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VfGH vom 01.03.2002, G319/01

VfGH vom 01.03.2002, G319/01

Sammlungsnummer

16460

Leitsatz

Verletzung des rechtsstaatlichen Gebots durch den Ausschluß der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung bei einer von den Nachbarn einer bereits vor Rechtskraft des Genehmigungsbescheides errichteten und betriebenen Betriebsanlage eingebrachten Berufung; keine Wahrnehmung des notwendigen Interessenausgleichs zwischen Genehmigungs- und Berufungswerber im Berufungsverfahren durch den Gesetzgeber; Aufhebung der eine Ausnahme zugunsten des Arbeitsinspektorates bewirkenden Wortfolgen

Spruch

Die Wortfolgen "das Arbeitsinspektorat gegen den Genehmigungsbescheid berufen hat und", "des Arbeitsinspektorates" und "von Arbeitnehmern" im letzten Satz des § 78 Abs 1 der Gewerbeordnung 1994, BGBl. Nr. 194, idF BGBl. I Nr. 63/1997 werden als verfassungswidrig aufgehoben.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Gemäß § 74 Abs 2 der Gewerbeordnung (GewO) 1994 ist für das Errichten und den Betrieb einer gewerblichen Betriebsanlage, die grundsätzlich geeignet ist, einen oder mehrere der Tatbestände der Z 1 bis 5 zu erfüllen (darunter auch die Beeinträchtigung schutzwürdiger Interessen der Nachbarn iSd § 75 Abs 2), eine (gewerbe)behördliche Genehmigung erforderlich. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz, daß Betriebsanlagen erst nach rechtskräftiger Genehmigung errichtet und betrieben werden dürfen, sieht - neben § 354 und § 359c - § 78 Abs 1 GewO 1994 vor.

Diese Bestimmung, welche ihre derzeit geltende Fassung durch die Novelle BGBl. I 63/1997 erhalten hat, lautet (die in Prüfung genommenen Gesetzesstellen sind hervorgehoben):

"§78. (1) Anlagen oder Teile von Anlagen dürfen vor Eintritt der Rechtskraft des Genehmigungsbescheides errichtet und betrieben werden, wenn dessen Auflagen bei der Errichtung und beim Betrieb der Anlage eingehalten werden. Dieses Recht endet mit der Erlassung des Bescheides über die Berufung gegen den Genehmigungsbescheid, spätestens jedoch drei Jahre nach der Zustellung des Genehmigungsbescheides an den Genehmigungswerber. Die zur Entscheidung berufene Behörde hat die Inanspruchnahme dieses Rechtes auszuschließen, wenn das Arbeitsinspektorat gegen den Genehmigungsbescheid berufen hat und der Begründung der Berufung des Arbeitsinspektorates zu entnehmen ist, daß auf Grund der besonderen Situation des Einzelfalles trotz Einhaltung der Auflagen des angefochtenen Bescheides eine Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit von Arbeitnehmern zu erwarten ist."

1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zu B498/01 eine Beschwerde gegen einen Bescheid des Bundesministers für Wirtschaft und Arbeit anhängig, dem folgender Sachverhalt zugrundeliegt:

Mit Bescheid des Magistrats der Stadt Wien vom 7. September

2000 wurde einer Kommanditgesellschaft die gewerbebehördliche

Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb einer Tiefgarage

erteilt. Gegen diese Bewilligung erhob unter anderem die nunmehrige

Beschwerdeführerin als Nachbar iSd § 75 Abs 2 GewO 1994 Berufung und

stellte sodann mit Schriftsatz vom den Antrag, "der

... am eingebrachten Berufung gegen den Bescheid des

Magistrats der Stadt Wien, ... vom , GZ MBA 4/5-Ba 11743/99

mit gesondertem, verfahrensrechtlichen Bescheid gemäß § 78 Abs 1 GewO aufschiebende Wirkung zuzuerkennen".

Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom als unzulässig zurückgewiesen. Begründend wurde ausgeführt, daß nach dem klaren Wortlaut des § 78 Abs 1 GewO 1994 eine Antragslegitimation der Nachbarn auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung der eingebrachten Berufung nicht vorgesehen sei.

Der dagegen an den Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit erhobenen Berufung blieb der Erfolg versagt: Mit dem nunmehr vor dem Verfassungsgerichtshof bekämpften Bescheid wies der Bundesminister die Berufung "als unzulässig ab": Wie aus der Regelung des § 78 Abs 1 dritter Satz GewO 1994 hervorgehe, habe die Behörde die Inanspruchnahme des Betriebsrechtes nur dann auszuschließen, wenn das Arbeitsinspektorat gegen den Genehmigungsbescheid berufen habe und aus der Berufungsbegründung eindeutig hervorgehe, daß aufgrund der besonderen Situation im Einzelfall trotz Einhaltung der Auflagen des angefochtenen Bescheides eine Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit von Arbeitnehmern zu erwarten sei. Bei dieser Bestimmung handle es sich demnach um eine arbeitnehmerschutzrechtliche Regelung, nicht jedoch um eine Regelung, die dem Nachbarschutz dienen soll.

2. Bei Beratung über diese Beschwerde sind beim Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des § 78 Abs 1 GewO 1994 entstanden. Er hat daher beschlossen, gemäß Art 140 Abs 1 B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der im Spruch genannten Wortfolgen des letzten Satzes des § 78 Abs 1 GewO 1994 idF BGBl. I 63/1997 einzuleiten.

a) In seinem Einleitungsbeschluß ging der Verfassungsgerichtshof vorläufig davon aus, daß die Beschwerde zulässig sein dürfte, die belangte Behörde sich bei Erlassung des bekämpften Bescheides auf § 78 Abs 1 (letzter Satz) GewO 1994 gestützt habe, und auch der Verfassungsgerichtshof im verfassungsgerichtlichen Bescheidprüfungsverfahren die im Spruch bezeichneten Wortfolgen anzuwenden haben dürfte.

b) In der Sache selbst hegte der Verfassungsgerichtshof zunächst das Bedenken, daß die in Prüfung gezogenen Wortfolgen des § 78 Abs 1 GewO 1994 idF der Novelle BGBl. I 63/1997 dem rechtsstaatlichen Gebot eines effizienten Rechtsschutzes widerstreiten.

c) Er vertrat weiters die vorläufige Auffassung, daß die in Prüfung genommenen Wortfolgen aus folgenden Gründen auch dem den Gesetzgeber bindenden Gleichheitssatz widersprechen dürften:

"Gemäß § 77 Abs 1 iVm § 74 Abs 2 Z 1 GewO 1994 darf eine gewerbliche Betriebsanlage behördlich u.a. nur unter der Voraussetzung genehmigt werden, daß überhaupt oder bei Einhaltung der erforderlichenfalls vorzuschreibenden bestimmten geeigneten Auflagen die nach den Umständen des Einzelfalles voraussehbaren Gefährdungen des Lebens oder der Gesundheit der Nachbarn vermieden werden. Die Nachbarn genießen diesbezüglich gemäß § 356 Abs 1 iVm § 359b Abs 1 GewO 1994 Parteistellung iSd § 8 AVG. Als Parteien sind sie nicht nur berechtigt, im Betriebsanlagengenehmigungsverfahren Lebens- oder Gesundheitsgefährdungen, die ihnen aus der Errichtung oder dem Betrieb der Betriebsanlage drohen, zu behaupten und einzuwenden, sondern sie können derartige Lebens- oder Gesundheitsgefährdungen, sofern im Verfahren vor der Genehmigungsbehörde eingewendet, auch im Rechtsmittelverfahren geltend machen. Ebenso besitzt das Arbeitsinspektorat aufgrund § 93 Abs 2 des ArbeitnehmerInnenschutzgesetzes, BGBl. 450/1994 idF BGBl. I 70/1999, iVm § 12 des Arbeitsinspektionsgesetzes 1993, BGBl. 27 idF BGBl. I 38/1999, nicht nur die Befugnis, im Betriebsanlagengenehmigungsverfahren als Partei für den Schutz des Lebens und der Gesundheit der in der Betriebsanlage beschäftigten Arbeitnehmer einzutreten, sondern zum Schutz der Arbeitnehmer auch im Rechtsmittelweg gegen den Betriebsanlagenbescheid als Partei einzuschreiten.

Der Verfassungsgerichtshof sieht vorerst keinen sachlichen Grund dafür, daß die Berufung eines Nachbarn (anders als die Berufung des Arbeitsinspektorates), die mit einer aus dem Betrieb der genehmigten Anlage zu erwartenden Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit begründet ist, bis zur Erlassung des Bescheides über die Berufung (spätestens jedoch bis zum Ablauf von drei Jahren nach Zustellung des Genehmigungsbescheides) keinesfalls verhindert, daß die Anlage entsprechend dem angefochtenen Genehmigungsbescheid errichtet und betrieben wird, ohne daß die Behörde in diesem Zeitraum die Möglichkeit besitzt, nach Abwägung der Interessen des Genehmigungswerbers mit den in der Berufung geltend gemachten Interessen des Nachbarn am Schutz seines Lebens oder seiner Gesundheit die sofortige Gebrauchnahme der Genehmigung durch den Genehmigungswerber bis zur Entscheidung über die Berufung auszuschließen. Es ist dem Gerichtshof in diesem Zusammenhang vorläufig vor allem nicht einsichtig, warum zwar eine Berufung des Arbeitsinspektorates, mit der eine Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit von Arbeitnehmern behauptet wird, die Behörde verpflichtet, die vorläufige Inanspruchnahme des Errichtungs- und Betriebsrechtes für die nicht rechtskräftig genehmigte Anlage auszuschließen, bei der im Berufungswege geltend gemachten Verteidigung des Lebens und der Gesundheit eines Nachbarn durch diesen jedoch die mögliche Gefährdung während des Berufungsverfahrens nicht verhindert werden kann. Der Verfassungsgerichtshof verkennt zwar weder die besondere verfahrensrechtliche Rolle einer objektivierten und institutionalisierten Wahrnehmung der Arbeitnehmerschutzinteressen durch das Arbeitsinspektorat noch die möglicherweise größere Schutzbedürftigkeit gegenüber den den Arbeitnehmern im Betrieb drohenden Gefahren im Vergleich zu den den Nachbarn drohenden Gefahren aus dem Betrieb. Gleichwohl vermag der Gerichtshof vorläufig keine hinreichenden sachlichen Gründe zu erkennen, die es rechtfertigen, nur die aufschiebende Wirkung einer Nachbarberufung und diese schlechthin auszuschließen, wenn sowohl das Arbeitsinspektorat hinsichtlich der Arbeitnehmer als auch die Nachbarn berechtigt sind, wegen vermeintlicher Gefährdungen des Lebens und der Gesundheit Berufung zu erheben. (So auch zur - insoweit vergleichbaren - Rechtslage aufgrund der Gewerberechtsnovelle 1992, BGBl. 29/1993, Raschauer, Verfassungswidrige GewO-Novelle 1992, WBl. 1993, 180 f.; Stolzlechner, aaO, 127; Aichlreiter, aaO, 183: 'Die Schutzinteressen eines Nachbarn gegenüber jenen eines Arbeitnehmers von vornherein als von geringerem Gewicht einzuordnen, dafür ist keine sachliche Rechtfertigung erkennbar.')."

Auch die vom Wirtschaftsausschuß des Nationalrates versuchte Begründung des § 78 Abs 1 GewO 1994 idF BGBl. I 63/1997 vermochte den Gerichtshof vorläufig von der sachlichen Rechtfertigung einer differenzierenden Regelung der aufschiebenden Wirkung von Berufungen gegen Betriebsanlagengenehmigungen nicht zu überzeugen, je nachdem diese den Schutz vor Lebens- oder Gesundheitsgefährdungen bezweckenden Berufungen entweder von Nachbarn oder vom Arbeitsinspektorat erhoben werden:

"Daß die Genehmigungsbehörde - wie der Ausschuß meint ... - zwar 'den hinreichenden Schutz der Nachbarn erforderlichenfalls durch die Vorschreibung entsprechender Auflagen gewährleistet', der Schutz der Arbeitnehmer ohne die Möglichkeit der aufschiebenden Wirkung einer Berufung des Arbeitsinspektorats jedoch nicht garantiert wäre, vermag der Gerichtshof vorläufig nicht einzusehen."

d) Und schließlich hegte der Verfassungsgerichtshof vorläufig auch das Bedenken, daß die in § 78 Abs 1 GewO 1994 fehlende Möglichkeit, der Berufung eines Nachbarn (im Gegensatz zu der des Arbeitsinspektorats) die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wenn aufgrund der Situation im Einzelfall trotz Einhaltung der Auflagen des angefochtenen Bescheides eine Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit des Nachbarn nicht ausgeschlossen ist, eine besonders tiefgreifende, im Sinne des Art 11 Abs 2 B-VG nicht erforderliche Abweichung vom einheitlichen Konzept der aufschiebenden Wirkung von Berufungen gemäß § 64 AVG bedeutet, und führte dazu aus:

"§78 Abs 1 GewO 1994 idF BGBl. I 63/1997 setzt für das Verfahren über Berufungen gegen Betriebsanlagengenehmigungsbescheide die Vorschrift des § 64 Abs 1 AVG, wonach rechtzeitig eingebrachte Berufungen aufschiebende Wirkung haben, ebenso außer Kraft wie § 64 Abs 2 AVG, wonach die Behörde unter bestimmten Voraussetzungen die aufschiebende Wirkung ausschließen kann. § 78 Abs 1 GewO 1994 dürfte daher auch Art 11 Abs 2 B-VG widersprechen, wonach von den Regelungen des AVG abweichende Vorschriften in den die einzelnen Gebiete der Verwaltung regelnden Bundes- oder Landesgesetzen nur dann getroffen werden können, 'wenn sie zur Regelung des Gegenstandes erforderlich sind'. Wie der Verfassungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung (vgl. VfSlg. 8945/1980, 11.564/1987, 13.831/1994, 15.351/1998 und 15.369/1998) ausgesprochen hat, darf von einer einheitlichen Verfahrensregel (wie § 64 AVG, vgl. VfSlg. 8945/1980) vom Bundesgesetzgeber für ein einzelnes Gebiet der Verwaltung nur unter der Voraussetzung eine abweichende Regelung getroffen werden, daß diese zur Regelung des Gegenstandes derart erforderlich ist, daß sie zur Regelung des Gegenstandes schlechthin unerläßlich ist, daß also 'im Regelungszusammenhang mit den materiellen Vorschriften (ein) unerläßliches Abweichen von Bestimmungen des AVG vorliegt' (vgl. VfSlg. 15.351/1998).

Wie den parlamentarischen Materialien zu § 78 Abs 1 GewO 1994 in seiner jetzigen Fassung sowie in seiner früheren Fassung ... zu entnehmen ist, bedeutete es für den Genehmigungswerber einer Betriebsanlage eine besondere - wirtschaftliche - Belastung, daß er aufgrund der aufschiebenden Wirkung einer Berufung während der oft langen Dauer des Berufungsverfahrens von der Genehmigung keinen Gebrauch machen konnte. Diese Belastung wurde damit begründet, daß 'im gewerblichen Betriebsanlagengenehmigungsverfahren Rechtsmittel mit aufschiebender Wirkung das Errichten und die Inbetriebnahme der Anlage im Regelfall um Jahre verzögern, sodaß die Anlage zur Zeit des Eintritts der Rechtskraft des Genehmigungsbescheides bereits als überholt und damit unter Konkurrenzaspekten als unwirtschaftlich anzusehen ist' (so die RV zur GewO-Novelle BGBl. I 63/1997, 575 BlgNR 20. GP, S 11).

Angesichts dieser Überlegungen, die eine entsprechende materielle gewerberechtliche Regelung über den Beginn der Berechtigung zur Errichtung und zum Betrieb einer Betriebsanlage rechtfertigen, schließt es zwar der Verfassungsgerichtshof vorläufig im Sinne seiner oben wiedergegebenen Judikatur zu Art 11 Abs 2 B-VG nicht aus, daß der Gesetzgeber eine den § 64 AVG modifizierende gesetzliche Regelung als unerläßlich betrachtet. Angesichts der Regelungsabsicht des materiellen Gewerberechtsgesetzgebers könnte es im Sinne des Art 11 Abs 2 B-VG erforderlich sein, § 64 AVG über die prinzipiell aufschiebende Wirkung rechtzeitig eingebrachter Berufungen und die Möglichkeit, die aufschiebende Wirkung auszuschließen, umzukehren: Soll dem Genehmigungswerber die ehestmögliche Wahrnehmung seiner Berechtigung aus der Betriebsanlagengenehmigung ermöglicht werden, so mag zwar der regelmäßige Ausschluß der aufschiebenden Wirkung im Gegensatz zu § 64 Abs 1 AVG als unerläßlich betrachtet werden. Nicht nur nicht erforderlich im Sinne des Art 11 Abs 2 B-VG dürfte es hingegen sein, die aufschiebende Wirkung einer Berufung schlechthin und auf jeden Fall auszuschließen. Wenn vielmehr eine Interessenabwägung und ein Interessenausgleich zeigen, daß das Interesse des Berufungswerbers am Schutz vor möglichen Beeinträchtigungen seines Lebens und seiner Gesundheit im konkreten Einzelfall das wirtschaftliche Interesse des Genehmigungswerbers an der Errichtung und am Betrieb seiner Anlage während eines laufenden Rechtsmittelverfahrens überwiegt, dürfte das Fehlen eines entsprechenden Provisorialverfahrens über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung einen Verstoß gegen Art 11 Abs 2 B-VG bedeuten."

3. Die Bundesregierung hat im Gesetzesprüfungsverfahren von einer inhaltlichen Äußerung abgesehen.

II. Das Gesetzesprüfungsverfahren ist zulässig:

Es hat sich nichts ergeben, was an der Zulässigkeit der Anlaßbeschwerde oder der Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Wortfolgen zweifeln ließe.

III. Die aus dem rechtsstaatlichen Gebot eines effizienten Rechtsschutzes abgeleiteten Bedenken des Verfassungsgerichtshofes erweisen sich auch als begründet:

1. Die Gewerbeordnung idF vor der Gewerberechtsnovelle 1992, BGBl. 29/1993, erlaubte dem Bewilligungswerber die Errichtung und den Betrieb einer Betriebsanlage erst nach dem rechtskräftigen positiven Abschluß eines Genehmigungsverfahrens. Vor Rechtskraft des Genehmigungsbescheides war dies dem Genehmigungswerber nur gestattet, wenn ausschließlich er gegen den Genehmigungsbescheid berufen hatte und alle darin vorgeschriebenen Auflagen eingehalten wurden.

Durch die Gewerberechtsnovelle 1992 wurde § 78 Abs 1 GewO (1973) insofern erweitert, als dem Genehmigungswerber eine derartige "vorläufige Errichtung und Inbetriebnahme" grundsätzlich auch dann ermöglicht wurde, wenn der Landeshauptmann die Anlage genehmigt hatte (§78 Abs 1 Z 2 GewO idF BGBl. 29/1993), es sei denn, das Arbeitsinspektorat hat gegen den Genehmigungsbescheid Berufung erhoben (vgl. letzter Satz des § 78 Abs 1 leg.cit.). Das Recht zum Errichten und zum Betreiben der Betriebsanlage vor Rechtskraft des Genehmigungsbescheides war zudem zeitlich bis zur Erlassung des Bescheides über die Berufung, längstens aber auf drei Jahre ab Zustellung des Bescheides des Landeshauptmannes an den Konsenswerber befristet.

In den Erläuterungen zur RV (635 BlgNR 18. GP, S 85) heißt es dazu:

"Die vorgeschlagene Bestimmung soll die - von der Volksanwaltschaft immer wieder bemängelte - für den Genehmigungswerber besonders belastende lange Dauer des (im Interesse der Bundeseinheitlichkeit gebotenen) dreiinstanzigen Genehmigungsverfahrens dadurch entschärfen, daß auch dann vor Eintritt der Rechtskraft des Genehmigungsbescheides Anlagen oder Anlagenteile errichtet und betrieben werden dürfen, wenn vom Landeshauptmann ein die Anlage genehmigender Bescheid ergangen ist und - wie schon nach der geltenden Regelung des § 78 Abs 1 - die Schutzinteressen durch die Einhaltung der Auflagen des Genehmigungsbescheides bei der Errichtung und beim Betrieb der Anlage gewahrt werden."

Nach der RV zur GewO-Novelle BGBl. I 63/1997 (575 BlgNR 20. GP, S 1) sollten ganz allgemein Anlagen oder Teile von Anlagen vor Eintritt der Rechtskraft des Genehmigungsbescheides errichtet und betrieben werden dürfen, wenn dessen Auflagen bei der Errichtung und beim Betrieb eingehalten werden. "Eine gegen die erteilte Genehmigung gerichtete zulässige Berufung" sollte jedoch dann aufschiebende Wirkung haben,

"wenn diese auf Antrag des Arbeitsinspektorats oder einer anderen Partei des Verfahrens von der Berufungsbehörde mit Bescheid ausdrücklich zuerkannt wird, weil auf Grund der besonderen Situation des Einzelfalles trotz Einhaltung der Auflagen des angefochtenen Bescheides eine Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit von Arbeitnehmern oder eine Gefährdung oder unzumutbare Belästigung der Nachbarn nicht auszuschließen ist".

In den Erläuterungen (S 11) heißt es dazu:

"Die durch die Gewerberechtsnovelle 1992 geschaffene Bestimmung des § 78 Abs 1 Z 2 hat sich bewährt und soll daher unter Wahrung der Schutzinteressen des § 74 Abs 2 als Überbrückungshilfe für den Genehmigungswerber bei längerer Verfahrensdauer konsequent weiter ausgebaut werden; dies deshalb, da im gewerblichen Betriebsanlagengenehmigungsverfahren Rechtsmittel mit aufschiebender Wirkung das Errichten und die Inbetriebnahme der Anlage im Regelfall um Jahre verzögern, sodaß die Anlage zur Zeit des Eintritts der Rechtskraft des Genehmigungsbescheides bereits als überholt und damit unter Konkurrenzaspekten als unwirtschaftlich anzusehen ist.

Die Berufung des Arbeitsinspektorates soll nicht - wie im geltenden Abs 1 letzter Satz festgelegt - ohne weiteres die Inanspruchnahme des Rechtes zum (vorläufigen) Errichten und Betreiben verhindern, sondern nur dann, wenn die vorgeschlagenen zusätzlichen Voraussetzungen vorliegen und die Behörde deshalb die Inanspruchnahme des im § 78 Abs 1 erster und zweiter Satz verankerten Rechtes ausschließt.

Zur Vermeidung einer Gefährdung oder unzumutbaren Belästigung der Nachbarn soll auch diesen die Beantragung der aufschiebenden Wirkung zuerkannt werden."

Die schließlich zum Gesetz gewordene, eingangs unter Pkt. I wiedergegebene Fassung erhielt § 78 Abs 1 im Zuge der Ausschußberatungen. Im Bericht des Wirtschaftsausschusses (761 BlgNR 20. GP, S 9) wird "(z)u § 78 Abs 1" ausgeführt:

"Der Ausschuß geht davon aus, daß die Genehmigungsbehörde den hinreichenden Schutz der Nachbarn erforderlichenfalls durch die Vorschreibung entsprechender Auflagen gewährleistet (siehe hiezu auch die durch das Immissionsschutzgesetz-Luft vorgesehenen Verpflichtungen der Genehmigungsbehörde)."

2. Im Erkenntnis VfSlg. 11.196/1986 und in der daran anschließenden Kette von Entscheidungen (VfSlg. 12.683/1991, 13.003/1992, 13.305/1992, 14.374/1995, 14.671/1996 und 15.511/1999) hat der Verfassungsgerichtshof den generellen Ausschluß der aufschiebenden Wirkung von Rechtsmitteln als dem Rechtsstaatsprinzip widersprechend erkannt und dargelegt, daß bei der Regelung der vorläufigen Wirkung zulässiger Rechtsmittel bis zur Entscheidung darüber vom Gesetzgeber neben der Stellung des Rechtsmittelwerbers auch Zweck und Inhalt der Regelung, ferner die Interessen Dritter sowie schließlich das öffentliche Interesse zu berücksichtigen sind. Dieser Judikatur zufolge hat der Gesetzgeber unter diesen Gegebenheiten einen Ausgleich zu schaffen, wobei aber dem Grundsatz der faktischen Effizienz eines Rechtsbehelfes der Vorrang zukommt und dessen Einschränkung nur aus sachlich gebotenen, triftigen Gründen zulässig ist.

Die durch § 78 Abs 1 GewO 1994 Nachbarberufungen schlechthin vorenthaltene Möglichkeit einer aufschiebenden Wirkung ist mit der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit eines rechtsstaatlich eingerichteten Rechtsmittelverfahrens nicht in Einklang zu bringen. Zwar ist dem Gesetzgeber - sowohl vom Standpunkt eines rechtsstaatlichen Verfahrens als auch unter dem Aspekt des Art 11 Abs 2 B-VG - nicht entgegenzutreten, wenn er den wirtschaftlichen Interessen des Genehmigungswerbers insoweit entgegenkommt, als er es abweichend vom Regime des § 64 Abs 1 AVG als unerläßlich betrachtet, dem Genehmigungswerber im Regelfall bereits während des Laufes eines gegen die Genehmigung gerichteten Rechtsmittelverfahrens die vorläufige Inanspruchnahme seiner Genehmigung zu gestatten. Gleichwohl ist es mit dem Rechtsstaatsgebot unvereinbar, bei Berufungen die faktische Effizienz dieses Rechtsmittels für die Dauer des Berufungsverfahrens zu beseitigen und trotz einer nachweislichen Gefahrenlage ohne weitere Prüfung der diesbezüglichen Rechtsmittelbehauptung die sofortige Inanspruchnahme des aus der Genehmigung resultierenden Errichtungs- und Betriebsrechtes zu gestatten. Dies zeigt auch die Ausnahme zugunsten einer Berufung des Arbeitsinspektorates gegen den Genehmigungsbescheid gemäß § 78 Abs 1 letzter Satz GewO 1994, bei der der Gesetzgeber selbst davon ausgegangen ist, daß "auf Grund der besonderen Situation des Einzelfalles trotz Einhaltung der Auflagen" die Errichtung und der Betrieb der noch nicht rechtskräftig genehmigten Betriebsanlage mit Gefährdungen des Lebens oder der Gesundheit verbunden sein können. Insofern die in einer Nachbarberufung geltend gemachte mögliche Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit (der Nachbarn) auch bei Einhaltung der im Genehmigungsbescheid angeführten Auflagen nicht von vornherein gewährleistet ist, ist es mit den oben geschilderten rechtsstaatlichen Grundsätzen schlechthin unvereinbar, die Nachbarn als Parteien und Rechtsmittelwerber während der Dauer des Berufungsverfahrens einseitig mit den Folgen der potentiell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung über die Genehmigung zu belasten.

An diesen Überlegungen zur rechtsstaatlichen Gestaltung eines administrativen Rechtsmittelverfahrens ändert auch der Umstand nichts, daß im Berufungsverfahren gegen einen Betriebsanlagengenehmigungsbescheid - anders als in dem dem zitierten Erkenntnis VfSlg. 11.196/1986 zugrundeliegenden Fall - der Genehmigungswerber und der Nachbar als Berufungswerber mit kontradiktorischen Interessen einander gegenüberstehen, sodaß nicht von einseitiger Belastung einer Partei gesprochen werden kann (so aber Aichlreiter, Erwiderung auf Raschauer, WBl. 1993, 183; Stolzlechner, in: Stolzlechner/Wendl/Zitta, Die gewerbliche Betriebsanlage, Ergänzungsband 1994, 127). Wie der Verfassungsgerichtshof nämlich in VfSlg. 12.683/1991 betont hat, betreffen die oben dargestellten Grundsätze vorläufigen Rechtsschutzes während eines anhängigen Rechtsmittelverfahrens alle Arten behördlicher Verfahren; gleichgültig wie viele Parteien an einem Verfahren jeweils beteiligt sind, muß der Gesetzgeber die Behörde zur Entscheidung darüber ermächtigen, wessen Interessen im Rechtsmittelverfahren in welchem Umfang entgegenstehende Interessen dahin überwiegen, daß im Wege des Provisorialverfahrens jedenfalls die faktische Effizienz des Rechtsschutzes gewahrt bleibt.

Dadurch, daß der Gesetzgeber das Interesse der Nachbarn, mögliche, aus der Errichtung oder dem Betrieb einer Betriebsanlage resultierende Gefahren für ihr Leben oder ihre Gesundheit während laufendem Berufungsverfahren zu berücksichtigen, schlechthin und ausnahmslos vernachlässigte, hat er das rechtsstaatliche Gebot nach einem notwendigen Interessenausgleich zwischen Genehmigungs- und Berufungswerber im Berufungsverfahren verfassungswidrigerweise nicht wahrgenommen und den Rechtsmittelwerber einseitig mit dem Risiko einer möglichen Gefahrensituation belastet.

Die in Prüfung gezogenen Wortfolgen des § 78 Abs 1 letzter Satz GewO 1994 idF BGBl. I 63/1997 waren daher als verfassungswidrig aufzuheben, ohne daß es notwendig war, auf die weiteren vom Verfassungsgerichtshof im Prüfungsbeschluß dargestellten verfassungsrechtlichen Bedenken näher einzugehen.

3. Von einer Fristsetzung gemäß Art 140 Abs 5 B-VG konnte der Verfassungsgerichtshof Abstand nehmen, da aufgrund der bereinigten Rechtslage nunmehr auch Nachbarberufungen rechtsstaatlichen Grundsätzen folgend von der Behörde eine aufschiebende Wirkung zugebilligt werden kann. Im übrigen hat auch die Bundesregierung eine solche Fristsetzung nicht begehrt.

Die Kundmachungsverpflichtung stützt sich auf Art 140 Abs 5 B-VG, der Ausschluß des Inkrafttretens früherer gesetzlicher Bestimmungen auf Art 140 Abs 6 B-VG.

IV. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.