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VfGH vom 13.10.1983, g29/83

VfGH vom 13.10.1983, g29/83

Sammlungsnummer

9819

Leitsatz

Nö. Kommunalstrukturverbesserungsgesetz 1971; Vereinigung der Kleingemeinden Otterthal, Trattenbach und Raach war gleichheitswidrig; keine Verbesserung der Gemeindestruktur; Vorhersehbarkeit der Unzweckmäßigkeit aus geographischen und topographischen Gründen

Spruch

§3 Abs 15 Z 3 des Nö. Kommunalstrukturverbesserungsgesetzes 1971, Nö. LGBl. Nr. 264, war verfassungswidrig.

Der Landeshauptmann von NÖ ist verpflichtet, diese Feststellung unverzüglich im Landesgesetzblatt kundzumachen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. a) § 3 Abs 15 des Nö. Kommunalstrukturverbesserungsgesetzes 1971, LGBl. Nr. 264, (im folgenden: KStrVG) lautet auszugsweise:

"(15) Im politischen Bezirk Neunkirchen werden folgende Gemeinden zu einer neuen Gemeinde vereinigt:

1. ...

3. die Gemeinden Trattenbach, Otterthal und Raach am Hochgebirge zur Gemeinde Otterthal"

Die von der Vereinigung betroffenen Gemeinden haben gemäß § 5 Abs 1 KStrVG mit dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes - das ist seinem § 9 zufolge der - als eigene Gemeinden zu bestehen aufgehört.

b) Unter dem Datum hat die Nö. Landesregierung den Bescheid Z II/1-797-1971 erlassen, dessen Spruch lautet:

"Gemäß § 3 Abs 15 Z 3 des Kommunalstrukturverbesserungsgesetzes 1971, LGBl. Nr. 264, wurden die Gemeinden Trattenbach, Otterthal und Raach am Hochgebirge zur Gemeinde Otterthal vereinigt.

Gemäß § 6 Abs 2 leg. cit. werden bis zur Angelobung des neugewählten Bürgermeisters zur Besorgung der unaufschiebbaren Geschäfte dieser Gemeinde bestellt:

Zum Regierungskommissär: ...

Zu Beiräten: ... (es folgen sechs Namen)

Das Beiratsmitglied ... wird zum Stellvertreter des

Regierungskommissärs bestimmt.

Die von der Gemeinde zu tragende Entschädigung des Regierungskommissärs wird mit 2308 S festgesetzt."

2. Der Bescheid der Nö. Landesregierung bildet den Gegenstand der unter B6/82 protokollierten Beschwerde wegen Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte, die von (weder zum Regierungskommissär noch zu Beiratsmitgliedern bestellten) Mitgliedern der Gemeinderäte der ehemaligen Gemeinden Trattenbach, Otterthal und Raach am Hochgebirge erhoben wurde.

3. Anläßlich dieser Beschwerde hat der VfGH gemäß Art 140 B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 3 Abs 15 Z 3 KStrVG eingeleitet.

4. Die Nö. Landesregierung hat hiezu eine Äußerung erstattet.

Sie stellt den Antrag, der VfGH wolle das amtswegige Prüfungsverfahren mangels Vorliegens der Prozeßvoraussetzungen einstellen, in eventu aussprechen, daß § 3 Abs 15 Z 3 KStrVG nicht verfassungswidrig war. Für den Fall, daß der VfGH ausspricht, daß diese Bestimmung verfassungswidrig war, wird beantragt, eine Frist von einem Jahr festzusetzen.

5. Darauf haben die Bf. des Anlaßverfahrens repliziert.

II. Der VfGH hat erwogen:

1. a) Die Nö. Landesregierung bestreitet die Beschwerdelegitimation der Bf. im Anlaßverfahren. Sie meint, der Verlust der Mitgliedschaft zu den Gemeinderäten ergebe sich nicht aus dem angefochtenen Bescheid, diese Rechtsfolge sei vielmehr unmitttelbar durch das KStrVG herbeigeführt worden.

Damit wird aber das Fehlen der Beschwerdeberechtigung nicht nachgewiesen. Der bekämpfte Bescheid berührt nämlich die Rechtsstellung der Bf. jedenfalls insofern, als mit ihm explizit provisorische Gemeindeorgane (anstelle aller bisherigen Gemeindeorgane) bestellt wurden. Darin liegt die implizite Feststellung, daß ua. die Bf. ihre Funktion als Mitglieder des Gemeinderates der aufgelösten Gemeinden verloren haben. Diese Feststellung hat normative Wirkung, obgleich der Funktionsverlust bereits ex lege eingetreten ist.

Es ist daher möglich, daß der Bescheid die Bf. in ihren Rechten verletzt (vgl. zB die in VfSlg. 8869/1980 zitierte, bis ins Jahr 1972 zurückreichende Rechtsprechung; siehe weiters VfSlg. 9082/1981, 9068/1981, 9148/1981; ).

b) Der VfGH hat bei Entscheidung über die - zulässige (s. die vorstehende lita) - Beschwerde jene Gesetzesvorschrift anzuwenden, auf die sich der angefochtene Bescheid (ua.) stützt, nämlich § 3 Abs 15 Z 3 KStrVG. An der Präjudizialität dieser Bestimmung ändert das mit in Kraft getretene Landesgesetz über die Gliederung des Landes NÖ in Gemeinden (Stammfassung: LGBl. 1030-0) nichts, in dem - anknüpfend an die bestehende Gemeindestruktur - festgestellt wird, in welche Gemeinden sich das Land NÖ gliedert. Ebensowenig ändert daran etwas der ArtII Z 18 des Nö. Landesgesetzes vom , LGBl. 1030-7 (ausgegeben am , Jahrgang 1981, 119. Stück), womit das Nö. KStrVG 1971, LGBl. Nr. 264, idF LGBl. Nr. 1450-2, 1450-3, 1450-4 und 1450-5, aufgehoben wird. Für die Beurteilung des angefochtenen Bescheides ist im gegebenen Zusammenhang nämlich nur wesentlich, ob die ihn tragende Bestimmung des KStrVG verfassungsmäßig war (vgl. zB ).

c) Da die übrigen Voraussetzungen des eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahrens ebenfalls gegeben sind, hat der VfGH über die Verfassungsmäßigkeit der angeführten Gesetzesvorschrift im Rahmen der entstandenen Bedenken zu entscheiden.

2. a) Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die in Prüfung gezogene Vorschrift haben sich unter dem Blickpunkt des auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitsgebotes ergeben:

Der VfGH nahm im Einleitungsbeschluß vorläufig an, daß wegen der gebirgigen Lage die Verkehrsverbindungen zwischen den einzelnen Ortsteilen sehr ungünstig seien und daher die Gemeindevereinigung extrem unzweckmäßig war und daß zwischen den Ortsteilen auch keine Beziehungen bestanden und bestehen.

b) Diese Bedenken sind begründet:

Der VfGH hat zwar bisher ständig judiziert (vgl. zB und die dort zitierte weitere Rechtsprechung), daß die Zusammenlegung von Kleingemeinden mit weniger als 1000 Einwohnern in der Regel sachlich ist. Er hat jedoch dargetan, daß diese Regel nicht absolut gilt, sondern daß hievon Ausnahmen bestehen, und zwar für jene Fälle, in denen die Zusammenlegung der Kleingemeinde - mit welcher anderen Gemeinde immer - aufgrund ganz besonderer Umstände vorhersehbarerweise völlig untauglich war, das angestrebte Ziel einer Kommunalstrukturverbesserung zu erreichen (wie etwa im Fall Alberndorf - vgl. VfSlg. 8108/1977, S 526 f.) oder für jene Fälle, in denen die Zusammenlegung der Kleingemeinde mit einer bestimmten anderen Gemeinde oder ihre Aufteilung auf bestimmte andere Gemeinden (wie etwa im Fall Gerersdorf - vgl. VfSlg. 9068/1981) - beispielsweise aus geographischen Gründen unter Bedachtnahme auf das Bestehen öffentlicher Verkehrsverbindungen - voraussehbarerweise extrem unzweckmäßiger war als eine andere denkbare Zusammenlegung oder Aufteilung oder auch als das Belassen der Gemeinde.

Wohl hatten die von der Vereinigung betroffenen Gemeinden zum Zeitpunkt ihrer Zusammenlegung (1971) weit unter 1000 Einwohner (Otterthal 453, Trattenbach 716 und Raach 361 Einwohner). Es lagen aber besondere Umstände iS der vorstehenden Ausführungen vor, die die verfügte Zusammenlegung dieser Gemeinden dennoch als unsachlich erscheinen lassen.

Die vereinigten Gemeinden liegen in einem gebirgigen Landesteil. Die gegebenen geographischen und topographischen Verhältnisse sind derart, daß sie die Gemeindezusammenlegung im Jahre 1971 extrem unzweckmäßig erscheinen ließen; die tatsächlich eingetretene Entwicklung hat dies bestätigt:

Die Entfernung zwischen einigen Teilen der neuen Gemeinde Otterthal sind sehr groß, die vorhandenen öffentlichen Verkehrsverbindungen waren und sind sehr ungünstig.

So betragen beispielsweise die Entfernungen zum Gemeindezentrum (das Gemeindeamt der neuen Gemeinde Otterthal befindet sich im Ortsteil Trattenbach) von der KG Raach etwa 9 km und von der KG Sonnleithen etwa 12 km Luftlinie bzw. etwa 20 Straßen-km.

Diese angeführten weiten Wegstrecken würden sich für diese Ortsteile zwar um etwa 5 km verkürzen, wenn das Gemeindeamt in Otterthal läge; damit wäre aber für diese Ortsteile nichts Wesentliches gewonnen. Es müßten in diesem Fall die Trattenbacher nach Otterthal reisen, um zum Gemeindeamt zu gelangen, was wieder insgesamt betrachtet deshalb nachteiliger als die jetzige Situation wäre, weil Trattenbach wesentlich mehr Einwohner hat als Otterthal.

Alle drei zusammengelegten Gemeinden waren - trotz ihrer geringen Einwohnerzahl - zum Zeitpunkt ihrer Vereinigung wirtschaftlich und finanziell gefestigt. Es war daher nicht unbedingt erforderlich, sie aufzulösen. Dennoch wäre eine Vereinigung sachlich gerechtfertigt gewesen, wenn davon insgesamt eine Verbesserung der Gemeindestruktur zu erwarten gewesen wäre. Dies war aber nicht der Fall:

Der unter Berufung auf eine Untersuchung der Technischen Universität Wien von der Nö. Landesregierung gegebene Hinweis, die Bevölkerung akzeptiere vor allem in Hinblick auf die hohe Dichte der Motorisierung größere Wegstrecken, um zu Einkaufszentren (und deshalb auch um zum - seltener besuchten - Gemeindeamt) zu gelangen, entkräftet nicht die im Einleitungsbeschluß geäußerten Bedenken. Abgesehen davon, daß der Motorisierungsgrad in Otterthal gering ist, verursacht auch jede Fahrt mit einem privaten Kraftfahrzeug Zeitaufwand und Kosten. Dazu kommt, daß, um von dem einen in den anderen Ortsteil (insbesondere auch, um nach Trattenbach, wo das Gemeindeamt liegt) zu gelangen, häufig nicht bloß lange Straßenstrecken zurückgelegt, sondern daß auch große Höhenunterschiede (bis 800 m) überwunden werden müssen. Solche Umstände müssen zwar wohl bei bestehenden Gemeinden akzeptiert werden, fallen aber bei einem Gesetz, das die Änderung der vorhandenen Gemeindeorganisation zum Inhalt hat, bei Lösung der Frage, ob das Gesetz insgesamt der Verbesserung der Gemeindestruktur dient, als einer der zu berücksichtigenden Aspekte negativ ins Gewicht.

Die gegebene geographische Situation stand jeglicher Verflechtung der vereinigten Gemeinden entgegen und verhinderte die Entwicklung eines für funktionierende Gemeinden wesentlichen Zusammengehörigkeitsgefühles zwischen den einzelnen Ortsteilen. Der Gesetzgeber des Jahres 1971 konnte nicht erwarten, daß sich unter den gegebenen Umständen daran - etwa durch seine in Prüfung gezogene Maßnahme - künftig etwas ändern werde.

Die möglicherweise durch die Gemeindezusammenlegung eingetretene Stärkung der Finanzkraft vermag die durch die Vereinigung insgesamt eingetretenen Nachteile nicht annähernd aufzuwiegen. Diese Entwicklung war für den Gesetzgeber des Jahres 1971 prognostizierbar (vgl. zur Maßgeblichkeit des Zeitpunktes der Erlassung des KStrVG 1971 und der Vorhersehbarkeit der künftigen Entwicklung , Punkt III.2.).

Eine Zusammenschau aller maßgeblichen Umstände zeigt, daß die Gemeindevereinigung, wie sie im Jahre 1971 vorgenommen wurde, zahlreiche Nachteile für die betroffene Bevölkerung gebracht, jedoch keine nennenswerten Vorteile für sie bewirkt hat. Zwischen den einzelnen Ortsteilen, die vor allem infolge der gebirgigen Lage verkehrsmäßig äußerst ungünstig untereinander verbunden sind, bestanden keine historisch gewachsenen Beziehungen (wie sie in anderen Gebirgsgegenden Österreichs zwischen einzelnen - obgleich auch weit voneinander entfernten - Ortsteilen vorhanden sind).

Eine Änderung der Gemeindestruktur muß, um sachlich gerechtfertigt zu sein, insgesamt gesehen eine Verbesserung mit sich bringen. Davon kann hier aber keine Rede sein.

Die Nö. Landesregierung bringt vor, daß ein für die tatsächliche Entwicklung nach der verfügten Gemeindezusammenlegung maßgeblicher Zeitraum von etwa zehn Jahren nicht ausreiche, um ein Kriterium für die Lösung der Frage zu bilden, ob die vom Gesetzgeber getroffene Prognose vertretbar war (vgl. hiezu , Punkt III.2.).

Mit dieser Argumentation räumt die Nö. Landesregierung ein, daß die Bedenken des VfGH zutreffen, daß nämlich die Gemeindevereinigung insgesamt gesehen bisher nur nachteilig wirkte. Wenn die Nö. Landesregierung offenbar auf eine von ihr erwartete positive Entwicklung in den nächsten Generationen hinweisen will, verkennt sie, daß für die Beurteilung der Sachlichkeit des KStrVG 1971 die nach seiner Erlassung eingetretene Entwicklung nur ein Indiz ist. Die nicht näher untermauerte und konkretisierte Annahme, daß sich künftig nun möglicherweise doch noch etwas zum Besseren wenden könnte, ist untauglich, die Sinnhaftigkeit der im Jahre 1971 getroffenen Prognose darzutun.

Zusammenfassend ist festzuhalten, daß der Gesetzgeber des Jahres 1971 eine sachlich nicht begründbare Verfügung getroffen hat. § 3 Abs 15 Z 3 KStrVG 1971 widerspricht sohin dem Gleichheitsgebot.

3. Durch ArtII Z 18 des Nö. Landesgesetzes vom , LGBl. 1030-7 (ausgenommen am , Jahrgang 1981, 119. Stück), wurde das Nö. KStrVG 1971, LGBl. Nr. 264, idF LGBl. 1450-2, 1450-3, 1450-4 und 1450-5 aufgehoben.

Die in Prüfung gezogene Gesetzesbestimmung ist sohin bereits außer Kraft getreten. Der VfGH hatte daher gemäß Art 140 Abs 4 B-VG auszusprechen, daß § 3 Abs 15 Z 3 KStrVG verfassungswidrig war.

Bei einer solchen Festellung kommt eine - von der Nö. Landesregierung beantragte - Bestimmung einer Frist iS des Art 140 Abs 5 vorletzter und letzter Satz B-VG nicht in Betracht.

4. Die Verpflichtung des Landeshauptmannes von NÖ zur unverzüglichen Kundmachung diese Ausspruches stützt sich auf Art 140 Abs 5 erster und zweiter Satz B-VG.