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VfGH vom 12.12.1985, G257/85

VfGH vom 12.12.1985, G257/85

Sammlungsnummer

10737

Leitsatz

Art140 Abs 7 B-VG; Herbeiführung der Anlaßfallwirkung für beim VwGH anhängige Beschwerdesachen

FremdenpolizeiG; Eingriff in das durch Art 8 MRK gewährleistete Recht schon durch Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nach § 3; § 3 in Widerspruch zu Art 8 MRK und zu Art 18 B-VG - Eingriffsschranken, wie sie Art 8 Abs 2 MRK vorschreibt, nicht mit der für ein "eingriffsnahes" Gesetz erforderlichen Deutlichkeit zu erkennen

Spruch

§3 des Fremdenpolizeigesetzes, BGBl. 75/1954, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des in Kraft.

Die aufgehobene Bestimmung ist auch auf jene Tatbestände nicht mehr anzuwenden, die den beim VfGH zu G245, 246/85 und G248 bis 257/85 anhängigen Rechtssachen zugrunde liegen.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im BGBl. verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Beim VfGH sind zu Z B503/84, B860/84, B132/85 und B160/85 Verfahren über Beschwerden nach Art 144 B-VG anhängig. Diese richten sich gegen vier im Instanzenzug ergangene Bescheide der Sicherheitsdirektionen für die Bundesländer Stmk. und Vbg., mit denen gegen Fremde iS des Fremdenpolizeigesetzes (FrPG), BGBl. 75/1954, gemäß § 3 Abs 1 und gemäß einem der in § 3 Abs 2 umschriebenen Tatbestände iVm. § 4 FrPG Aufenthaltsverbote erlassen wurden, obgleich in den Administrativverfahren geltend gemacht worden war, die Fremden hätten in Österreich familiäre oder familienähnliche Beziehungen.

2. a) Der VfGH beschloß aus Anlaß der vier Beschwerden, von Amts wegen gemäß Art 140 Abs 1 B-VG Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 3 FrPG einzuleiten.

b) Diese bundesgesetzliche Bestimmung lautet:

"§3. (1) Gegen Fremde, deren Aufenthalt im Bundesgebiet die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen öffentlichen Interessen zuwiderläuft, kann ein Aufenthaltsverbot erlassen werden.

(2) Insbesondere kann ein Aufenthaltsverbot gegen Fremde erlassen werden

a) die wegen Übertretung einer auf dem Gebiete der Fremdenpolizei, des Paß-, Ausweis-, Wanderungs- oder Meldewesens oder des Arbeits- oder Gewerberechts erlassenen Vorschrift bestraft worden sind;

b) die aus anderen Gründen von einem in- oder ausländischen Gericht rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten verurteilt worden oder sonst von einem inländischen Gericht oder einer inländischen Verwaltungsbehörde mehr als einmal aus Gewinnsucht oder aus anderen unehrenhaften Motiven begangener Handlungen wegen bestraft worden sind;

c) die den abgaben-, zoll- oder devisenrechtlichen Vorschriften zuwidergehandelt haben;

d) die sich durch Wort oder Schrift gegen die Republik Österreich und ihre Einrichtungen betätigt oder eine solche Tätigkeit unterstützt oder gefördert haben;

e) die den Besitz oder den redlichen Erwerb der Mittel zu ihrem oder zum Unterhalt der Personen, für die sie nach dem Gesetz zu sorgen verpflichtet sind, nicht nachzuweisen vermögen;

f) die im Bundesgebiet der Gewohnheitsbettelei nachgegangen sind oder gewerbsmäßig Unzucht betrieben haben;

g) die gegenüber einer inländischen amtlichen Stelle zum Zwecke der Täuschung unrichtige Angaben über ihre Person oder ihre persönlichen Verhältnisse gemacht haben.

(3) Das Aufenthaltsverbot kann aus triftigen Gründen auf den Ehegatten des Fremden und seine minderjährigen Kinder ausgedehnt werden, auch wenn die Voraussetzungen nach Abs 1 und 2 bei diesen Personen nicht vorliegen."

c) Der VfGH umschrieb im Einleitungsbeschluß seine Bedenken wie folgt:

"1. Die Rechtsordnung enthält zahlreiche verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte, die unter - formellem oder materiellem - Gesetzesvorbehalt stehen. Eingriffe in diese Rechte sind nur soweit zulässig, als das Gesetz dies erlaubt.

Eines dieser Grundrechte, das im Zusammenhang mit der Zwangsausweisung eines Fremden aus dem Bundesgebiet von besonderer Bedeutung sein dürfte, ist im Art 8 MRK (der auf Verfassungsstufe steht) wie folgt umschrieben:

'Artikel 8.

(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechtes ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.'

Eine behördliche Maßnahme scheint in dieses verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht einzugreifen, wenn damit eine vom Begriff 'Privat- und Familienleben' erfaßte zwischenmenschliche Beziehung wesentlich gestört wird, beispielsweise, wenn es aufgrund dieser Maßnahme unvermeidlich wird, daß etwa durch eine Zwangsausweisung die Familieneinheit zerrissen wird (vgl. hiezu die jüngere Judikatur der EKMR, zB EuGRZ 1983, S 215 f., 423 f.).

Der VfGH nimmt vorläufig an, daß ein Eingriff in das durch Art 8 MRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens nicht - wie der VwGH (zB = ZfVB 1983/1644) judiziert - erst durch die Ablehnung eines Vollstreckungsaufschubes nach § 6 Abs 2 FrPG, sondern auch schon durch die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes bewirkt wird, weil bereits damit die Rechtsposition des Fremden dahin geändert wird, daß ihm der weitere Aufenthalt in Österreich untersagt und ihm geboten wird (§6 Abs 1 FrPG), das Gebiet, in dem ihm der Aufenthalt verboten ist, innerhalb einer Woche nach Rechtskraft des Bescheides zu verlassen, was den Zwang in sich schließen kann, sich von seinen in Österreich lebenden Familienangehörigen zu trennen.

2. Ein Eingriff in das durch Art 8 Abs 1 MRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht darf dem Art 8 Abs 2 MRK zufolge nur unter den dort (taxativ) aufgezählten Voraussetzungen vorgenommen werden.

Sollte die obige Prämisse (II.1.) zutreffen, so wäre das FrPG gehalten, (auch) die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nur dann vorzusehen, wenn eine solche Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft aus einem der im Art 8 Abs 2 MRK aufgezählten Gründe notwendig ist. Anscheinend müßte das Gesetz also eine Abwägung zwischen den dort aufgezählten öffentlichen Interessen und den Interessen auf Achtung des Familienlebens vornehmen.

Davon ist der VfGH auch in seiner bisherigen Judikatur (VfSlg. 8792/1980, 9028/1981, 9029/1981) ausgegangen (siehe hiezu Stolzlechner, Aufenthaltsverbot und 'Familienleben' - eine Judikaturdivergenz?, ZfV 1982, 227 ff.; Hofreiter, Aufenthaltsverbot und 'Familienleben' - wirklich eine Judikaturdivergenz?, ZfV 1983, 125 ff.).

Der Gerichtshof hat bisher allerdings gemeint, das FrPG verpflichte - schon im Sinne einer verfassungskonformen Interpretation -, obgleich es keine ausdrückliche, auf die Achtung des Familienlebens bezughabende Bestimmung enthält, die Fremdenpolizeibehörde, die erwähnten Interessen gegeneinander abzuwägen.

Diese Rechtsprechung geht offenbar davon aus, daß Art 8 Abs 2 MRK keiner weiteren Konkretisierung durch (einfaches) Gesetz bedarf. Es scheint, daß dieser Standpunkt mit der zitierten Konventionsbestimmung unvereinbar ist, wonach ein Eingriff in die Ausübung des nach Art 8 Abs 1 MRK gewährleisteten Rechtes 'nur statthaft (ist), insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist'. Anscheinend hat daher das Gesetz die Eingriffsmöglichkeiten abschließend und umfassend zu umschreiben. Wenn diese vorläufige Annahme zutrifft, so hätte das FrPG ausdrücklich die Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes derart zu umschreiben, daß darin im Sinne des Art 8 MRK auf das Familienleben Bedacht genommen wird (siehe hiezu Weh, Aufenthaltsverbot und 'Familienleben' - ein Problem der gesetzlichen Regelung, ZfV 1984, 374 ff.).

Eine derartige Vorschrift enthält das FrPG anscheinend nicht. Dies dürfte gegen Art 8 MRK verstoßen.

Im übrigen dürfte auch die im § 3 Abs 1 FrPG enthaltene Wendung 'anderen öffentlichen Interessen zuwiderläuft' der Behörde ein dem Art 8 MRK widersprechendes Verhalten gestatten.

3. Die angenommene Verfassungswidrigkeit könnte - wie der VfGH vorläufig annimmt - nur dadurch beseitigt werden, daß der gesamte § 3 FrPG aufgehoben wird. Diese bundesgesetzliche Vorschrift dürfte also zur Gänze präjudiziell sein."

3. Die Bundesregierung erstattete eine Äußerung, in der sie beantragte wie folgt:

"... der VfGH möge den § 3 des Fremdenpolizeigesetzes, BGBl. Nr. 75/1954, nicht als verfassungswidrig aufheben.

Für den Fall der Aufhebung stellt die Bundesregierung den Antrag, der VfGH wolle für das Außerkrafttreten gemäß Art 140 Abs 5 B-VG eine Frist von einem Jahr bestimmen. Diese Frist ist für die Vorbereitung der notwendigen legistischen Maßnahmen erforderlich."

Die Bundesregierung begründete ihre Anträge folgendermaßen:

"I.

Der VfGH geht ... davon aus, daß ein Eingriff in die Ausübung eines nach Art 8 Abs 1 EMRK gewährleisteten Rechtes nur dann statthaft erscheine, wenn dieser Eingriff durch das Gesetz vorgesehen sei und dieses Gesetz die Eingriffsmöglichkeiten abschließend und umfassend umschreibt. Eine derartige abschließende und umfassende Umschreibung enthalte jedoch § 3 des Fremdenpolizeigesetzes nicht. Dazu ist vom Standpunkt der Bundesregierung folgendes auszuführen:

1. Die Europäische Kommission für Menschenrechte hat in ständiger Judikatur (vgl. etwa den Kommissionsbericht im Fall der Beschwerde Nr. 9214/81, § 94; vgl. auch die Rechtsprechungsberichte in der Europäischen Grundrechtezeitschrift, 1983, 215 f. und 423 f.) festgestellt, daß die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, nicht das Recht von Ausländern garantiert, in das Gebiet eines Vertragsstaates einzureisen oder dort zu bleiben. Aus der ständigen Judikatur der Kommission ergibt sich zwar, daß die Ausweisung einer Person aus einem Land, in dem enge Verwandte von ihr leben, im Hinblick auf Art 8 EMRK problematisch sein kann. Dies hängt jedoch von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab. Eine besondere, den Aufenthalt von Ausländern im Staatsgebiet beschränkende Gesetzgebung ist jedoch nicht grundsätzlich unzulässig.

Nach Art 8 EMRK sind Maßnahmen, die in das Recht auf Achtung des Familien- und Privatlebens eingreifen, nur dann rechtmäßig, wenn sie den Voraussetzungen des Art 8 Abs 2 EMRK entsprechen.

2. In formeller Hinsicht setzt Art 8 Abs 2 EMRK voraus, daß ein Eingriff in den von Art 8 Abs 1 EMRK geschützten Bereich 'gesetzlich vorgesehen' ist.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Rechtsprechung diese Voraussetzung dann als erfüllt angesehen, wenn die einen Eingriff begründende Vorschrift ausreichend zugänglich und hinreichend bestimmt ist (vgl. das Urteil vom im Falle Sunday Times gegen das Vereinigte Königreich, § 47, das Urteil vom im Falle Silver gegen das Vereinigte Königreich, § 86, sowie auch das Urteil vom im Fall Malone gegen das Vereinigte Königreich, § 66). Soweit diese Rechtsprechung den Art 10 Abs 2 EMRK betrifft, muß sie nach Auffassung der Bundesregierung auch für den Art 8 Abs 2 EMRK in gleicher Weise gelten.

Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist es daher offenbar nicht geboten, daß jedes Gesetz, das den Schutzbereich des Art 8 EMRK tangieren kann, ausdrücklich auf den Wortlaut des Art 8 Abs 2 EMRK Bezug nimmt, vielmehr kommt es - wie der Vergleich mit den eben genannten Fällen zeigt - auf die Vereinbarkeit eines Eingriffs mit der innerstaatlichen Rechtsordnung an. Eine der EMRK konforme Interpretation - und damit auch eine verfassungskonforme Interpretation - einer gesetzlichen Bestimmung ist daher auch dann möglich, wenn diese Bestimmung eine allgemein umschreibende Formulierung aufweist. Die Formulierung darf nur nicht so allgemein gehalten sein, daß sie nicht mehr genügend Schutz gegen willkürliche Gesetzesanwendung zu bieten vermag (vgl. das Urteil im Fall Malone, § 67). Eine willkürliche Vollziehung des § 3 des Fremdenpolizeigesetzes ist jedoch im Hinblick auf die Nachvollziehbarkeit der dort verwendeten Begriffe keineswegs vom Wortlaut dieser Bestimmung her indiziert.

Zur Frage der ausreichenden Präzisierung darf auf die Ausführungen unter Pkt. II verwiesen werden. Der von Art 8 Abs 2 EMRK verwendete Begriff Gesetz bezeichnet im übrigen nicht nur gesatztes, sondern auch nicht schriftlich niedergelegtes Recht (vgl. insbesondere die Urteile im Fall Sunday Times, § 47, im Fall Malone, § 66, und im Fall Silver u. a., § 88). Die EMRK geht daher auch nicht von einem formellen Gesetzesbegriff aus.

3. In materieller Hinsicht verlangt Art 8 Abs 2 EMRK, daß ein Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist und einem der von dieser Bestimmung aufgezählten Eingriffsziele dient. Die vom § 3 des Fremdenpolizeigesetzes verfolgte Zielsetzung entspricht nach Auffassung der Bundesregierung den in Art 8 Abs 2 genannten Zielen, weil die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung ausdrücklich in dieser Bestimmung genannt wird und darüber hinaus die anderen öffentlichen Interessen konventionskonform so interpretiert werden müssen, daß sie im Rahmen des Art 8 Abs 2 EMRK ihre Deckung finden, wenn ein Aufenthaltsverbot einen Eingriff in das Recht auf Familienleben darstellen würde.

Aus der EMRK darf daher nach Auffassung der Bundesregierung nicht abgeleitet werden, daß die von ihr genannten Eingriffsmöglichkeiten jeweils in einem solche Eingriffe zulassenden Gesetz ausdrücklich wiederholt werden müssen. Es genügt vielmehr im Hinblick auf die unmittelbare Anwendbarkeit der EMRK, daß das Gesetz keine der EMRK widersprechende Formulierung enthält. In dieser Hinsicht kann aber der § 3 des Fremdenpolizeigesetzes sehr wohl neben dem - bei seiner Vollziehung heranzuziehenden - Art 8 EMRK bestehen.

4. § 3 des Fremdenpolizeigesetzes läßt seinem Wortlaut nach - davon geht auch der VfGH aus (vgl. VfSlg. 8792/1980 und VfSlg. 9029/1981) - eine Berücksichtigung des Schutzbereiches des Art 8 EMRK zu. In seinem Erkenntnis Slg. 8792 stellt der VfGH nämlich fest, daß bei der Anwendung des § 3 Abs 1 und 2 des Fremdenpolizeigesetzes auch auf die familiären Verhältnisse des Fremden Bedacht zu nehmen ist und diese den öffentlichen Interessen daran, daß der Fremde sich nicht im Bundesgebiet aufhält, gegenüberzustellen sind.

Eine derartige Bedachtnahme auf den Schutzbereich des Art 8 EMRK sieht auch der Erlaß des Bundesministers für Inneres vom , GZ 79030/10-II/14/85, vor.

Hinsichtlich des Erfordernisses der Zugänglichkeit erscheinen im Hinblick auf die Kundmachung des § 3 des Fremdenpolizeigesetzes weitere Ausführungen nicht erforderlich.

II.

Zur Frage der hinlänglichen Bestimmtheit des § 3 des Fremdenpolizeigesetzes ('sufficient precision') wird folgendes ausgeführt:

1. Wie bereits unter I. erwähnt, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte u.a. in seinem Urteil im Fall Silver u. a. gegen das Vereinigte Königreich (§§86 ff.) - aber auch schon in seinem Urteil im Fall Sunday Times (§49) - festgehalten, daß eine Norm nicht als Gesetz im Sinn des Art 8 Abs 2 EMRK angesehen werden kann, wenn sie nicht so präzise formuliert ist, daß der Bürger sein Verhalten danach einrichten kann: Er muß - gegebenenfalls aufgrund entsprechender Beratung - in der Lage sein, die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewißheit zu erkennen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht in diesem Zusammenhang aber auch davon aus, daß es unmöglich ist, zu einer absoluten Bestimmtheit bei der Gestaltung von Gesetzen zu gelangen und daß das Streben nach Bestimmtheit zu exzessiver Starrheit führen kann und daher viele Gesetze unvermeidlich in mehr oder minder vage Begriffe gefaßt und ihre Interpretation und Anwendung Fragen der Praxis sind (vgl. das Urteil im Fall Sunday Times, § 49).

Die Statuierung einer Eingriffsmöglichkeit in Form einer Umschreibung durch unbestimmte Gesetzesbegriffe kann daher infolge der Vielgestaltigkeit der sich in einem Rechtsbereich ergebenden Fälle erforderlich sein. Die zulässige Grenze einer solchen legistischen Technik erscheint dort überschritten, wo eine Nachvollziehbarkeit der verwendeten Begriffe nicht möglich ist. Ein solcher Vorwurf trifft jedoch auf den § 3 des Fremdenpolizeigesetzes nicht zu (vgl. insbesondere VfSlg. 9029/1981). Damit erscheint eine Umschreibung in der Form, wie sie § 3 des Fremdenpolizeigesetzes vorsieht, mit Art 8 Abs 2 EMRK auch in dieser Hinsicht vereinbar.

2. Im Lichte des Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall Malone (vgl. § 70) kann weiters die Auffassung vertreten werden, daß eine Konkretisierung derartiger Rechtsvorschriften auch im Wege der gesetzmäßigen Handhabung von behördlichem Ermessen zulässig erscheint. Auch unbestimmte Gesetzesbegriffe räumen der Behörde - ähnlich wie im Fall des Ermessens - einen Beurteilungsspielraum ein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat zu dieser Frage im Fall Malone ausgeführt: 'The issue to be determined is therefore whether, under domestic law, the essential elements of the power to intercept communications were laid down with reasonable precision in accessible legal rules that sufficiently indicated the scope and manner of exercise of the discretion conferred on the relevant authorities.'

(§70).

Der unbestimmte Gesetzesbegriff hat mit dem Ermessen gemeinsam, daß auch er dem Vollzugsorgan einen gewissen Spielraum gibt. Ist ein Gesetzesbegriff unbestimmt, ohne daß dies bereits zur Verfassungswidrigkeit des betreffenden Gesetzes führt - was nach Art 18 Abs 1 B-VG zu beurteilen ist (vgl. VfSlg. 7907, 8528) -, sind mehrere verschiedene Akte des Vollzugsorgans möglich, die rechtmäßig sind (vgl. Walter Mayer, Bundesverfassungsrecht, 5. Auflage S 179). Bejaht man daher die ausreichende Determinierung des § 3 des Fremdenpolizeigesetzes (vgl. VfSlg. 9029/1981, Punkt 1b) dann ist damit auch die Zulässigkeit des der Behörde eingeräumten Beurteilungsspielraumes zu bejahen.

3. Schließlich ist im Hinblick auf die Ausführungen zur Kontrollmöglichkeit im Fall Silver u.a. (§90) auch darauf hinzuweisen, daß im Zusammenhang mit der Verhängung eines Aufenthaltsverbotes die in der österreichischen Rechtsordnung üblicherweise gegebenen Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen (vgl. etwa § 11 des Fremdenpolizeigesetzes sowie die Beschwerdemöglichkeiten an den VwGH und den VfGH). Auch bezüglich derartiger 'Kontrollmöglichkeiten' hat es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht für erforderlich gehalten, daß diese in der Regelung, die einen Eingriff gemäß Art 8 Abs 2 EMRK vorsieht, ausdrücklich statuiert werden (vgl. Urteil im Fall Silver ua. § 90)."

II. 1. Beim VwGH sind zwölf Beschwerdesachen anhängig; die Beschwerden richten sich gegen je einen von der zuständigen Sicherheitsdirektion im Instanzenzug erlassenen Bescheid, mit dem gegen den jeweiligen Bf. des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ein Aufenthaltsverbot nach § 3 FrPG erlassen wurde.

Aus Anlaß dieser Beschwerdefälle stellt der VwGH (zu A24/85, A25/85, A35/85, A34/85, A33/85, A32/85, A31/85, A30/85, A29/85, A28/85, A27/85, A26/85) die (hg. unter G245/85, G246/85, G248/85, G249/85, G250/85, G251/85, G252/85, G253/85, G254/85, G255/85, G256/85 und G257/85 protokollierten) Anträge, § 3 FrPG als verfassungswidrig aufzuheben.

Diese Anträge sind beim VfGH am 28. und eingelangt.

2. Eine formelle Einbeziehung dieser Anträge in das Gesetzesprüfungsverfahren war im Hinblick auf das fortgeschrittene Prozeßgeschehen (Anberaumung der mündlichen Verhandlung für den ) nicht mehr möglich.

Der VfGH hat jedoch beschlossen, von der ihm gemäß Art 140 Abs 7 zweiter Satz B-VG eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen und (mit dem vorletzten Abs. des Spruches) die Anlaßfallwirkung auch für diese beim VwGH anhängigen Beschwerdesachen herbeizuführen.

3. Damit erübrigt sich eine weitere Erledigung der vom VwGH gestellten Gesetzesprüfungsanträge.

III. Der VfGH hat erwogen:

1. Alle vier Anlaßbeschwerden sind zulässig. Der VfGH hätte also bei Entscheidung über sie § 3 FrPG anzuwenden. Die angenommene Verfassungswidrigkeit könnte nur durch Aufhebung des gesamten § 3 FrPG beseitigt werden. Diese bundesgesetzliche Bestimmung ist daher zur Gänze präjudiziell.

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist das Gesetzesprüfungsverfahren zulässig.

2. a) Dem - auf Verfassungsstufe stehenden (ArtII Z 7 B-VG-Nov. 1964, BGBl. 59) - Art 8 MRK zufolge sind Maßnahmen, die in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingreifen, nur dann verfassungsmäßig, wenn sie dem Eingriffsvorbehalt des Art 8 Abs 2 MRK entsprechen.

b) Das Verfahren hat nichts ergeben, was geeignet wäre, die im Einleitungsbeschluß enthaltene vorläufige Annahme zu zerstreuen, daß nicht erst die Ablehnung eines Vollstreckungsaufschubes nach § 6 Abs 2 FrPG, sondern schon die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nach § 3 FrPG in das durch Art 8 MRK gewährleistete Recht eingreifen kann. Durch ein Aufenthaltsverbot wird nämlich dem Fremden der weitere Aufenthalt im gesamten Bundesgebiet, allenfalls in bestimmten Teilen des Bundesgebietes (§4 FrPG), untersagt und ihm geboten, das Gebiet, in dem ihm der Aufenthalt verboten ist, innerhalb einer Woche nach Rechtskraft des Bescheides zu verlassen (§6 Abs 1 FrPG). Dies kann etwa den Zwang in sich schließen, sich von seinen in Österreich lebenden Familienangehörigen zu trennen; damit könnte eine vom Begriff "Familienleben" iS des Art 8 MRK erfaßte zwischenmenschliche Beziehung wesentlich gestört werden (vgl. hiezu die jüngere Judikatur der EKMR, zB EuGRZ 1983, 215 f., 423 f.; s. auch das Urteil des EGMR im Fall Abdulaziz, EuGRZ 1985, 567 ff., insbesondere § 65); zum Begriff "Familienleben" vgl. zB Urteil des EGMR im Fall Marckx, EuGRZ 1979, 454 ff., EKMR , EuGRZ 1977, 499). Ein Aufenthaltsverbot kann unter Umständen auch einen Eingriff in das Privatleben iS des Art 8 MRK bedeuten, etwa wenn ein Fremder jahrelang in Österreich gelebt hat und hier völlig integriert ist.

c) § 3 (allenfalls iVm. § 4) FrPG sieht also Maßnahmen vor, die geeignet sind, in die durch Art 8 Abs 1 MRK geschützten Güter einzugreifen.

Ein solcher Eingriff ist nur unter den im Art 8 Abs 2 MRK genannten Voraussetzungen zulässig. In formeller Hinsicht verlangt diese Verfassungsbestimmung, daß der Eingriff gesetzlich vorgesehen ist ("is in accordance with the law"; "est prevue par la loi"). In materieller Hinsicht muß der Eingriff ein Ziel haben, das nach Art 8 Abs 2 MRK gerechtfertigt ist; er muß zur Erreichung dieses Zieles "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sein (vgl. zB die Urteile des EGMR in den Fällen Sunday Times und Silver, EuGRZ 1979, 387 und 1984, 149).

Wenn ein Gesetz eine Maßnahme - wie hier ein Aufenthaltsverbot - vorsieht, die nicht bloß zufällig und ausnahmsweise, sondern geradezu in der Regel in das Familienleben, vielfach auch in das Privatleben, eingreift, wenn also der Effekt des Gesetzes (mag dies auch gar nicht intendiert sein) in besonderer Nähe zum Eingriff in das Grundrecht steht (vgl. hiezu , S 7, betreffend Art 17a StGG), so muß der Eingriffstatbestand besonders deutlich umschrieben sein. Bei weniger eingriffsnahen Gesetzen kann es durchaus hinreichen, das Gesetz der MRK entsprechend auszulegen oder auch die den materiellen Gesetzesvorbehalt umschreibende Konventionsbestimmung als innerstaatlich unmittelbar anwendbares (zusätzlich zum Gesetz geltendes) Recht anzuwenden. Diese Position bezog im übrigen der VfGH auch in seiner bisherigen Judikatur zu § 3 FrPG (VfSlg. 8792/1980, 9028/1981, 9029/1981). Er ging hiebei allerdings nicht auf die spezifische Nähe dieser Bestimmung zu einem Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben (Art8 MRK) ein und meinte deshalb, § 3 FrPG verfassungskonform interpretieren zu können.

Bei einer Bedachtnahme auf die wegen der spezifischen Eingriffsnähe erforderliche besondere Strenge, mit der dem Auftrag des § 8 Abs 2 MRK nachzukommen ist, den Eingriff "gesetzlich vorzusehen", stellt sich jedoch heraus, daß diese Meinung nicht länger aufrechterhalten werden kann:

d) Was unter "gesetzlich" iS des Art 8 Abs 2 MRK zu verstehen ist, ergibt sich aus dem Rechtssystem des Vertragsstaates (vgl. das Urteil des EGMR im Fall Sunday Times, EuGRZ 1979, 387). In Österreich müssen dem Art 18 B-VG zufolge die Eingriffsmöglichkeiten in einer - ausreichend kundgemachten - auf Gesetzesstufe stehenden Norm (also insbesondere einem Gesetz im formellen Sinn oder einem Staatsvertrag iS des Art 50 B-VG) vorgesehen sein.

Das den Grundrechtseingriff erlaubende Gesetz muß das Verhalten der Behörde derart ausreichend vorausbestimmen, daß dieses für den Normadressaten vorausberechenbar ist und die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes in der Lage sind, die Übereinstimmung des Verwaltungsaktes mit dem Gesetz zu überprüfen (vgl. die ständige Rechtsprechung des VfGH zu Art 18 B-VG, zB VfSlg. 8792/1980, 8802/1980, 9609/1983, 9720/1983) oder - wie dies der EGMR in dem (ua.) zu Art 8 MRK ergangenen Urteil im Fall Silver, EuGRZ 1984, 150, ausgedrückt hat - das Gesetz muß so präzise formuliert sein, daß der Bürger sein Verhalten danach einrichten kann; er muß - gegebenenfalls aufgrund entsprechender Beratung - in der Lage sein, die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewißheit zu erkennen. Daß damit grundsätzlich weder ausgeschlossen wird, der Behörde ein Ermessen einzuräumen, noch sogenannte unbestimmte Rechtsbegriffe zu verwenden, ist in der ständigen Judikatur des VfGH zu Art 18 B-VG (zB VfSlg. 8792/1980; 9627/1983, 9665/1983) festgehalten und wird auch vom EGMR in der Rechtsprechung zu Art 8 MRK (s. zB den Fall Silver, aaO, S 150) zugestanden. Ein eingriffsnahes Gesetz (s. die vorstehende litc), wie etwa Bestimmungen über das Aufenthaltsverbot, muß deutlich die Eingriffsschranken, wie sie die MRK (hier Art 8 Abs 2) vorschreibt, erkennen lassen. Es muß also mit der soeben dargelegten Bestimmtheit zu erkennen geben, unter welchen Voraussetzungen das Aufenthaltsverbot ohne jede Rücksichtnahme auf familiäre Beziehungen des Fremden verhängt werden darf - was Art 8 MRK keineswegs ausschließt - und unter welchen anderen Voraussetzungen bei Erlassung eines Aufenthaltsverbotes die aufgrund des jeweiligen Tatbestandes zu erwartenden öffentlichen Interessen daran, daß der Fremde das Bundesgebiet verläßt, gegen die familiären (allenfalls auch privaten) Interessen am Verbleib des Fremden in Österreich gegeneinander abzuwägen sind (wobei das Gesetz die jeweiligen Grundsätze für diese Interessenabwägung festlegen und dabei auf eine angemessene Verhältnismäßigkeit Bedacht nehmen muß; vgl. Urteil des EGMR im Fall Silver, aaO S 152 - § 97c).

Diesen Voraussetzungen entsprechen die geltenden Bestimmungen über das Aufenthaltsverbot nicht. Der Abs 1 des § 3 FrPG umschreibt in Form einer weitmaschigen Generalklausel die Voraussetzungen für eine solche Ausnahme. Die Intensität des öffentlichen Interesses am Aufenthaltsverbot ist bei den einzelnen Tatbeständen des Abs 2 dieser Gesetzesbestimmung völlig verschieden. Wird vor diesem Hintergrund Art 8 Abs 2 MRK als unmittelbar anzuwendende Vorschrift iZm. dem - bereits früher erlassenen - § 3 FrPG gelesen, so ergibt sich kein Normenkomplex, der die Eingriffstatbestände auf eine den vorstehenden Anforderungen genügende Weise umschreibt.

e) Die im Einleitungsbeschluß geäußerten Bedenken haben sich sohin als zutreffend erwiesen. Die Äußerung der Bundesregierung war nicht geeignet, die Bedenken zu entkräften.

§3 FrPG steht in Widerspruch zu Art 8 MRK und zu Art 18 B-VG und ist deshalb als verfassungswidrig aufzuheben.

3. Der zweite und dritte Abs. des Spruches gründen sich auf Art 140 Abs 5 und 6 B-VG.

Der vorletzte Abs. des Spruches beruht auf Art 140 Abs 7 zweiter Satz B-VG.