VfGH vom 24.11.2015, G255/2015 ua
Leitsatz
Abweisung weiterer Anträge auf Aufhebung von Bestimmungen des Sicherheitspolizeigesetzes betreffend die Normierung der Verwaltungsgerichte als Einbringungsstelle für Richtlinienbeschwerden wegen Verstoßes gegen das "Kodifikationsgebot" im VwGVG; auch neues Bedenken im Hinblick auf die Ermächtigung des Materiengesetzgebers zu einer abweichenden Verfahrensregelung nicht zutreffend
Spruch
I. Die Anträge werden zurückgewiesen, soweit sie die Aufhebung des § 89 Abs 4 des Sicherheitspolizeigesetzes – SPG, BGBl Nr 566/1991 idF BGBl I Nr 161/2013, wegen Verfassungswidrigkeit begehren.
II. Im Übrigen werden die Anträge abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Anträge
Mit den vorliegenden, auf Art 140 Abs 1 Z 1 lita B VG gestützten Anträgen begehrt das Verwaltungsgericht Wien, § 89 Abs 1, die Wortfolge ", wenn auch beim Landesverwaltungsgericht (Abs1)," in § 89 Abs 2 und § 89 Abs 4 des Sicherheitspolizeigesetzes – SPG, BGBl 566/1991 idF des Verwaltungsgerichtsbarkeits- Anpassungsgesetzes-Inneres – VwGAnpG-Inneres, BGBl I 161/2013, (im Folgenden: SPG) als verfassungswidrig aufzuheben.
II. Rechtslage
Die im vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar (die angefochtenen Gesetzesbestimmungen sind hervorgehoben):
Art136 B VG idF BGBl I 51/2012 lautet:
"(1) Die Organisation der Verwaltungsgerichte der Länder wird durch Landesgesetz geregelt, die Organisation der Verwaltungsgerichte des Bundes durch Bundesgesetz.
(2) Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Verwaltungsgerichtes des Bundes für Finanzen wird durch ein besonderes Bundesgesetz einheitlich geregelt. Der Bund hat den Ländern Gelegenheit zu geben, an der Vorbereitung solcher Gesetzesvorhaben mitzuwirken. Durch Bundes- oder Landesgesetz können Regelungen über das Verfahren der Verwaltungsgerichte getroffen werden, wenn sie zur Regelung des Gegenstandes erforderlich sind oder soweit das im ersten Satz genannte besondere Bundesgesetz dazu ermächtigt.
(3) bis (5) […]"
§89 Sicherheitspolizeigesetz – SPG, BGBl 566/1991 idF BGBl I 161/2013, lautet:
"Beschwerden wegen Verletzung von Richtlinien für das Einschreiten
§89. (1) Insoweit mit einer Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht die Verletzung einer gemäß § 31 festgelegten Richtlinie behauptet wird, hat das Landesverwaltungsgericht sie der zur Behandlung einer Aufsichtsbeschwerde in dieser Sache zuständigen Behörde zuzuleiten.
(2) Menschen, die in einer binnen sechs Wochen, wenn auch beim Landesverwaltungsgericht (Abs1), eingebrachten Aufsichtsbeschwerde behaupten, beim Einschreiten eines Organs des öffentlichen Sicherheitsdienstes, von dem sie betroffen waren, sei eine gemäß § 31 erlassene Richtlinie verletzt worden, haben Anspruch darauf, daß ihnen die Dienstaufsichtsbehörde den von ihr schließlich in diesem Punkte als erwiesen angenommenen Sachverhalt mitteilt und sich hiebei zur Frage äußert, ob eine Verletzung vorliegt.
(3) Wenn dies dem Interesse des Beschwerdeführers dient, einen Vorfall zur Sprache zu bringen, kann die Dienstaufsichtsbehörde eine auf die Behauptung einer Richtlinienverletzung beschränkte Beschwerde zum Anlaß nehmen, eine außerhalb der Dienstaufsicht erfolgende Aussprache des Beschwerdeführers mit dem von der Beschwerde betroffenen Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes zu ermöglichen. Von einer Mitteilung (Abs2) kann insoweit Abstand genommen werden, als der Beschwerdeführer schriftlich oder niederschriftlich erklärt, klaglos gestellt worden zu sein.
(4) Jeder, dem gemäß Abs 2 mitgeteilt wurde, daß die Verletzung einer Richtlinie nicht festgestellt worden sei, hat das Recht, binnen 14 Tagen die Entscheidung des Landesverwaltungsgerichts zu verlangen, in dessen Sprengel das Organ eingeschritten ist; dasselbe gilt, wenn eine solche Mitteilung (Abs2) nicht binnen drei Monaten nach Einbringung der Aufsichtsbeschwerde ergeht. Das Landesverwaltungsgericht hat festzustellen, ob eine Richtlinie verletzt worden ist. "
§17 und § 53 des Bundesgesetzes über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl I 33/2013, lauten:
"Verfahren vor dem Verwaltungsgericht
Anzuwendendes Recht
§17. Soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, sind auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art 130 Abs 1 B VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl Nr 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl Nr 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl Nr 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Verfahren über Beschwerden wegen Rechtswidrigkeit eines Verhaltens einer Behörde in Vollziehung der Gesetze
§53. Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, sind auf Verfahren über Beschwerden wegen Rechtswidrigkeit eines Verhaltens einer Behörde in Vollziehung der Gesetze gemäß Art 130 Abs 2 Z 1 B VG die Bestimmungen über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt sinngemäß anzuwenden."
§6 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG), BGBl 51/1991, lautet:
"(1) Die Behörde hat ihre sachliche und örtliche Zuständigkeit von Amts wegen wahrzunehmen; langen bei ihr Anbringen ein, zu deren Behandlung sie nicht zuständig ist, so hat sie diese ohne unnötigen Aufschub auf Gefahr des Einschreiters an die zuständige Stelle weiterzuleiten oder den Einschreiter an diese zu weisen.
(2) […]"
III. Antragsvorbringen
1. In den Anlassverfahren vor dem Verwaltungsgericht Wien sind Beschwerden anhängig, in denen behauptet wird, dass Exekutivorgane der Landespolizeidirektion Wien eine gemäß § 31 SPG (BGBl 566/1991) festgelegte Richtlinie verletzt hätten, als sie den Beschwerdeführer des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht wegen Übertretung des § 23 Abs 2 StVO (vorschriftswidriges Halten) angezeigt hätten (G255/2015) bzw. als sie die Beschwerdeführer wegen einer behaupteten Ruhestörung in ihrer Wohnung aufgesucht hätten (G328/2015 und G329/2015).
Aus Anlass dieser Beschwerden stellte das Verwaltungsgericht Wien den Antrag, § 89 Abs 1, eine in Pkt. I. bezeichnete Wortfolge in Abs 2 und Abs 4 SPG aufzuheben. Es hegt – wie bereits in den zu G193/2014 protokollierten Anträgen des Verwaltungsgerichtes Wien – das Bedenken, dass Art 14 Z 14 VwGAnpG-Inneres, mit dem § 89 SPG novelliert worden sei, ohne Zustimmung der Länder kundgemacht worden sei. Nach Art 130 Abs 2 letzter Satz B VG dürften Bundesgesetze, die Verwaltungsgerichte zur Entscheidung über Beschwerden wegen Rechtswidrigkeit eines Verhaltens einer Verwaltungsbehörde zuständig machten, in Angelegenheiten wie der Sicherheitsverwaltung, die nicht unmittelbar von Bundesbehörden besorgt werden würden, nur mit Zustimmung der Länder kundgemacht werden.
Als weiteres (neues) Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 89 Abs 1 und 2 SPG bringt das Verwaltungsgericht Wien vor, dass § 89 Abs 1 und 2 SPG dem Art 136 Abs 2 B VG widerspreche. § 89 Abs 1 SPG lege fest, dass eine Beschwerde, in der die Verletzung einer gemäß § 31 SPG festgelegten Richtlinie behauptet wird, nicht nur bei der Dienstaufsichtsbehörde, sondern auch beim Landesverwaltungsgericht eingebracht werden könne. Daraus ergebe sich, dass die Zuleitung einer beim Landesverwaltungsgericht eingebrachten Aufsichtsbeschwerde an die Dienstaufsichtsbehörde auch dann fristwahrend sei, wenn die Beschwerde nach Ablauf der sechswöchigen Beschwerdefrist bei der Dienstaufsichtsbehörde eingelangt sei. Da dies von § 6 AVG, der über § 17 (iVm § 53) VwGVG auf das Verfahren der Verwaltungsgerichte anwendbar sei, abweiche – dort erfolge die Weiterleitung der Beschwerde an die zuständige Stelle auf Gefahr des Einschreiters –, liege eine eigenständige Regelung des Verfahrens der Verwaltungsgerichte vor, die "auf Grund des Kodifikationsgebotes" im VwGVG getroffen werden müsste. Zudem sei den Ländern keine Gelegenheit zur Mitwirkung an der Vorbereitung des § 89 Abs 1 und 2 SPG gegeben worden.
2. Diesem Bedenken des Verwaltungsgerichtes Wien hält die Bundesregierung in ihrer zu G255/2015 erstatteten Äußerung entgegen, dass § 89 Abs 1 SPG gar keine Regelung über die Einbringung bei einer unzuständigen Behörde sei und deshalb von § 6 AVG nicht abweiche. Aber selbst wenn man § 89 Abs 1 und 2 SPG als abweichende Regelung über das Verfahren der Verwaltungsgerichte ansehe, wäre eine solche Regelung nicht schon deshalb verfassungswidrig, weil sie nicht im VwGVG enthalten sei.
Deute man § 89 Abs 1 und 2 SPG als Verfahrensregel, so die Bundesregierung weiter, sei die dort vorgesehene Möglichkeit der fristwahrenden Einbringung einer Dienstaufsichtsbeschwerde (auch) bei den Landesverwaltungsgerichten im Sinne des Art 136 Abs 2 letzter Satz B VG zur Regelung des Gegenstandes erforderlich: Denn ein und dasselbe Verhalten eines Organs des öffentlichen Sicherheitsdienstes könne gleichzeitig sowohl gemäß § 88 SPG als Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt als auch nach § 89 SPG als Richtlinienverletzung in Beschwerde gezogen werden. § 89 SPG ermögliche es, beide Beschwerden unter einem beim Landesverwaltungsgericht einzubringen, ohne dass den Beschwerdeführer hinsichtlich der Dienstaufsichtsbeschwerde die Gefahr des Fristversäumnisses treffe. Eine solche Regelung liege im Interesse des Beschwerdeführers und gewährleiste einen niederschwelligen Zugang zum Rechtsschutz im Bereich der polizeilichen Befugnisausübung.
Zuletzt hält die Bundesregierung dem Verwaltungsgericht Wien entgegen, dass Art 136 Abs 2 B VG keine Mitwirkung der Länder an erforderlichen abweichenden Regelungen über das Verfahren der Verwaltungsgerichte in Bundes- oder Landesgesetzen vorsehe. Die Mitwirkung der Länder in Art 136 Abs 2 B VG beziehe sich nämlich lediglich auf Gesetzesvorhaben betreffend das besondere Bundesgesetz zur Regelung des Verfahrens der Verwaltungsgerichte.
IV. Erwägungen
Der Verfassungsgerichtshof hat über die in sinngemäßer Anwendung der §§187 und 404 ZPO iVm § 35 VfGG zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen Anträge erwogen:
1. Zur Zulässigkeit der Anträge
1.1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art 139 Abs 1 Z 1 B VG bzw. des Art 140 Abs 1 Z 1 lita B VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl. etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).
Die Grenzen der Aufhebung einer auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfenden Gesetzesbestimmung sind, wie der Verfassungsgerichtshof sowohl für von Amts wegen als auch für auf Antrag eingeleitete Gesetzesprüfungsverfahren schon wiederholt dargelegt hat (VfSlg 13.965/1994 mwN, 16.542/2002, 16.911/2003), notwendig so zu ziehen, dass einerseits der verbleibende Gesetzesteil nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und dass andererseits die mit der aufzuhebenden Gesetzesstelle untrennbar zusammenhängenden Bestimmungen auch erfasst werden.
Dieser Grundposition folgend, hat der Gerichtshof die Rechtsauffassung entwickelt, dass im Gesetzesprüfungsverfahren der Anfechtungsumfang der in Prüfung gezogenen Norm bei sonstiger Unzulässigkeit des Prüfungsantrages nicht zu eng gewählt werden darf (vgl. zB VfSlg 8155/1977, 12.235/1989, 13.915/1994, 14.131/1995, 14.498/1996, 14.890/1997, 16.212/2001).
In den vorliegenden Anträgen ist der Anfechtungsumfang nicht zu eng gewählt.
Auch ist die Anwendung des § 89 Abs 1 und 2 SPG durch das Verwaltungsgericht Wien denkmöglich, da in den verwaltungsgerichtlichen Verfahren Beschwerden nach § 89 Abs 1 SPG eingebracht wurden, in denen eine Richtlinienverletzung durch das Verhalten von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes behauptet wird. Abs 4 des § 89 SPG ist hingegen vom Verwaltungsgericht Wien (noch) nicht anzuwenden, da im Zeitpunkt der Anträge beim Verfassungsgerichtshof in den den Anträgen zugrunde liegenden Verfahren noch kein Entscheidungsverlangen gemäß Abs 4 des § 89 SPG vorlag, weshalb dieser Absatz (offenkundig) noch nicht präjudiziell ist.
Mangelnde Präjudizialität einzelner Bestimmungen führt allerdings nicht zur Zurückweisung des Antrages zur Gänze. Eine zu weite Fassung des Antrages macht diesen nämlich nicht in jedem Fall unzulässig. Soweit der Antrag nur Normen erfasst, die präjudiziell sind oder mit solchen untrennbar zusammenhängen, führt dies, ist der Antrag in der Sache begründet, im Fall der Aufhebung nur eines Teils der angefochtenen Bestimmungen im Übrigen zur partiellen Abweisung des Antrages (VfSlg 19.746/2013; ua.). Umfasst der Antrag auch Bestimmungen, die für das antragstellende Gericht offenkundig nicht präjudiziell sind, führt dies – wenn die angefochtenen Bestimmungen insoweit offensichtlich trennbar sind – im Hinblick auf diese Bestimmungen zur teilweisen Zurückweisung des Antrages ().
Die Anträge sind daher nur insoweit zurückzuweisen, als sie die Aufhebung des Abs 4 des § 89 SPG wegen Verfassungswidrigkeit begehren.
1.2. Soweit in den Anträgen die Aufhebung des Abs 1 und des Abs 2 des § 89 SPG wegen Verfassungswidrigkeit begehrt wird, erweisen sie sich als zulässig. Der Zulässigkeit der Anträge steht auch nicht das Vorerkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , G193/2014 ua., entgegen, da das Prozesshindernis der entschiedenen Sache nicht besteht.
Entschiedene Sache liegt zwischen einem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes und einem neuen Gesetzesprüfungsantrag nämlich nur vor, wenn zum einen die seinerzeit geprüfte Norm mit der nunmehr zur Prüfung gestellten Norm ident ist (vgl. hiezu zB VfSlg 11.646/1988, 12.784/1991) und zum anderen über das im neuen Antrag vorgetragene Bedenken vom Verfassungsgerichtshof bereits in einem Vorerkenntnis abgesprochen wurde (zur Zulässigkeit einer neuerlichen Sachentscheidung ob bisher nicht behandelter Bedenken vgl. zB VfSlg 10.841/1986, 11.259/1987, 13.179/1992).
Zwar ist die im zu G193/2014 protokollierten Antrag geprüfte Norm mit der nunmehr zur Prüfung gestellten Norm ident und auch das vom antragstellenden Gericht vorgebrachte Bedenken der fehlenden Zustimmung der Länder nach Art 130 Abs 2 letzter Satz B VG (s. Pkt. III.1.) stimmt mit jenem überein, über das bereits im Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , G193/2014 ua., mit einer Abweisung des damaligen Antrages abgesprochen wurde. Da in den vorliegenden Anträgen jedoch ein weiteres Bedenken geltend gemacht wird, nämlich dass § 89 Abs 1 und Abs 2 SPG dem Art 136 Abs 2 B VG nicht entspreche, über das noch nicht abgesprochen wurde, steht den Anträgen nicht das Prozesshindernis der entschiedenen Sache entgegen (vgl. ua.).
Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweisen sich die Anträge, soweit sie die Aufhebung des § 89 Abs 1 und Abs 2 SPG begehren, als zulässig.
2. In der Sache
2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art 140 B VG auf die Erörterung der aufgeworfenen Fragen zu beschränken (vgl. VfSlg 12.691/1991, 13.471/1993, 14.895/1997, 16.824/2003). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen verfassungswidrig ist (VfSlg 15.193/1998, 16.374/2001, 16.538/2002, 16.929/2003).
Wie bereits in Pkt. IV.1.2. ausgesprochen, hat der Verfassungsgerichtshof über das Bedenken der fehlenden Zustimmung der Länder nach Art 130 Abs 2 letzter Satz B VG bereits im Erkenntnis vom , G193/2014 ua., abgesprochen. Dem Verfassungsgerichtshof ist es somit verwehrt, auf dieses Bedenken neuerlich einzugehen (vgl. ua., mwN).
2.2. Das Verwaltungsgericht Wien hegt jedoch zudem das weitere und neue Bedenken, dass § 89 Abs 1 und 2 SPG eine eigenständige Regelung des Verfahrens der Verwaltungsgerichte enthalte; diese sei eine vom AVG abweichende Regelung, die als eine "eigenständige Regelung des Verfahrens der Verwaltungsgerichte" zu beurteilen sei, auf die das verfassungsrechtliche Gebot des Art 136 Abs 2 B VG anzuwenden sei. Allein der Umstand, dass diese Verpflichtung zur (fristwahrenden) Weiterleitung nicht im VwGVG, sondern im SPG geregelt wurde, widerspreche – so scheint das antragstellende Gericht zu meinen – dem "Kodifikationsgebot" des Art 136 Abs 2 B VG. Des Weiteren habe der Bund als zuständiger Gesetzgeber des Verfahrens der Verwaltungsgerichte den Ländern entgegen Art 136 Abs 2 zweiter Satz B VG keine Gelegenheit gegeben, an der Vorbereitung des § 89 Abs 1 und 2 SPG mitzuwirken.
Die Bedenken des Verwaltungsgerichtes Wien treffen nicht zu:
Die Frage nach dem "Kodifikationsgebot" stellt sich schon deshalb nicht, weil es sich um eine abweichende Verfahrensregelung handelt, die nicht im VwGVG zu erlassen ist. Verfassungsrechtlich relevant ist, ob die nicht im VwGVG enthaltene Verfahrensregel entweder zur Regelung des Gegenstandes nach Art 136 Abs 2 letzter Satz 1. Alt. B VG erforderlich ist oder das VwGVG selbst den Materiengesetzgeber zu einer Regelung gemäß Art 136 Abs 2 letzter Satz 2. Alt. B VG ermächtigt (vgl. ua.).
Genau dies trifft hier zu: § 53 VwGVG, der im 3. Abschnitt des 3. Hauptstückes des VwGVG (allein) das Verfahren über Beschwerden wegen Rechtswidrigkeit eines Verhaltens einer Behörde nach Art 130 Abs 2 Z 1 B VG regelt und sich diesbezüglich in einem Verweis auf die Bestimmungen über Beschwerden gegen unmittelbare verwaltungsbehördliche Befehls- und Zwangsgewalt erschöpft ("sinngemäße Anwendung"), steht unter dem Vorbehalt "[s]oweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist". Das SPG als Bundesgesetz enthält mit § 89 Abs 1 und 2 SPG jedoch eine solche "andere" Bestimmung. Schon deshalb ist auf die Frage, ob die Normierung der Verwaltungsgerichte als Einbringungsstelle gemäß § 89 Abs 1 und 2 SPG "erforderlich" ist, nicht mehr einzugehen, da das VwGVG selbst im Sinne des Art 136 Abs 2 letzter Satz 2. Alt. B VG im Wege des § 53 VwGVG den Materiengesetzgeber des SPG ermächtigt, dies abweichend zu regeln. Die diesbezüglichen Bedenken gehen sohin ins Leere.
Auch das Bedenken, der Bund hätte es verabsäumt, den Ländern Gelegenheit zu geben, an der Vorbereitung des § 89 Abs 1 und 2 SPG mitzuwirken, trifft nicht zu. Dies schon deshalb, weil sich das Mitwirkungsrecht der Länder gemäß Art 136 Abs 2 zweiter Satz B VG lediglich auf die Vorbereitung des besonderen Bundesgesetzes, des VwGVG, bezieht.
§89 Abs 1 und 2 SPG begegnen daher auch aus den neu vorgebrachten Gründen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
2.3. Da die zu G328/2015 und G329/2015 protokollierten Anträge dem zu G255/2015 protokollierten Antrag gleichen, hat der Verfassungsgerichtshof gemäß § 19 Abs 3 Z 4 VfGG davon abgesehen, ein weiteres Verfahren in diesen Rechtssachen durchzuführen. Dies erfolgt im Hinblick darauf, dass die in den Verfahren über die Anträge zu G328/2015 und G329/2015 aufgeworfenen Rechtsfragen durch die Entscheidung über den Antrag zu G255/2015 bereits geklärt werden.
V. Ergebnis
Die Anträge des Verwaltungsgerichtes Wien sind zurückzuweisen, soweit sie die Aufhebung des § 89 Abs 4 SPG wegen Verfassungswidrigkeit begehren.
Die Anträge des Verwaltungsgerichtes Wien sind abzuweisen, soweit sie die Aufhebung des § 89 Abs 1 und 2 SPG wegen Verfassungswidrigkeit begehren.
Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 3 Z 4 und § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
European Case Law Identifier
ECLI:AT:VFGH:2015:G255.2015