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VfGH vom 24.06.2006, g28/06

VfGH vom 24.06.2006, g28/06

Sammlungsnummer

17892

Leitsatz

Verletzung des Vertrauensschutzes durch die Anordnung der Rückwirkung einer neu eingeführten Beitragspflicht für die Einkünfte aus einer landwirtschaftlichen Nebenerwerbstätigkeit in der Sozialversicherung der Bauern; erheblicher Eingriff angesichts der dadurch bewirkten Beitragserhöhungen; keine Rechtfertigung einer solchen rückwirkenden Mehrbelastung durch besondere Umstände

Spruch

§ 295 Abs 10 des Bauern-Sozialversicherungsgesetzes - BSVG, BGBl. Nr. 559/1978, in der Fassung der 28. Novelle zum BSVG (Art5 des Pensionsharmonisierungsgesetzes, BGBl. I Nr. 142/2004) wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Kraft.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Gemäß § 2 Abs 1 Z 1 BSVG sind Personen, die auf ihre Rechnung und Gefahr einen land(forst)wirtschaftlichen Betrieb führen, in der Kranken- und Pensionsversicherung nach dem BSVG pflichtversichert. Seit erstreckt sich diese Pflichtversicherung - "nach Maßgabe der Anlage 2" - ua. auch auf Nebengewerbe der Land- und Forstwirtschaft gemäß § 2 Abs 1 Z 2 iVm Abs 4 GewO 1994 (§2 Abs 1 Z 1 lita BSVG idF der 23. Novelle zum BSVG, BGBl. I Nr. 176/1999). Zu diesen Nebengewerben zählt auch das "Vermieten und Einstellen von Reittieren" (§2 Abs 4 Z 6 GewO 1994).

Die Beitragsgrundlage für Pflichtversicherte ergibt sich bei Betrieben, für die ein steuerlicher Einheitswert festgestellt ist, aus dem von diesem abgeleiteten Versicherungswert des land(forst)wirtschaftlichen Betriebes (§23 Abs 1 Z 1 BSVG). Für Nebentätigkeiten iS des § 2 Abs 1 Z 1 letzter Satz BSVG ist - soweit sie nicht nach der Anlage 2 zum BSVG vom Einheitswert des Betriebes umfasst sind - eine gesonderte Beitragsgrundlage zu bilden (§23 Abs 1 Z 3 BSVG); diese beträgt in der Regel 30 vH der Bruttoeinnahmen (§23 Abs 4b BSVG), auf Antrag des Versicherten sind jedoch - an Stelle dieses Betrages - die im Einkommensteuerbescheid ausgewiesenen Einkünfte, mindestens aber EUR 583,48 (2004) monatlich, als Beitragsgrundlage heranzuziehen (§23 Abs 1b iVm Abs 4c-4e und 10a BSVG).

2. Die Z 3.4 der Anlage 2 zum BSVG hatte zunächst (idF der 23. Novelle zum BSVG) bestimmt, dass "Fuhrwerksdienste sowie das Vermieten und Einstellen von Reittieren" als land(forst)wirtschaftliche Nebentätigkeiten iS des § 2 Abs 1 Z 1 letzter Satz BSVG vom Einheits- bzw. Versicherungswert des land(forst)wirtschaftlichen Betriebes (§23 Abs 1 Z 1 BSVG) umfasst sind.

Mit der 28. Novelle zum BSVG (Art5 des Pensionsharmonisierungsgesetzes, BGBl. I Nr. 142/2004, ausgegeben am ) wurde die Z 3.4 der Anlage 2 zum BSVG dahin geändert, dass für die darin angeführten Nebentätigkeiten nunmehr - nach § 23 Abs 1 Z 3 BSVG - eine gesonderte Beitragsgrundlage zu bilden ist.

Diese Änderung der Anlage 2 zum BSVG ist mit in Kraft getreten (§295 Abs 1 Z 1 BSVG). Der - in Prüfung gezogene - § 295 Abs 10 BSVG bestimmt jedoch:

"Die Anlage 2 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 142/2004 ist erstmals für das Beitragsjahr 2004 anzuwenden."

II. 1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zu B1178/05 das Verfahren über eine auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde anhängig, der im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde liegt:

Die Beschwerdeführerin hatte bis Juni 2005 auf gemeinsame Rechnung und Gefahr mit ihrem (damaligen) Ehegatten einen landwirtschaftlichen Betrieb mit einem Einheitswert von EUR 7000,-- geführt sowie Einnahmen aus dem Einstellen von Reitpferden erzielt. Am stellte die Beschwerdeführerin gemäß § 23 Abs 1b BSVG den Antrag, für diese Nebentätigkeit ab dem Kalenderjahr 2004 die im Einkommensteuerbescheid ausgewiesenen Einkünfte als Beitragsgrundlage heranzuziehen.

Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom stellte der Landeshauptmann von Oberösterreich die vorläufigen monatlichen Beitragsgrundlagen der Beschwerdeführerin in der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung der Bauern (ua.) für das Jahr 2004 fest; als Beitragsgrundlage für den Betrieb wurde hiebei der für das Jahr 2004 maßgebliche - aus dem Einheitswert errechnete - Versicherungswert des Betriebes (EUR 1028,51) zuzüglich der in § 23 Abs 10a BSVG vorgesehenen Mindestbeitragsgrundlage für die ausgeübte Nebentätigkeit (EUR 583,48) in Ansatz gebracht.

2. Bei Behandlung der gegen diesen Bescheid gerichteten Beschwerde sind beim Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des § 295 Abs 10 BSVG entstanden. Er hat daher am beschlossen, von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung einzuleiten.

Der Gerichtshof hegte gegen die in Prüfung gezogene Bestimmung das Bedenken, dass sie wegen ihrer rückwirkenden Erlassung dem aus dem Gleichheitssatz abgeleiteten Grundsatz des Vertrauensschutzes widerspricht, und dieses Bedenken wie folgt formuliert:

"Der Verfassungsgerichtshof hat bereits wiederholt ausgesprochen (zB VfSlg. 12.186/1989 und 13.020/1992 mwN, weiters VfSlg. 15.060/1997 mwN), dass Rechtsvorschriften, die an früher verwirklichte Tatbestände Belastungen knüpfen und so die Rechtsstellung der Betroffenen mit Wirkung für die Vergangenheit verschlechtern gleichheitswidrig sein können, wenn es sich um einen Eingriff von erheblichem Gewicht handelt, der die Betroffenen in einem berechtigten Vertrauen auf eine bestehende Rechtslage enttäuscht, es sei denn, besondere Umstände vermöchten eine solche Rückwirkung ausnahmsweise zu rechtfertigen.

... Im vorliegenden Fall dürfte der Gesetzgeber der 28. Novelle zum BSVG, die am ausgegeben wurde, durch die Anordnung, dass die erwähnte Gesetzesänderung erstmals (schon) für das Beitragsjahr 2004 anzuwenden sei, (auch) für die seit erwirtschafteten Einkünfte aus einem land(forst)wirtschaftlichen Nebengewerbe für ein bereits nahezu abgelaufenes Beitragsjahr rückwirkend eine Beitragspflicht eingeführt haben, die - wie die oben wiedergegebene Rechtslage zeigt - im Zeitpunkt der Erzielung dieser Einkünfte anscheinend noch nicht bestanden hat. Damit wurde den Beitragspflichtigen die Möglichkeit genommen, ihre Dispositionen in voller Kenntnis der beitragsrechtlichen Folgen zu treffen (vgl. neuerlich das eine abgabenrechtliche Frage betreffende Erkenntnis VfSlg. 13.020/1992). Der Eingriff dürfte auch erheblich sein, führte er doch etwa im Beschwerdefall anscheinend zu einer rückwirkenden Mehrbelastung an Sozialversicherungsbeiträgen von rd 57 vH.

... Für die angeordnete Rückwirkung scheint es aber überhaupt keine sachlichen Gründe zu geben:

In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage der 28. Novelle zum BSVG (653 BlgNR XXII. GP) wird die strittige Änderung der Z 3.4 der Anlage 2 zum BSVG (bloß) mit dem Anliegen begründet, ein 'redaktionelle[s] Versehe[n] im Rahmen des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 2004, BGBl. I Nr. 105' zu beseitigen. Abgesehen davon, dass die versehentliche Auslassung einer beabsichtigten gesetzlichen Anordnung kein 'Redaktionsversehen' darstellt, dürfte ein dem Gesetzgeber - gemessen an seinen rechtspolitischen Absichten - unterlaufener 'Fehler' noch kein zureichender Grund dafür sein, die Korrektur eines solchen Versehens zu Lasten der betroffenen Gruppe von Beitragspflichtigen rückwirkend vorzunehmen (vgl. neuerlich das Erkenntnis VfSlg. 13.020/1992)."

3. Im Gesetzesprüfungsverfahren erstattete die beteiligte Sozialversicherungsanstalt der Bauern eine schriftliche Äußerung, in der sie die in Prüfung gezogene Bestimmung verteidigt. Die Bundesregierung teilte mit, von einer meritorischen Äußerung Abstand zu nehmen.

III. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. Zweifel an der Zulässigkeit der Anlassbeschwerde oder an der Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Bestimmung sind nicht entstanden. Das Normenprüfungsverfahren ist daher zulässig.

2. Im Verfahren ist auch nichts hervorgekommen, was die im Prüfungsbeschluss geäußerten Bedenken zerstreut hätte:

2.1. Durch die 28. Novelle zum BSVG wurden Einkünfte aus dem in Rede stehenden landwirtschaftlichen Nebengewerbe, die zum Zeitpunkt ihrer Erzielung dadurch beitragsfrei gestellt waren, dass sie vom Einheitswert des land(forst)wirtschaftlichen Betriebes umfasst gewesen sind, rückwirkend einer Beitragspflicht unterworfen, indem für sie die Bildung einer eigenen Beitragsgrundlage angeordnet wurde. Damit wurde aber die beitragsrechtliche Situation der Betroffenen, die hinsichtlich ihrer landwirtschaftlichen Nebenerwerbstätigkeit im Vertrauen auf die bestehende Rechtslage disponiert hatten, mit Wirkung für die Vergangenheit verschlechtert und sie dadurch in ihrem berechtigten Vertrauen auf die bestehende Rechtslage enttäuscht (vgl. VfSlg. 12.186/1989, 13.020/1992 und 15.060/1997 mwN).

2.2. Die Sozialversicherungsanstalt der Bauern bestreitet in ihrer Gegenschrift ausschließlich, dass ein Eingriff von erheblichem Gewicht vorliegt und verweist auch darauf, dass der rückwirkenden Beitragserhöhung allenfalls eine höhere Pension gegenüber stehen könnte. Sie begründet dies damit, dass die Mehrbelastung der Beschwerdeführerin gemessen an den - von ihr als Bezugsgröße angenommenen - Bruttoeinnahmen aus dem landwirtschaftlichen Nebengewerbe lediglich 6,3 vH betragen habe. Die Sozialversicherungsanstalt übersieht dabei, dass die Verfassungsmäßigkeit der Norm über die Einhebung von Sozialversicherungsbeiträgen, welche dazu führt, dass sich die bisherige Beitragsbelastung im Fall etwa der Beschwerdeführerin rückwirkend um 57 vH erhöht (was die Sozialversicherungsanstalt nicht bestreitet), nicht durch den Nachweis der Relation der rückwirkend eingehobenen Beiträge zu (von ihr bloß vermuteten) Einkünften dargetan werden kann. Zudem nennen weder die Bundesregierung noch die Sozialversicherungsanstalt irgendeinen Grund für die vom Gesetzgeber angeordnete Rückwirkung, geschweige denn, dass sie die Regelung rechtfertigende besondere Umstände aufzuzeigen vermöchten, zu der die rückwirkende Beitragsbelastung ins Verhältnis gesetzt werden könnte.

3. Der Verfassungsgerichtshof hält daher an seiner Auffassung fest, dass die in Prüfung gezogene Norm einen Eingriff von erheblichem Gewicht bewirkt, hinsichtlich dessen besondere Umstände, die eine solche rückwirkende Mehrbelastung zu rechtfertigen vermögen, weder vorgebracht wurden, noch im Verfahren hervorgekommen sind.

§ 295 Abs 10 BSVG war daher wegen Verstoßes gegen den auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitssatz als verfassungswidrig aufzuheben.

4. Der Ausspruch, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten, beruht auf Art 140 Abs 6 erster Satz B-VG. Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung und der damit im Zusammenhang stehenden sonstigen Aussprüche erfließt aus Art 140 Abs 5 erster Satz B-VG und § 64 Abs 2 VfGG iVm § 3 Z 3 BGBlG.

5. Dies konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.