VfGH vom 28.02.1992, g293/91
Sammlungsnummer
13003
Leitsatz
Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Regelung der aufschiebenden Wirkung eines Einspruches im Sozialversicherungsrecht wegen Verstoßes gegen das rechtsstaatliche Prinzip; Unzulässigkeit der generell einseitigen Belastung der Beitragspflichtigen mit dem Rechtsschutzrisiko
Spruch
§ 412 Abs 2 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes, BGBl. Nr. 189/1955 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 13/1962, war verfassungswidrig.
Der Bundeskanzler ist verpflichtet, diesen Ausspruch unverzüglich im Bundesgesetzblatt kundzumachen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Der unter der Rubrik "Einspruch gegen Bescheide der Versicherungsträger" stehende § 412 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. 189/1955, hatte in der Fassung der Novelle BGBl. 13/1962 (mit welcher (ua.) der Abs 2 dieses Paragraphen ergänzt wurde) folgenden Wortlaut:
"§412. (1) Bescheide der Versicherungsträger in Verwaltungssachen können binnen einem Monat nach der Zustellung durch Einspruch an den zuständigen Landeshauptmann angefochten werden. Der Einspruch hat den Bescheid zu bezeichnen, gegen den er sich richtet, und einen begründeten Entscheidungsantrag zu enthalten. Der Einspruch ist beim Versicherungsträger, der den Bescheid erlassen hat, einzubringen. Der Versicherungsträger hat den Bescheid ungesäumt, längstens jedoch binnen zwei Wochen, unter Anschluß der Akten und seiner Stellungnahme dem Landeshauptmann vorzulegen.
(2) Der Einspruch hat keine aufschiebende Wirkung; der Landeshauptmann kann dem Einspruch auf Antrag aufschiebende Wirkung zuerkennen, wenn durch die vorzeitige Vollstreckung ein nicht wiedergutzumachender Schaden einträte und nicht öffentliche Interessen die sofortige Vollstreckung gebieten. Der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung ist innerhalb der für die Einbringung des Einspruches vorgesehenen Frist (Abs1) beim Versicherungsträger zu stellen."
Durch ArtV Z 12 der 50. Novelle zum ASVG, BGBl. 676/1991, erhielt § 412 ASVG mit Wirksamkeit vom (ArtV Z 38 dieser Novelle) eine neue Fassung.
2.a) Gemäß Art 140 Abs 1 B-VG beschloß der Verfassungsgerichtshof, von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Absatzes 2 im § 412 ASVG (in der oben wiedergegebenen Fassung der Novelle BGBl. 13/1962) einzuleiten. Anlaß hiefür bot die anhängige Beschwerdesache B362/89, zu der folgendes festzuhalten ist:
Im Anschluß an eine Beitragsprüfung schrieb die Tiroler Gebietskrankenkasse der Beschwerdeführerin als Dienstgeberin mit zwei Bescheiden einerseits eine - im Verwaltungsverfahren so bezeichnete - Beitragsnachverrechnungssumme und andererseits einen Beitragszuschlag (iS des § 113 Abs 1 ASVG) vor. Die Beschwerdeführerin erhob dagegen Einsprüche und beantragte, diesen aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. Mit Bescheid vom 13. Feber 1989 wies der Landeshauptmann von Tirol die Einsprüche ab und erkannte ihnen aufschiebende Wirkung nicht zu. Dieser Einspruchsbescheid ist Gegenstand der Verfassungsgerichtshofbeschwerde, in welcher die Beschwerdeführerin (ua.) Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des der Entscheidung über die aufschiebende Wirkung zugrundegelegten § 412 Abs 2 ASVG äußerte und diesbezüglich auf das hg. Erk. VfSlg. 11196/1986 verwies.
b) Der Verfassungsgerichtshof nahm vorläufig an, daß er den (vom ersten Satz her gesehen) anscheinend eine nicht trennbare Einheit bildenden Absatz 2 des § 412 bei seiner Entscheidung in der Beschwerdesache anzuwenden hätte, und äußerte folgende verfassungsrechtliche Bedenken:
"Im vorhin erwähnten Gesetzesprüfungserkenntnis VfSlg. 11196/1986 (mit dem § 254 BAO - im damaligen normativen Zusammenhang - als verfassungswidrig befunden und aufgehoben wurde) vertrat der Gerichtshof die (in seiner folgenden Rechtsprechung -
s. , vgl. auch , 67/90 - bekräftigte) Auffassung, daß es unter dem Aspekt des rechtsstaatlichen Prinzips nicht angehe, den Rechtsschutzsuchenden generell einseitig mit allen Folgen einer potentiell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung so lange zu belasten, bis sein Rechtsschutzgesuch endgültig erledigt ist. Zu berücksichtigen seien in diesem Zusammenhang allerdings nicht nur seine Position, sondern auch Zweck und Inhalt der Regelung, ferner die Interessen Dritter sowie schließlich das öffentliche Interesse. Der Gesetzgeber habe unter diesen Gegebenheiten einen Ausgleich zu schaffen, wobei aber dem Grundsatz der faktischen Effizienz eines Rechtsbehelfs der Vorrang zukomme und dessen Einschränkung nur aus sachlich gebotenen, triftigen Gründen zulässig sei. Auf welche Weise dieser Ausgleich vom Gesetzgeber vorgenommen werden müsse, lasse sich nicht allgemein sagen.
Im Rahmen der Prüfung des § 254 BAO auf seine Verfassungsmäßigkeit legte der Verfassungsgerichtshof im Erk. VfSlg. 11196/1986 ferner folgendes wörtlich dar:
'Im vorliegenden Gesetzesprüfungsfall geht es um die Erlassung abgabenbehördlicher Bescheide, mithin auch um die Erlassung von Abgabenbescheiden im rechtstechnischen Sinn. Dem Gesetzgeber ist es bei einer solchen Lage aufgegeben, das Interesse der Gebietskörperschaften an regelmäßig fließenden Einnahmen gebührend zu berücksichtigen, gegenüber dem die Interessenposition des Abgabenschuldners Einschränkungen auf sich nehmen muß. Die vom Gesetzgeber vorzunehmende Interessensabwägung erlaubt es ihm, ein System zu schaffen, das den regelmäßigen Zufluß der Abgaben sicherstellt, die Abgabenschuldner aber nicht einseitig in Fällen belastet, in denen - trotz Bedachtnahme auf gesicherte Erfahrungstatsachen, eine längerwährend unbeanstandet geübte Verwaltungspraxis oder die Klärung von Rechtsfragen durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts - Tatsachen- oder Rechtsfragen echt strittig sind. In solchen Fällen (- und dies ist bei Betrachtung eines konkreten Abgabenbescheides auch in der Weise denkbar, daß nur ein Teilbereich betroffen ist -) geht es nicht an, das Rechtsschutzrisiko im echt fraglichen Bereich dem Rechtsunterworfenen vorbehaltlos aufzulasten. Wie nun ein System, das einen solchen Zustand bis zur endgültigen Rechtsschutzgewährung vermeidet, im einzelnen beschaffen sein soll, liegt im rechtspolitischen Ermessen des Gesetzgebers; es kommt nicht darauf an, wie er es rechtstechnisch ausgestaltet (zB festlegt, daß und in welchem Umfang auf Parteiverlangen einem Rechtsmittel durch die Abgabenbehörde erster oder zweiter Rechtsstufe aufschiebende Wirkung zuzuerkennen ist), sondern ob das System den Rechtsschutz im umschriebenen Sinn gewährleistet.'
Diese Erwägungen dürften - wie der Gerichtshof vorläufig annimmt - auf das Administrativverfahren über die Vorschreibung von Beiträgen (einschließlich von Beitragszuschlägen) in der gesetzlichen Sozialversicherung (nicht hingegen - wie am Rand noch angemerkt sei - auf Verfahren zur Bescheidkontrolle vor den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts) sinngemäß zu übertragen sein; auch bezüglich solcher Administrativverfahren ist dem Gesetzgeber anscheinend eine Interessenabwägung bei der Schaffung eines Systems aufgegeben, das (zwar) den regelmäßigen Zufluß von Beiträgen an die Sozialversicherungsträger sicherstellt, die Beitragspflichtigen aber (dennoch) nicht einseitig mit dem Rechtsschutzrisiko belastet. Diesen Anforderungen dürfte § 412 Abs 2 ASVG zum Nachteil der beitragspflichtigen Rechtsmittelwerber nicht entsprechen, weil eine derartige Interessenabwägung anscheinend weder im Gesetz selbst vorgenommen noch die Verwaltungsbehörde zu einer solchen Abwägung verpflichtet ist. In diesem Zusammenhang sei - ebenfalls mit Bezugnahme auf das Erk. VfSlg. 11196/1986 - noch folgendes angeführt:
In diesem Gesetzesprüfungserkenntnis nahm der Verfassungsgerichtshof an, daß die in § 212 Abs 2 BAO getroffene Regelung (wonach auf Ansuchen des Abgabepflichtigen bestimmte Zahlungserleichterungen, insbesondere eine Stundung, bewilligt werden können, "wenn die sofortige oder die sofortige volle Entrichtung der Abgaben für den Abgabepflichtigen mit erheblichen Härten verbunden wäre und die Einbringlichkeit der Abgaben durch den Aufschub nicht gefährdet wird") nicht genüge, die extremen Auswirkungen des (die aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittels ausschließenden) § 254 BAO auszugleichen. Grundsätzlich das gleiche dürfte für das in § 412 Abs 2 ASVG festgelegte Kriterium gelten, daß (für den Rechtsmittelwerber) "durch die vorzeitige Vollstreckung ein nicht wiedergutzumachender Schaden einträte", zu dem noch zu bemerken ist, daß den Rechtsschutzsuchenden in bezug auf diesen Umstand überdies - wenngleich nicht im Sinn einer Beweislast, so doch aufgrund seiner Mitwirkungspflicht im Rahmen des amtswegig geführten Verwaltungsverfahrens - eine gewisse Nachweispflicht trifft."
II. Beim Verwaltungsgerichtshof sind zu den Zlen. 91/08/0153 und 91/08/0111 Beschwerdeverfahren anhängig, deren Gegenstand gleichfalls je ein Bescheid des Landeshauptmannes von Burgenland bzw. des Landeshauptmannes von Tirol bildet, mit welchem dem Antrag des Einspruchswerbers auf Zuerkennung aufschiebender Wirkung nicht Folge gegeben wurde. Anläßlich dieser Beschwerdefälle stellt der Verwaltungsgerichtshof unter A114/91 und A112/91 den Antrag, § 412 Abs 2 ASVG idF der Novelle BGBl. 13/1962, als verfassungswidrig aufzuheben. Der antragstellende Gerichtshof hält diese Vorschrift in seinem jeweiligen Beschwerdeverfahren als präjudiziell und hegt gegen sie ebenfalls die im vorhin wiedergegebenen Prüfungsbeschluß des Verfassungsgerichtshofs dargelegten verfassungsrechtlichen Bedenken.
III. Die Bundesregierung sah von meritorischen Äußerungen ab.
IV. 1. Die - zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen - Gesetzesprüfungsverfahren sind zulässig. Anhaltspunkte für die Annahme von Prozeßhindernissen haben sich nicht ergeben.
2. Die verfassungsrechtlichen Bedenken erweisen sich als gerechtfertigt.
Der Verfassungsgerichtshof bleibt bei der mit seinem Erk. VfSlg. 11196/1986 eingeleiteten und in späteren Entscheidungen (s. , vgl. auch , 67/90) bekräftigten Rechtsprechung, daß es unter dem Aspekt des rechtsstaatlichen Prinzips nicht angeht, den Rechtsschutzsuchenden generell einseitig mit allen Folgen einer potentiell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung so lange zu belasten, bis sein Rechtsschutzgesuch endgültig erledigt ist. Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang allerdings nicht nur seine Position, sondern auch Zweck und Inhalt der Regelung, ferner die Interessen Dritter sowie schließlich das öffentliche Interesse. Der Gesetzgeber hat - wie der Gerichtshof weiters darlegte - unter diesen Gegebenheiten einen Ausgleich zu schaffen, wobei aber dem Grundsatz der faktischen Effizienz eines Rechtsbehelfs der Vorrang zukommt und dessen Einschränkung nur aus sachlich gebotenen, triftigen Gründen zulässig ist; auf welche Weise dieser Ausgleich vom Gesetzgeber vorgenommen werden muß, läßt sich nicht allgemein sagen. Der Verfassungsgerichtshof ist ferner der Meinung, daß die oben (I/2/b) wörtlich zitierten Erwägungen aus dem Erk. VfSlg. 11196/1986 auf das Administrativverfahren über die Vorschreibung von Beiträgen (einschließlich von Beitragszuschlägen) in der gesetzlichen Sozialversicherung (und zwar trotz des Unterschieds, daß die Geldleistungen nicht einer Gebietskörperschaft, sondern Sozialversicherungsträgern zufließen und zur Bedeckung ihres Aufwandes dienen) sinngemäß zu übertragen sind; auch bezüglich solcher Administrativverfahren ist dem Gesetzgeber eine Interessenabwägung bei der Schaffung eines Systems aufgegeben, das (zwar) den regelmäßigen Zufluß von Beiträgen an die Sozialversicherungsträger sicherstellt, die Beitragspflichtigen aber (dennoch) nicht einseitig mit dem Rechtsschutzrisiko belastet. Diesen Anforderungen entspricht § 412 Abs 2 ASVG zum Nachteil der beitragspflichtigen Rechtsmittelwerber nicht, weil eine derartige Interessenabwägung weder im Gesetz selbst vorgenommen wird noch die Verwaltungsbehörde zu einer solchen Abwägung verpflichtet ist. Das in § 412 Abs 2 ASVG als Voraussetzung für die Gewährung aufschiebender Wirkung festgelegte Kriterium, daß für den Einspruchswerber "durch die vorzeitige Vollstreckung ein nicht wiedergutzumachender Schaden einträte", genügt nicht, die extremen Auswirkungen des die aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittels ausschließenden § 412 auszugleichen.
2. Die in Prüfung gezogene Gesetzesvorschrift erweist sich sohin als verfassungswidrig. Da sie infolge der 50. Novelle zum ASVG bereits außer Kraft getreten ist, hat sich der Verfassungsgerichtshof auf die Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit zu beschränken.
3. Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruchs beruht auf Art 140 Abs 5 zweiter Satz B-VG.
V. Von einer mündlichen Verhandlung wurde gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG abgesehen.