGBl für Wien 38/2010, über ihre geplante Abwesenheit in der Zeit von 12. Mai bis informiert habe und dass die Behörde in der Folge davon habe ausgehen müssen, dass für diesen Zeitraum mangels eines Aufenthaltes iSv § 4 Abs 1 Z 2 iVm § 7 WMG die Leistungen der Mindestsicherung zu Recht eingestellt worden seien.

2. Bei der Behandlung der gegen dieses Erkenntnis gerichteten Beschwerde gemäß Art 144 B VG sind beim Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der Wortfolge ", sich tatsächlich in Wien aufhält" in § 4 Abs 1 WMG entstanden. Der Verfassungsgerichtshof hat daher am beschlossen, diese Gesetzesbestimmung von Amts wegen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen.

3. Der Verfassungsgerichtshof legte seine Bedenken, die ihn zur Einleitung des Gesetzesprüfungsverfahrens bestimmt haben, in seinem Prüfungsbeschluss wie folgt dar:

"3.1. Gemäß § 4 Abs 1 Z 2 WMG scheint ein Anspruch auf Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung nur jenen Personen zuzukommen, die u.a. ihren Lebensmittelpunkt in Wien haben, sich tatsächlich in Wien aufhalten und ihren Lebensunterhalt in Wien bestreiten müssen. Der Verfassungsgerichtshof geht vorläufig davon aus, dass die Bestimmung auf Grund ihres Wortlautes so zu verstehen ist, dass alle drei Voraussetzungen betreffend den Aufenthalt einer um Mindestsicherung ansuchenden Person kumulativ vorliegen müssen, um einen Anspruch zu begründen. Dabei dürfte die zweite Voraussetzung, nämlich der tatsächliche Aufenthalt in Wien, bewirken, dass Mindestsicherung nur insoweit und solange beansprucht werden kann, als die betreffende Person tatsächlich in Wien anwesend ist. Abgesehen von der – wie es scheint – eine andere Auslegung ausschließenden Wortwahl des Gesetzgebers (arg. 'tatsächlich') lässt sich die in Prüfung gezogene Wendung des 'tatsächlichen Aufenthaltes' anscheinend auch nicht im Sinne eines 'gewöhnlichen Aufenthaltes' deuten, da dieser schon dann vorliegen dürfte, wenn der Lebensmittelpunkt in Wien liegt und der Betroffene seinen Lebensunterhalt in Wien bestreiten muss (zum Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltsortes siehe etwa Simotta, in: Fasching/Konecny [Hrsg.] 3 , § 66 JN, Rz 27).

Hilfebedürftige, die auch nur sehr kurz und vorübergehend das Wiener Landesgebiet verlassen (und sei es auch aus wichtigen persönlichen Gründen), scheinen damit (für den Zeitraum ihrer tatsächlichen Abwesenheit) ihren Anspruch auf Mindestsicherung ausnahmslos und ungeachtet dessen zu verlieren, dass der Hauptwohnsitz oder zumindest der gewöhnliche Aufenthaltsort unverändert in Wien verbleiben und der Grund des Aufenthaltes auch nicht dazu führt, dass Wohnkosten oder Kosten des Lebensunterhalts geringer würden oder gar wegfielen.

3.2. Der Verfassungsgerichtshof hat das Bedenken, dass eine solche Regelung nicht mit Art 7 Abs 1 B VG vereinbar ist:

3.2.1. Zunächst scheint kein sachlicher Grund dafür vorzuliegen, die Leistung einer sozialen Grundsicherung in einer derart rigorosen und ausnahmslosen Weise an die tatsächliche Anwesenheit innerhalb der Landesgrenzen zu binden. Die soziale Mindestsicherung ist auf eine österreichweite, flächendeckende und gleichwertige Versorgung angelegt, wie die Vereinbarung gemäß Art 15a B VG zwischen dem Bund und den Ländern über eine bundesweite Bedarfsorientierte Mindestsicherung zeigt, in der sich die Länder zu einer entsprechend koordinierten Gesetzgebung verpflichtet haben; es bedarf daher entsprechend der Vereinbarung dieser Koordination anscheinend jeweils landesgesetzlicher Regelungen über die Zuständigkeitsabgrenzung, die sicherstellen, dass es weder zu Mehrfachansprüchen in verschiedenen Ländern kommen kann noch zu Schutzlücken zwischen den Ländern. Gemäß Art 9 Abs 2 der zitierten Vereinbarung hat jenes Land die Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung zu erbringen, in dem der Antragsteller seinen Hauptwohnsitz und in Ermangelung eines solchen den gewöhnlichen Aufenthalt hat.

3.2.2. Der Wiener Landesgesetzgeber scheint nun aber darauf insoweit nicht Bedacht genommen zu haben, als im Falle auch nur tage- oder wochenweiser tatsächlicher Abwesenheit von Wien zwar der Anspruch auf Mindestsicherung in Wien verloren geht, obwohl – mangels der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthaltsortes bei derart kurzfristigen, bloß tatsächlichen Anwesenheiten zum Zwecke einer Kur, zu Besuchszwecken oder aus anderen vorübergehenden Gründen am Zielort – der gewöhnliche Aufenthaltsort in Wien nicht verloren geht.

3.2.3. Der Landesgesetzgeber dürfte zwar – vor dem Hintergrund der Zwecke der Mindestsicherung – nicht gehalten sein, jegliche Reisebewegungen der auf Mindestsicherung angewiesenen Person in jeglicher Dauer durch die Fortgewährung von finanziellen Leistungen der Mindestsicherung zum Lebensunterhalt zu unterstützen. Der Verfassungsgerichtshof geht vielmehr vorläufig davon aus, dass der Landesgesetzgeber eine Fortgewährung der Mindestsicherung auch bei nur vorübergehenden Aufenthalten außerhalb des Gebietes des betreffenden Bundeslandes an das Vorliegen wichtiger persönlicher und berücksichtigungswürdiger Gründe knüpfen darf, etwa aus dem Grund, weil eine zum Einsatz ihrer Arbeitskraft verpflichtete Person für den örtlichen Arbeitsmarkt jederzeit verfügbar sein muss.

3.2.4. Eine Norm jedoch, nach welcher die Mindestsicherung ohne Bedachtnahme auf die Gründe, die zu einer Ortsabwesenheit geführt haben, und ohne Bedachtnahme darauf, ob sich die betreffende Person zur Arbeitsaufnahme bereithalten muss, in jedem dieser Fälle entzogen werden darf, dürfte aber selbst bei Berücksichtigung der (beschränkten) Zwecke der Mindestsicherung und deren Subsidiarität jeder sachlichen Rechtfertigung entbehren und daher verfassungswidrig sein (vgl. zur Verfassungswidrigkeit einer derartigen Auslegung in einem vergleichbaren Fall )."

4. Die Wiener Landesregierung erstattete eine Äußerung, in der den im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken wie folgt entgegengetreten wird:

"Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichts Wien (vgl. etwa VGW vom , ZI. VGW-141/028/23268/2014, vom , ZI. VGW 141/002/30623/2014) ist aus § 4 Abs 1 Z 2 in Verbindung mit § 21 Abs 1 WMG zu schließen, dass – während eine Abwesenheit von Wien bis zu einer Dauer von (längstens) zwei Wochen weder anzeigepflichtig noch anspruchsschädlich ist – bei einer Abwesenheit vom Wohnort Wien für eine Dauer von mehr als zwei Wochen die allgemeine Anspruchsvoraussetzung des § 4 Abs 1 Z 2 WMG nicht mehr erfüllt ist.

Der Landesgesetzgeber hat als Anspruchsvoraussetzung für die Bedarfsorientierte Mindestsicherung unter anderem den tatsächlichen Aufenthalt in Wien vorgesehen. Eine verfassungskonforme Auslegung des § 4 Abs 1 Z 2 WMG ist, wie die Judikatur des Verwaltungsgerichts Wien und die Vollziehung durch die Behörde zeigt, möglich. Der Hilfesuchende kann sich bis zu einer Dauer von zwei Wochen ohne Angabe von Gründen außerhalb von Wien (z. B. für einen Urlaub im In- oder Ausland, für Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gesundheit, etc.) aufhalten, ohne dass ein Anspruchsverlust eintritt. Der Landesgesetzgeber hat damit darauf Bedacht genommen, dass in diesen Fällen Wien der gewöhnliche Aufenthaltsort bleibt.

Des Weiteren tritt gemäß § 17 WMG nur ein Ruhen der Ansprüche auf Mindestsicherung des Lebensunterhalts und des Grundbetrags zur Deckung des Wohnbedarfs ein, soweit und solange der Bedarf für längere Zeit anderweitig auf Kosten des Bundes, eines Landes oder eines Sozialhilfeträgers oder Trägers der Bedarfsorientierten Mindestsicherung abgedeckt ist. Vom Ruhen ausgenommen ist der zur Deckung des Wohnbedarfs vorgesehene Grundbetrag, soweit dieser nachweislich zur Abdeckung von Wohnkosten erforderlich ist, in absehbarer Zeit wieder ein Wohnbedarf bestehen wird und die Erhaltung der konkreten Wohnmöglichkeit wirtschaftlich sinnvoll ist.

In den Fällen des § 17 WMG ist somit bei Vorliegen der angeführten Voraussetzungen unabhängig von der Dauer der Abwesenheit zumindest der Grundbetrag zur Deckung des Wohnbedarfs weiterhin auszuzahlen. Darüber hinaus ist während eines Aufenthaltes in einer Krankenanstalt, einem Wohn- oder Pflegeheim oder einer Therapieeinrichtung zur Deckung kleinerer persönlicher Bedürfnisse ein angemessener Betrag (Taschengeld) vom Ruhen ausgeschlossen, soweit diese Bedürfnisse nicht anderweitig abgedeckt sind.

Die in Prüfung genommene Wortfolge ', sich tatsächlich in Wien aufhält' in § 4 Abs 1 WMG, LGBl für Wien Nr 38/2010, ist daher nach Ansicht der Wiener Landesregierung verfassungskonform."

II. Rechtslage

1. Die maßgeblichen Bestimmungen des Wiener Mindestsicherungsgesetzes (WMG), LGBl für Wien 38/2010, lauten (die in Prüfung gezogene Wortfolge ist hervorgehoben):

"Allgemeine Anspruchsvoraussetzungen

§4. (1) Anspruch auf Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung hat,

wer

1. zum anspruchsberechtigten Personenkreis (§5 Abs 1 und 2) gehört,

2. seinen Lebensmittelpunkt in Wien hat , sich tatsächlich in Wien aufhält und seinen Lebensunterhalt in Wien bestreiten muss,

3. die in § 3 definierten Bedarfe nicht durch den Einsatz seiner Arbeitskraft, mit eigenen Mitteln oder durch Leistungen Dritter abdecken kann,

4. einen Antrag stellt und am Verfahren und während des Bezuges von

Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung entsprechend mitwirkt.

(2) Ein Anspruch auf Mindestsicherung des Lebensunterhalts und Wohnbedarfs einschließlich Mietbeihilfe besteht ab einem errechneten Mindestbetrag von fünf Euro monatlich.

(3) Personen, die bereits eine für Erwerbszwecke geeignete abgeschlossene Ausbildung oder eine Schulausbildung auf Maturaniveau haben und ihre Arbeitskraft allein deshalb nicht voll einsetzen können, weil sie eine weiterführende Ausbildung absolvieren, steht ein Anspruch auf Leistungen aus der Bedarfsorientierten Mindestsicherung nicht zu."

"Anspruch auf Mindestsicherung des Lebensunterhalts und Wohnbedarfs

§7. (1) Anspruch auf Mindestsicherung des Lebensunterhalts und Wohnbedarfs haben volljährige Personen bei Erfüllung der Voraussetzungen nach § 4 Abs 1 und 2. Der Anspruch auf Mindestsicherung des Lebensunterhalts und Wohnbedarfs kann nur gemeinsam geltend gemacht werden und steht volljährigen Personen der Bedarfsgemeinschaft solidarisch zu. Die Abdeckung des Bedarfs von zur Bedarfsgemeinschaft gehörenden minderjährigen Personen erfolgt durch Zuerkennung des maßgeblichen Mindeststandards an die anspruchberechtigten Personen der Bedarfsgemeinschaft, der sie angehören.

(2) – (5) […]"

"Ruhen von Ansprüchen

§17. (1) Ansprüche auf Mindestsicherung des Lebensunterhalts und des Grundbetrags zur Deckung des Wohnbedarfs ruhen soweit und solange der Bedarf für längere Zeit anderweitig auf Kosten des Bundes, eines Landes oder eines Sozialhilfeträgers oder Trägers der Bedarfsorientierten Mindestsicherung abgedeckt ist.

(2) Vom Ruhen ausgenommen ist der zur Deckung des Wohnbedarfs vorgesehene Grundbetrag, soweit dieser nachweislich zur Abdeckung von Wohnkosten erforderlich ist, in absehbarer Zeit wieder ein Wohnbedarf bestehen wird und die Erhaltung der konkreten Wohnmöglichkeit wirtschaftlich sinnvoll ist.

(3) Während eines Aufenthaltes in einer Krankenanstalt, einem Wohn- oder Pflegeheim oder einer Therapieeinrichtung ist zur Deckung kleinerer persönlicher Bedürfnisse darüber hinaus ein angemessener Betrag (Taschengeld) vom Ruhen ausgeschlossen, soweit diese Bedürfnisse nicht anderweitig abgedeckt sind. Dieser Betrag ist durch Verordnung der Landesregierung festzusetzen.

(4) Die Hilfe suchende oder empfangende Person ist verpflichtet, der Behörde unverzüglich den Eintritt von Umständen mitzuteilen, die ein Ruhen im Sinne dieser Bestimmung nach sich ziehen können. Werden der Behörde Umstände, die ein Ruhen des Anspruches zur Folge haben, nachträglich bekannt, sind zu Unrecht bezogene Leistungen zurückzufordern. Der Träger der Mindestsicherung ist berechtigt, Rückforderungsansprüche gegen Ansprüche auf Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung aufzurechnen."

"Anzeigepflicht und Rückforderungsanspruch

§21. (1) Hilfe empfangende Personen haben jede Änderung der für die Bemessung der Leistung maßgeblichen Umstände, insbesondere der Vermögens-, Einkommens-, Familien- oder Wohnverhältnisse sowie Aufenthalte in Kranken- oder Kuranstalten oder sonstige, voraussichtlich länger als zwei Wochen dauernde Abwesenheiten vom Wohnort unverzüglich dem Magistrat der Stadt Wien anzuzeigen.

(2) Leistungen, die auf Grund einer Verletzung der Anzeigepflicht gemäß Abs 1 zu Unrecht empfangen wurden, sind mit Bescheid zurückzufordern. Die Behörde ist berechtigt, die Aufrechnung gegen Ansprüche auf Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung zu verfügen.

(3) Die Rückforderung kann in Teilbeträgen erfolgen oder unterbleiben, wenn die anzeigepflichtige Person glaubhaft macht, dass die Verletzung der Anzeigepflicht auf einem geringfügigen Verschulden beruht, die Rückforderung eine Notlage herbeiführen würde, der Anspruch voraussichtlich uneinbringlich wäre oder der Betrag unbedeutend ist."

2. Art 4 und Art 9 der Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern gemäß Art 15a B VG über eine bundesweite Bedarfsorientierte Mindestsicherung, BGBl I 96/2010, lauten:

"Artikel 4

Personenkreis

(1) Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung sind vorbehaltlich des Abs 3 für alle Personen für die Dauer ihres gewöhnlichen Aufenthaltes im Inland vorzusehen, die nicht in der Lage sind, die in Art 3 genannten Bedarfsbereiche zu decken.

(2) Volljährigen Personen stehen ein eigenes Antragsrecht und eine Parteistellung im Verfahren zu. Diese Rechte dürfen nicht eingeschränkt werden, es sei denn, die Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung werden nur als Annex zu einer sozialversicherungs- oder versorgungsrechtlichen Leistung erbracht, die einer anderen Person gebührt. Personen nach Abs 1 dürfen dennoch Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung auch im Namen der mit ihnen im gemeinsamen Haushalt lebenden, ihnen gegenüber unterhaltsberechtigten oder mit ihnen in Lebensgemeinschaft lebenden Personen geltend machen.

(3) Rechtsansprüche auf Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung sind für alle Personen vorzusehen, die zu einem dauernden Aufenthalt im Inland berechtigt sind. Dazu gehören jedenfalls

1. österreichische Staatsangehörige einschließlich ihrer Familienangehörigen;

2. Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte;

3. EU-/EWR-BürgerInnen, Schweizer Staatsangehörige und deren Familienangehörige, jeweils soweit sie durch den Bezug dieser Leistungen nicht ihr Aufenthaltsrecht verlieren würden;

4. Personen mit einem Aufenthaltstitel 'Daueraufenthalt-EG' oder 'Daueraufenthalt–Familienangehörige';

5. Personen mit einem Niederlassungsnachweis oder einer unbefristeten Niederlassungsbewilligung.

(4) Kein dauernder Aufenthalt im Sinne des Abs 3 liegt insbesondere bei nichterwerbstätigen EU-/EWR-BürgerInnen und Schweizer Staatsangehörigen und deren Familienangehörigen, jeweils in den ersten drei Monaten ihres Aufenthaltes, AsylwerberInnen sowie bei Personen vor, die auf Grund eines Reisevisums oder ohne Sichtvermerk einreisen (TouristInnen) durften. Die Verpflichtungen aus der Grundversorgungsvereinbarung – Art 15a B VG (BGBl I Nr 80/2004) bleiben unberührt."

"Artikel 9

Zuständigkeit der Länder

(1) Für alle Personen, bei denen Bedarfe nach Art 3 durch Leistungen nach dem 2. Abschnitt dieser Vereinbarung nicht gedeckt sind, gewährleisten die Länder die erforderlichen Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Abschnittes.

(2) Die Verpflichtung nach Abs 1 trifft jenes Land, in dem die Person, die Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung geltend macht, ihren Hauptwohnsitz oder in Ermangelung eines solchen ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Vereinbarung nach Art 15a B VG zwischen den Ländern über den Kostenersatz in der Sozialhilfe bleibt unberührt."

III. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Verfahrens

Im Verfahren hat sich nichts ergeben, was an der Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Bestimmung zweifeln ließe. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich das Gesetzesprüfungsverfahren insgesamt als zulässig.

2. In der Sache

2.1. Die im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken des Verfassungsgerichtshofes konnten im Gesetzesprüfungsverfahren zerstreut werden:

2.1.1. Gemäß § 4 Abs 1 Z 2 WMG kommt ein Anspruch auf Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung nur demjenigen zu, der "seinen Lebensmittelpunkt in Wien hat, sich tatsächlich in Wien aufhält und seinen Lebensunterhalt in Wien bestreiten muss". Das Gesetzesprüfungsverfahren hat die vorläufige Annahme des Verfassungsgerichtshofes bestätigt, dass diese drei Voraussetzungen nach dem Willen des Wiener Landesgesetzgebers kumulativ zu erfüllen sind, die antragstellende Person also sowohl ihren Lebensmittelpunkt in Wien haben, sich tatsächlich in Wien aufhalten und auch ihren Lebensunterhalt dort bestreiten muss. Der Gerichtshof hat deshalb vorläufig angenommen, dass sich die antragstellende Person gemäß § 4 Abs 1 Z 2 WMG in jedem Fall "tatsächlich in Wien" aufzuhalten hat.

2.1.2. Als zutreffend hat sich auch erwiesen, dass der in Prüfung gezogenen Wortfolge eine engere Bedeutung beizumessen ist als dem Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes und sie – anders als dieser – die dauerhafte, faktische Anwesenheit an einem Ort erfasst.

2.1.3. Das Bedenken des Verfassungsgerichtshofes in seinem Prüfungsbeschluss hat darin bestanden, dass hilfebedürftige Personen, die auch nur sehr kurz und vorübergehend das Wiener Landesgebiet verlassen, für den Zeitraum ihrer Abwesenheit ihren Anspruch auf Mindestsicherung verlieren, und zwar selbst dann, wenn die Abwesenheit wichtige persönliche Gründe zur Ursache hat. Dies gelte selbst dann, so hat der Verfassungsgerichtshof angenommen, wenn durch eine derart kurze Abwesenheit der Hauptwohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthalt unverändert in Wien verbleiben. Auch gehe der Anspruch auf Mindestsicherung selbst in solchen Fällen verloren, in denen der Aufenthalt in einem anderen Bundesland nicht dazu führt, dass Wohnkosten oder Kosten des Lebensunterhalts geringer werden oder gar wegfallen.

2.1.4. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in seinem Prüfungsbeschluss deshalb zusammengefasst auf den Standpunkt gestellt, dass § 4 Abs 1 Z 2 WMG der sachlichen Rechtfertigung iSd Art 7 Abs 1 B VG entbehre, weil danach Mindestsicherung ohne Bedachtnahme auf die Gründe, die zu einer Ortsabwesenheit geführt haben, und ohne Bedachtnahme darauf, ob sich die betreffende Person zur Arbeitsaufnahme bereithalten muss, in jedem dieser Fälle entzogen werden darf.

2.1.5. Die Wiener Landesregierung ist diesem Bedenken im Verfahren einerseits damit entgegengetreten, dass das Erfordernis des tatsächlichen Aufenthaltes in § 4 Abs 1 Z 2 WMG nach der Judikatur des VwG Wien im Lichte des § 21 Abs 1 leg.cit. zu lesen sei, demzufolge die Hilfe empfangende Person jede Änderung der für die Bemessung der Leistung maßgeblichen Umstände, darunter auch "sonstige, voraussichtlich länger als zwei Wochen dauernde Abwesenheiten vom Wohnort", – nicht also kürzer dauernde Abwesenheiten – unverzüglich dem Magistrat der Stadt Wien anzuzeigen habe. Daraus leitet die Wiener Landesregierung im Umkehrschluss ab, dass kürzere, nicht länger als zwei Wochen dauernde Abwesenheiten vom Wohnort auch für die Bemessung der Mindestsicherung nicht relevant seien. Eine hilfebedürftige Person dürfe sich daher – sei es für einen Urlaub im In- oder Ausland oder aber auch für Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gesundheit – ohne Angabe von Gründen außerhalb von Wien aufhalten, ohne dass dies einen Anspruchsverlust nach sich ziehe. Andererseits trete auch in Fällen einer länger als zwei Wochen dauernden Abwesenheit gemäß § 17 Abs 2 WMG das Ruhen von Ansprüchen auf Mindestsicherung nur mit der Maßgabe ein, dass der zur Deckung des Wohnbedarfs vorgesehene Grundbetrag "im Regelfall vom Ruhen ausgenommen" ist.

2.2. Der Verfassungsgerichtshof vermag seine Bedenken angesichts dieser Ausführungen nicht aufrecht zu erhalten:

2.2.1. Die in Prüfung gezogene Norm lässt sich im Zusammenhang mit § 21 WMG vor dem Hintergrund der Bedenken des Verfassungsgerichtshofes verfassungskonform dahin auslegen, dass nur bei einer Abwesenheit von Wien in der Dauer von mehr als zwei Wochen ein Anspruchsverlust von Leistungen der Mindestsicherung eintritt und dass auch in diesem Fall die – in verfassungskonformer Interpretation gebotene – Anwendung des § 17 WMG verhindern kann, dass ein Fortbestand des Wohnbedarfs oder eines Bedarfs nach Taschengeld im Zeitraum der Abwesenheit zur Gänze unberücksichtigt bleibt.

2.2.2. Angesichts dessen, dass es nach dieser Interpretation der Bestimmungen des WMG bei einer für den Anspruch unschädlichen Abwesenheit von Wien bis zu zwei Wochen auf den jeweiligen Grund der Abwesenheit nicht ankommt, bietet das Gesetz auch genügend Spielraum für eine angemessene Wahrnehmung nahezu aller in Betracht kommenden berücksichtigungswürdigen persönlichen Gründe, die Anlass für solche Abwesenheiten geben können. Die auf diese Weise auch im Falle einer großen Zahl von Verfahren einfach handhabbare Regelung kann zwar im Falle einer auch nur geringfügigen Überschreitung der Zweiwochenfrist zu Härtefällen führen, doch macht dies allein die Norm nicht verfassungswidrig (zur Zulässigkeit der Berücksichtigung möglichst einfach handhabbarer Vollziehung im Sozialhilferecht vgl. VfSlg 19.791/2013; zur Unschädlichkeit von dadurch unvermeidbaren Härtefällen vgl. VfSlg 19.411/2011).

2.3. Die in Prüfung gezogene Wortfolge erweist sich somit nicht als verfassungswidrig.

IV. Ergebnis

1. Die Wortfolge ", sich tatsächlich in Wien aufhält" in § 4 Abs 1 WMG idF LGBl für Wien 38/2010 ist daher nicht als verfassungswidrig aufzuheben.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2015:G352.2015