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VfGH vom 27.06.2008, G246/07

VfGH vom 27.06.2008, G246/07

Sammlungsnummer

18517

Leitsatz

Verfassungswidrigkeit von Bestimmungen im Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz betreffend die Erteilung von Aufenthaltstiteln aus humanitären Gründen lediglich von Amts wegen; Aufhebung aus rechtsstaatlichen Erwägungen mangels eines Antragsrechtes des in seinen Rechten betroffenen Fremden; keine Bedenken gegen eine Ausnahme vom Grundsatz der Auslandsantragstellung und die Zustimmungsbefugnis des Innenministers zur Erteilung humanitärer Aufenthaltstitel; Fristsetzung für das Außer-Kraft-Treten

Spruch

I. In den §§72 Abs 1, 73 Abs 2 und 73 Abs 3 des Bundesgesetzes über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG), BGBl. I 100/2005, wird jeweils die Wortfolge "von Amts wegen" als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebungen treten mit Ablauf des in Kraft.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Kraft.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.

II. Der Antrag der Oberösterreichischen Landesregierung auf Aufhebung des § 72 Abs 1 zweiter Satz NAG wird zurückgewiesen.

III. Die Anträge der Oberösterreichischen Landesregierung auf Aufhebung der Wortfolge "von Amts wegen" in § 74 NAG sowie auf Aufhebung des § 75 NAG werden abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Zur Rechtslage:

Die maßgeblichen Bestimmungen des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (im Folgenden: NAG) lauten (die in Prüfung gezogenen bzw. angefochtenen Wortfolgen sind hervorgehoben):

"4. Hauptstück

Allgemeine Voraussetzungen

Allgemeine Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel

§11. (1) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nicht erteilt werden, wenn


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1.
gegen ihn ein aufrechtes Aufenthaltsverbot gemäß § 60 FPG besteht;


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2.
gegen ihn ein Aufenthaltsverbot eines anderen EWR-Staates besteht;


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3.
gegen ihn in den letzten zwölf Monaten eine Ausweisung gemäß § 54 FPG oder § 10 AsylG 2005 rechtskräftig erlassen wurde;


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4.
eine Aufenthaltsehe oder Aufenthaltsadoption (§30 Abs 1 oder 2) vorliegt;


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5.
eine Überschreitung der Dauer des erlaubten sichtvermerksfreien Aufenthalts im Zusammenhang mit § 21 Abs 4 vorliegt oder


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6.
er in den letzten zwölf Monaten wegen Umgehung der Grenzkontrolle oder nicht rechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet rechtskräftig bestraft wurde.

(2) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nur erteilt werden, wenn


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1.
der Aufenthalt des Fremden nicht öffentlichen Interessen widerstreitet;


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2.
der Fremde einen Rechtsanspruch auf eine Unterkunft nachweist, die für eine vergleichbar große Familie als ortsüblich angesehen wird;


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3.
der Fremde über einen alle Risken abdeckenden Krankenversicherungsschutz verfügt und diese Versicherung in Österreich auch leistungspflichtig ist;


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4.
der Aufenthalt des Fremden zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte;


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5.
durch die Erteilung eines Aufenthaltstitels die Beziehungen der Republik Österreich zu einem anderen Staat oder einem anderen Völkerrechtssubjekt nicht wesentlich beeinträchtigt werden, und


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6.
der Fremde im Fall eines Verlängerungsantrages (§24) die Integrationsvereinbarung nach § 14 oder ein einzelnes Modul bereits erfüllt hat, soweit er bereits ein Jahr niedergelassen war und ihm kein Aufschub gemäß § 14 Abs 8 gewährt wurde.

(3) Ein Aufenthaltstitel kann trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß Abs 2 Z 1 bis 6 erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- oder Familienlebens im Sinne des Art 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, geboten ist.

(4) - (7) (...)

7. Hauptstück

Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen

Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen

§72. (1) Die Behörde kann im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses (§11 Abs 1), ausgenommen bei Vorliegen eines Aufenthaltsverbotes (§11 Abs 1 Z 1 und 2), in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen aus humanitären Gründen von Amts wegen eine Aufenthaltsbewilligung erteilen. Besonders berücksichtigungswürdige Gründe liegen insbesondere vor, wenn der Drittstaatsangehörige einer Gefahr gemäß § 50 FPG ausgesetzt ist. Drittstaatsangehörigen, die ihre Heimat als Opfer eines bewaffneten Konflikts verlassen haben, darf eine solche Aufenthaltsbewilligung nur für die voraussichtliche Dauer dieses Konfliktes, höchstens jedoch für drei Monate, erteilt werden.

(2) Zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen Handlungen kann Drittstaatsangehörigen, insbesondere Zeugen oder Opfern von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel, eine Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen für die erforderliche Dauer, mindestens jedoch für sechs Monate, erteilt werden.

Niederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen

§73. (1) Die Behörde kann Drittstaatsangehörigen bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 72 eine 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' oder eine 'Niederlassungsbewilligung - ausgenommen Erwerbstätigkeit' erteilen. Die Bestimmungen über die Quotenpflicht finden keine Anwendung.

(2) Aus humanitären Gründen kann von Amts wegen eine 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' erteilt werden, wenn


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1.
der Fremde die Integrationsvereinbarung (§14) erfüllt hat und


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2.
im Fall einer unselbständigen Erwerbstätigkeit eine Berechtigung nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz vorliegt.

(3) Aus humanitären Gründen kann von Amts wegen eine 'Niederlassungsbewilligung - ausgenommen Erwerbstätigkeit' erteilt werden, wenn der Fremde die Integrationsvereinbarung (§14) erfüllt hat.

(4) Soll aus humanitären Gründen eine 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' im Fall einer Familienzusammenführung (§46 Abs 4) erteilt werden, hat die Behörde auch über einen gesonderten Antrag als Vorfrage zur Prüfung humanitärer Gründe (§72) zu entscheiden und gesondert über diesen abzusprechen, wenn dem Antrag nicht Rechnung getragen wird. Ein solcher Antrag ist nur zulässig, wenn gleichzeitig ein Antrag in der Hauptfrage auf Familienzusammenführung eingebracht wird oder ein solcher bereits anhängig ist. Die Pflicht zur Erfüllung der Integrationsvereinbarung entfällt.

Inlandsantragstellung

§ 74. Die Behörde kann von Amts wegen die Inlandsantragstellung auf Erteilung eines Aufenthaltstitels oder die Heilung von sonstigen Verfahrensmängeln zulassen, wenn die Voraussetzungen des § 72 erfüllt werden.

Zustimmung zur Erteilung eines Aufenthaltstitels
aus humanitären Gründen

§ 75. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus humanitären Gründen nach §§72 bis 74 bedarf der Zustimmung des Bundesministers für Inneres.

Übergangsbestimmungen

§81. (1) Verfahren auf Erteilung von Aufenthalts- und Niederlassungsberechtigungen, die bei In-Kraft-Treten dieses Bundesgesetzes anhängig sind, sind nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes zu Ende zu führen.

(2) - (7) (...)"

Die §§72 - 75 NAG sind in der Stammfassung, BGBl. I 100/2005,

in Geltung. § 11 NAG wurde zuletzt mit BG BGBl. I 157/2005 geändert,

§81 leg.cit. mit BG BGBl. I 99/2006.

§ 50 Fremdenpolizeigesetz (im Folgenden: FPG), BGBl. I

100/2005, lautete:

"7. Hauptstück

Refoulementverbot

Verbot der Abschiebung, Zurückschiebung und Zurückweisung

§50. (1) Die Zurückweisung, die Hinderung an der Einreise, Zurückschiebung oder Abschiebung Fremder in einen Staat ist unzulässig, wenn dadurch Art 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.

(2) Die Zurückweisung oder Zurückschiebung Fremder in einen Staat oder die Hinderung an der Einreise aus einem Staat ist unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§11 AsylG 2005).

(3) Fremde, die sich auf eine der in Abs 1 oder 2 genannten Gefahren berufen, dürfen erst zurückgewiesen oder zurückgeschoben werden, nachdem sie Gelegenheit hatten, entgegenstehende Gründe darzulegen. Die Fremdenpolizeibehörde ist in diesen Fällen vor der Zurückweisung vom Sachverhalt in Kenntnis zu setzen und hat dann über die Zurückweisung zu entscheiden.

(4) Die Abschiebung Fremder in einen Staat, in dem sie zwar im Sinn des Abs 2 jedoch nicht im Sinn des Abs 1 bedroht sind, ist nur zulässig, wenn sie aus gewichtigen Gründen eine Gefahr für die Sicherheit der Republik darstellen oder wenn sie von einem inländischen Gericht wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt worden sind und wegen dieses strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft bedeuten (Art33 Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge).

(5) Das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß Abs 4 ist mit Bescheid festzustellen. Dies obliegt in jenen Fällen, in denen ein Antrag auf internationalen Schutz abgewiesen wird oder in denen Asyl aberkannt wird, den Asylbehörden, sonst der Sicherheitsdirektion.

(6) Die Abschiebung in einen Staat ist unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.

(7) Erweist sich die Zurückweisung, die Zurückschiebung oder Abschiebung Fremder, deren Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 wegen der Unzuständigkeit Österreichs zurückgewiesen worden ist, in den Drittstaat als nicht möglich, so ist hievon das Bundesasylamt unverzüglich in Kenntnis zu setzen.

(8) § 51 Abs 3, 1. Satz, gilt."

II. Zu den Anlassverfahren bzw. Anträgen:

1.1. Beim Verfassungsgerichtshof sind zu B215,216/07 und B375/07 Beschwerden gemäß Art 144 B-VG gegen Bescheide der Bundesministerin für Inneres vom bzw. des Bundesministers für Inneres vom anhängig.

In den zu B215,216/07 protokollierten Verfahren stellten die Beschwerdeführer Anträge auf Erteilung von humanitären Niederlassungsbewilligungen nach dem Fremdengesetz 1997 (im Folgenden: FrG 1997). Ihren Devolutionsanträgen wurde mit Bescheiden der (damaligen) Bundesministerin für Inneres vom stattgegeben und die Anträge auf Erteilung der Niederlassungsbewilligungen "aus humanitären Gründen" gemäß §§72, 73 und 81 NAG zurückgewiesen. Begründend wurde ausgeführt, dass eine Niederlassungsbewilligung "aus humanitären Gründen" gemäß § 73 Abs 2 NAG nur von Amts wegen erteilt werden könne. Für die Erteilung bedürfe es der Zustimmung der (damaligen) Bundesministerin für Inneres.

In dem zu B375/07 protokollierten Verfahren stellte die Beschwerdeführerin einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung "aus humanitären Gründen" gemäß § 72 Abs 1 NAG. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Landeshauptmannes von Kärnten vom als unzulässig zurückgewiesen. Die dagegen erhobene Berufung wurde mit Bescheid des Bundesministers für Inneres vom abgewiesen, weil die Antragstellung auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung "aus humanitären Gründen" gemäß dem Wortlaut des § 72 Abs 1 NAG gesetzlich nicht vorgesehen sei. Wie sich aus den Verwaltungsakten ergibt, wurde über die Beschwerdeführerin noch nie eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verhängt.

1.2. Aus Anlass der Behandlung dieser Beschwerden sind beim Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der Wortfolge "von Amts wegen" in den §§72 Abs 1 und 73 Abs 2 NAG entstanden. Der Gerichtshof hat daher mit Beschlüssen vom bzw. vom von Amts wegen Verfahren zur Prüfung der Verfassungskonformität dieser Wortfolge eingeleitet. Die Verfahren sind zu G246,247/07 und G273/07 protokolliert. Der Verfassungsgerichtshof ging davon aus, dass die Beschwerden zulässig sind, die belangte Behörde die in Prüfung gezogene Wortfolge anzuwenden hatte und auch er sie bei der Beurteilung der Beschwerden anzuwenden hätte.

1.3. Seine Bedenken begründete der Verfassungsgerichtshof in dem zu B215,216/07 protokollierten Prüfungsbeschluss - der im Wesentlichen mit dem Prüfungsbeschluss zu B375/07 gleich lautend ist - wie folgt:

"§73 Abs 2 NAG sieht anscheinend vor, dass eine humanitäre 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' ausschließlich von Amts wegen erteilt werden kann. Prinzipiell dürfte dem Grundsatz der Erteilung von humanitären Niederlassungsbewilligungen von Amts wegen nichts entgegenstehen, wenn davon nicht auch Fälle erfasst sind, bei denen ausnahmsweise ein aus Art 8 iVm 13 EMRK abzuleitender Rechtsanspruch auf Durchführung eines Verfahrens zur Erteilung einer Niederlassungsbewilligung besteht.

§ 73 Abs 4 NAG sieht - ähnlich wie das FrG 1997 und in Entsprechung des zuletzt genannten Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes [VfSlg. 17.013/2003] - die Möglichkeit vor, eine 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' aus humanitären Gründen in Fällen der Familienzusammenführung (§46 Abs 4 NAG) zu beantragen. Diese Regelung ist jedoch unter anderem auf Grund der Begriffsbestimmung des § 2 Abs 1 Z 9 NAG nur auf einen eng begrenzten Personenkreis, nämlich 'Ehegatte oder unverheiratetes minderjähriges Kind, einschließlich Adoptiv- oder Stiefkind', anwendbar.

2.3.3. Der Verfassungsgerichtshof ist vorläufig der Auffassung, dass es neben den Fällen der Familienzusammenführung, die nunmehr § 73 Abs 4 NAG berücksichtigt, auch andere Konstellationen geben kann, in denen zur Achtung des Privatlebens und zur Aufrechterhaltung des Familienlebens ein aus Art 8 iVm 13 EMRK abzuleitender Rechtsanspruch auf Durchführung eines Verfahrens zur Erteilung einer Niederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen bestehen muss.

Sowohl der Wortlaut des § 73 Abs 2 NAG ('von Amts wegen') als auch die Erläuterungen zur Regierungsvorlage zum NAG (952 BlgNR 22. GP) zeigen jedoch, dass die Behörde auch in Fällen, in denen die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung auf Grund des Art 8 EMRK geboten scheint, keine Möglichkeit hat, einen Antrag auf Erteilung einer humanitären Niederlassungsbewilligung zuzulassen. Durch die Beschränkung der Erteilung einer humanitären Niederlassungsbewilligung ausschließlich von Amts wegen wird in die Rechte der Betroffenen intensiv eingegriffen, da sie infolgedessen keine Möglichkeit haben dürften, auf das Verfahren Einfluss zu nehmen und ihre Rechte geltend zu machen.

Der Verfassungsgerichtshof hat das Bedenken, dass eine solche Regelung den Art 8 iVm 13 EMRK widersprechen dürfte. Nach der vorläufigen Auffassung des Gerichtshofes müsste nämlich einem potentiell Betroffenen - auch auf Grund der Verfahrensgarantien des Art 13 EMRK - die Möglichkeit eingeräumt sein, seine durch Art 8 EMRK gewährleisteten Rechte in einem - nicht nur von Amts wegen eingeleiteten - Verfahren geltend zu machen.

2.4. Der Gerichthof hegt vorläufig auch Bedenken im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip:

§ 73 Abs 2 iVm Abs 1 NAG stellt unter dem Aspekt humanitärer Gründe wesentlich auf individuelle bzw. persönliche Interessen der Rechtsschutzsuchenden ab, sieht aber gleichzeitig nicht die Möglichkeit vor, dass der einzelne Rechtsschutzsuchende diese Interessen als seine Rechte unabhängig vom Tätigwerden der Behörden von Amts wegen geltend machen kann. Nach der vorläufigen Ansicht des Verfassungsgerichtshofes ist es jedoch unzulässig, in diesen Fällen lediglich ein Tätigwerden der Behörden von Amts wegen vorzusehen und keine Antragstellung des - in seinen Rechten betroffenen - Einzelnen zuzulassen. Dem Verfassungsgerichtshof ist vorerst nicht ersichtlich, welche Gründe im Einzelfall dafür sprechen könnten, dass humanitäre Niederlassungsbewilligungen ausschließlich von Amts wegen auf Grund vffentlicher Interessen erteilt werden können. Auch ein allenfalls der Vollziehung vom Gesetzgeber eingeräumtes Ermessen bei der Erteilung humanitärer Aufenthaltstitel, gegen das für sich verfassungsrechtliche Bedenken nicht bestünden, bedürfte gemäß Art 130 Abs 2 B-VG der Kontrolle auf Ermessensfehler und damit einer entsprechenden Rechtsposition der Rechtsschutzsuchenden.

Der Verfassungsgerichtshof geht daher im Rahmen einer vorläufigen Beurteilung davon aus, dass es verfassungswidrig sein könnte, wenn der Gesetzgeber die Erteilung von Niederlassungsbewilligungen aus humanitären Gründen über den in § 73 Abs 4 NAG genannten Personenkreis hinaus lediglich von Amts wegen vorsieht."

2.1. Die Oberösterreichische Landesregierung stellte mit Beschluss vom den auf Art 140 Abs 1 B-VG gestützten Antrag,

"1. § 72 Abs 1 zweiter Satz NAG,

2. im § 72 Abs 1 erster Satz, § 73 Abs 2, § 73 Abs 3 und § 74 NAG jeweils die Wortfolge 'von Amts wegen',

in eventu im § 72 Abs 1 erster Satz, § 73 Abs 2 und § 73 Abs 3 NAG jeweils die Wortfolge 'von Amts wegen',

3. § 75 NAG,

jeweils BGBl. I Nr. 100/2005, als verfassungswidrig aufzuheben".

2.2. Die antragstellende Landesregierung hegt zunächst Bedenken gegen die Verfassungskonformität des § 72 Abs 1 zweiter Satz

NAG:

"§72 Abs 1 zweiter Satz NAG nimmt ... weder direkt noch

indirekt Bezug auf Art 8 EMRK. Der als Beispiel besonders berücksichtigungswürdiger Gründe vorrangig angeführte § 50 FPG verbietet (unter anderem) eine Zurückweisung oder Abschiebung Fremder in einen Staat, der eine ernsthafte Bedrohung für das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die Freiheit der Fremden darstellt (Refoulementverbot). § 50 Abs 1 FPG bezieht sich sogar ausdrücklich auf Art 2 EMRK (Recht auf Leben) und Art 3 EMRK (Folterverbot), womit diesen Konventionsrechten ausreichend entsprochen wird, nicht jedoch dem durch Art 8 EMRK gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Durch die einseitige Bezugnahme von § 72 Abs 1 zweiter Satz NAG auf § 50 FPG ergibt sich folgende Systematik: Bei der Beurteilung der Frage, ob die zur Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels erforderlichen berücksichtigungswürdigen Gründe vorliegen, wird bereits auf gesetzlicher Ebene verstärkt auf die Situation im Heimatstaat des Fremden Bedacht genommen; auf die rechtlich und tatsächlich nicht minder relevante Frage, wie die Situation im Aufnahmestaat des Fremden zu bewerten ist, wird durch das Fehlen jeglicher Bezugnahme auf Art 8 EMRK im § 72 Abs 1 zweiter Satz NAG überhaupt nicht eingegangen. Wie unter Abschnitt 3.3.1.1.2. dargestellt, gibt es zwischen dem Fremdenrecht, dem das Niederlassungs- und Aufenthaltsrecht als wesentlicher Teilbereich zugehört, und Art 8 EMRK zahlreiche Berührungspunkte, die eine entsprechende Erwähnung im Zusammenhang mit der Erteilung humanitärer Aufenthaltstitel erforderlich machen. Gerade das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens bietet Gründe, die als besonders berücksichtigungswürdig im Sinn von § 72 Abs 1 zweiter Satz NAG zu qualifizieren sind. Fehlt aber - wie bei der aktuellen Rechtslage - jeglicher Bezug zum Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, begünstigt der Gesetzgeber ungerechtfertigte staatliche Grundrechtseingriffe, die dem zentralen Zweck von Art 8 EMRK entsprechend jedoch vermieden werden müssen. Die vom Gesetzgeber vorgenommene Wertung entspricht somit nicht den Anforderungen des Art 8 EMRK.

Die Nichterwähnung von Art 8 EMRK führt dazu, dass § 72 Abs 1 zweiter Satz NAG inhaltlich unzureichend bestimmt ist. Die unter Abschnitt 3.3.1.1.1. dargestellten strengen Anforderungen des EGMR an die Qualität innerstaatlicher Gesetze gelten nicht nur für Gesetze, die intentional gegen ein Grundrecht gerichtet sind, sondern auch für jene Gesetze, mithilfe derer der Staat seinen positiven Handlungspflichten entspricht. § 72 Abs 1 erster Satz NAG sieht für Drittstaatsangehörige (dazu gehören gemäß § 2 Abs 1 Z. 6 NAG alle Fremden, die keine EWR-Bürger sind), denen nach der grundsätzlichen Systematik des NAG (§11 Abs 1 NAG) kein Aufenthaltstitel zukommt, die ausnahmsweise Erteilung eines Aufenthaltstitels aus humanitären Gründen vor. Diese Regelung ist auf den Schutz grundrechtlicher Positionen gerichtet. Der Schutz läuft jedoch - zumindest im Hinblick auf Art 8 EMRK - ins Leere. § 72 Abs 1 zweiter Satz NAG verstößt auf Grund seiner mangelhaften Determinierung gegen Art 8 EMRK.

...

Der Gesetzgeber stellt die Erteilung humanitärer Aufenthaltsbewilligungen in das Ermessen der Behörde (arg. 'kann' im § 72 Abs 1 erster Satz NAG). Nationale Regelungen, die den Behörden Ermessen einräumen, verstoßen nach Ansicht des EGMR nicht per se gegen das Bestimmtheitsgebot, sondern nur dann, wenn sie die Grundlagen und Grenzen der Ermessensentscheidung nicht ersichtlich machen (vgl. EGMR , Silver et alteri, Nr. 5947/72, Rz 88; EGMR , Malone, Nr. 8691/79, Rz 87; , Niedbala, Nr. 27915/95, Rz 79). Auch unter diesem Aspekt verstößt § 72 Abs 1 zweiter Satz NAG gegen Art 8 EMRK, da er weder die Grundlagen noch die Grenzen der Ermessensentscheidung vorgibt.

...

Als bahnbrechend kann in diesem Zusammenhang das Erkenntnis VfSlg. 10.737/1985 bezeichnet werden, welches zur Aufhebung von § 3 FrPG (BGBl Nr. 75/1954) führte. Diese Bestimmung legte die Gründe für die Erteilung eines Aufenthaltsverbots fest und verstieß wegen ihrer Undeutlichkeit gegen Art 8 EMRK und Art 18 B-VG. Konkret führte der Verfassungsgerichtshof Folgendes aus:

'c) § 3 (allenfalls iVm. § 4) FrPG sieht also Maßnahmen vor, die geeignet sind, in die durch Art 8 Abs 1 MRK geschützten Güter einzugreifen. Ein solcher Eingriff ist nur unter den im Art 8 Abs 2 MRK genannten Voraussetzungen zulässig. In formeller Hinsicht verlangt diese Verfassungsbestimmung, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen ist ('is in accordance with the law'; 'est prevue par la loi'). In materieller Hinsicht muss der Eingriff ein Ziel haben, das nach Art 8 Abs 2 MRK gerechtfertigt ist; er muss zur Erreichung dieses Zieles 'in einer demokratischen Gesellschaft notwendig' sein (vgl. z.B. die Urteile des EGMR in den Fällen Sunday Times und Silver, EuGRZ 1979, 387 und 1984, 149).

Wenn ein Gesetz eine Maßnahme - wie hier ein Aufenthaltsverbot - vorsieht, die nicht bloß zufällig und ausnahmsweise, sondern geradezu in der Regel in das Familienleben, vielfach auch in das Privatleben, eingreift, wenn also der Effekt des Gesetzes (mag dies auch gar nicht intendiert sein) in besonderer Nähe zum Eingriff in das Grundrecht steht (vgl. hiezu , S. 7, betreffend Art 17a StGG), so muss der Eingriffstatbestand besonders deutlich umschrieben sein. Bei weniger eingriffsnahen Gesetzen kann es durchaus hinreichen, das Gesetz der MRK entsprechend auszulegen oder auch die den materiellen Gesetzesvorbehalt umschreibende Konventionsbestimmung als innerstaatlich unmittelbar anwendbares (zusätzlich zum Gesetz geltendes) Recht anzuwenden. [...]

d) [...] Ein eingriffsnahes Gesetz (s. die vorstehende litc), wie etwa Bestimmungen über das Aufenthaltsverbot, muss deutlich die Eingriffsschranken, wie sie die MRK (hier Art 8 Abs 2) vorschreibt, erkennen lassen. Es muss also mit der soeben dargelegten Bestimmtheit zu erkennen geben, unter welchen Voraussetzungen das Aufenthaltsverbot ohne jede Rücksichtnahme auf familiäre Beziehungen des Fremden verhängt werden darf - was Art 8 MRK keineswegs ausschließt - und unter welchen anderen Voraussetzungen bei Erlassung eines Aufenthaltsverbotes die aufgrund des jeweiligen Tatbestandes zu erwartenden öffentlichen Interessen daran, dass der Fremde das Bundesgebiet verlässt, gegen die familiären (allenfalls auch privaten) Interessen am Verbleib des Fremden in Österreich gegeneinander abzuwägen sind (wobei das Gesetz die jeweiligen Grundsätze für diese Interessenabwägung festlegen und dabei auf eine angemessene Verhältnismäßigkeit Bedacht nehmen muss; vgl. Urteil des EGMR im Fall Silver, a.a.O. S. 152 - § 97c).

Diesen Voraussetzungen entsprechen die geltenden Bestimmungen über das Aufenthaltsverbot nicht. Der Abs 1 des § 3 FrPG umschreibt in Form einer weitmaschigen Generalklausel die Voraussetzungen für eine solche Ausnahme. Die Intensität des öffentlichen Interesses am Aufenthaltsverbot ist bei den einzelnen Tatbeständen des Abs 2 dieser Gesetzesbestimmung völlig verschieden. Wird vor diesem Hintergrund Art 8 Abs 2 MRK als unmittelbar anzuwendende Vorschrift i.Z.m. dem - bereits früher erlassenen - § 3 FrPG gelesen, so ergibt sich kein Normenkomplex, der die Eingriffstatbestände auf eine den vorstehenden Anforderungen genügende Weise umschreibt.'

Diese höchstgerichtlichen Ausführungen lassen sich auch auf § 72 Abs 1 zweiter Satz NAG übertragen, dessen 'Eingriffsnähe' aus der bestehenden Schutzpflicht des Gesetzgebers resultiert. In Anwendung der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs müsste § 72 Abs 1 zweiter Satz NAG nicht nur Art 8 EMRK als berücksichtigungswürdigen Grund anführen, sondern darüber hinaus auch jene Kriterien benennen, die die Basis einer nach Art 8 Abs 2 EMRK gebotenen Interessenabwägung bilden. § 72 Abs 1 zweiter Satz NAG nennt jedoch weder Art 8 EMRK noch Kriterien für die gemäß Art 8 Abs 2 EMRK gegeneinander abzuwägenden Interessen, wodurch gleichzeitig auch die Grundlagen und Grenzen, welche für die Ermessensausübung der Behörde nach § 72 Abs 1 erster Satz NAG erforderlich sind, unzureichend vorgegeben sind. § 72 Abs 1 zweiter Satz NAG verstößt somit wegen seiner inhaltlichen Unbestimmtheit gegen Art 8 EMRK.

...

§ 72 Abs 1 zweiter Satz NAG entspricht somit auch nicht den nach innerstaatlichem Recht bestehenden Erfordernissen an eine hinreichend bestimmte gesetzliche Regelung. Die im § 72 Abs 1 zweiter Satz NAG erwähnten 'besonders berücksichtigungswürdigen Gründe' stellen einen unbestimmten Gesetzesbegriff dar, dessen Verständnis durch das einzige angeführte Beispiel (§50 FPG) sehr stark geprägt wird. Für den Rechtsunterworfenen ist nicht erkennbar, dass mitunter auch Gründe, die sich aus der Achtung seines Privat- und Familienlebens ergeben, als berücksichtigungswürdig im Sinn von § 72 Abs 1 zweiter Satz NAG zu gelten haben. Der Gesetzgeber müsste die Kriterien, die für die im Ermessen der Behörde stehende Erteilung humanitärer Aufenthaltsbewilligungen maßgeblich sind, deutlicher und umfangreicher normieren. Auch die Gesetzesmaterialien enthalten keine näheren Angaben zur Frage, unter welchen Umständen besonders berücksichtigungswürdige Gründe vorliegen."

2.3. Zur behaupteten Verfassungswidrigkeit der Wortfolge "von Amts wegen" in den §§72 Abs 1 erster Satz, 73 Abs 2 und 3 sowie 74 NAG führt die Oberösterreichische Landesregierung im Wesentlichen aus:

"Die strenge Offizialmaxime des § 72 Abs 1 erster Satz, § 73 Abs 2 und Abs 3 und § 74 NAG steht nicht im Einklang mit dem Prinzip der faktischen Effizienz des Rechtsschutzes, das auch dem Verfahren zur Erteilung humanitärer Aufenthaltstitel zu grunde zu legen ist. Wie bereits erwähnt, können die betroffenen Personen (oder auch Dritte) die Erteilung einer humanitären Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung nur anregen; es bleibt in weiterer Folge jedoch der Behörde überlassen, ob sie diese Anregung aufgreift oder nicht. Selbst für den Fall, dass sich die Behörde zur Einleitung eines Verfahrens entschließt, kann dieses jederzeit ohne Angabe von Gründen und gegen den Willen des Betroffenen eingestellt werden (ohne Ausstellung eines Negativbescheids); dem Betroffenen kommt keine Berufungsmöglichkeit zu (vgl. dazu Kutscher/Poschalko/Schmalzl, Niederlassungs- und Aufenthaltsrecht - Leitfaden zum neuen NAG samt Durchführungsverordnungen [2006] S. 133). Im Rahmen des Verfahrens zur Erteilung humanitärer Aufenthaltstitel kann der Betroffene weder ordentliche noch außerordentliche Rechtsmittel ergreifen.

...

Die Amtswegigkeit der Verfahren der §§72 Abs 1 erster Satz, 73 Abs 2 und Abs 3, 74 NAG wirft auch hinsichtlich ihrer Sachlichkeit Bedenken auf. Es ist nicht nachvollziehbar, die Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels, die im überwiegenden Interesse des Einzelnen liegt, ausschließlich von einem amtswegigen Vorgehen der Behörde abhängig zu machen. Das Prinzip der Offizialmaxime greift im Allgemeinen in jenen Bereichen, die eine besondere Berücksichtigung öffentlicher Interessen erfordern. Darüber hinaus würde auch durch die (zusätzliche) Einräumung eines Antragsrechts die notwendige Berücksichtigung öffentlicher Interessen nicht entfallen. Mit dem Recht des Einzelnen, Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen zu beantragen, wäre dann automatisch die Parteistellung verbunden, die dem Betroffenen all jene Verfahrensrechte sichert, die auf Grund von Art 8 und 13 EMRK sowie Art 18 B-VG erforderlich sind (vgl. zum Begriff der Partei Hengstschläger, Verwaltungsverfahrensrecht [2002], Rz 82 ff)."

2.4. Die antragstellende Landesregierung begründet ihre Bedenken hinsichtlich des § 75 NAG im Wesentlichen wie folgt:

"§75 NAG sieht vor, dass die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus humanitären Gründen nach den §§72 bis 74 NAG der Zustimmung des Bundesministers für Inneres bedarf. Einen Hinweis darauf, nach welchen Kriterien dieses Zustimmungsrecht auszuüben ist, enthält § 75 NAG nicht. Die Erläuterungen zu § 75 NAG (952 BlgNR XXII. GP, S. 148) besagen lediglich, dass sowohl die Erteilung einer humanitären Aufenthaltsbewilligung als auch die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen sowie die Inlandsantragstellung der Zustimmung des Bundesministers für Inneres bedürfen. Somit finden sich weder im § 75 NAG noch in den dazugehörigen Erläuterungen Anhaltspunkte, die für die im Ermessen des Bundesministers für Inneres stehende Bewilligung zur Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels maßgeblich sind. Der Ermessensausübung des Bundesministers für Inneres, der die oberste Aufenthaltsbehörde ist (siehe § 3 Abs 2 NAG), werden durch § 75 NAG keine Grenzen gesetzt; die gesetzliche Grundlage ermöglicht somit der Behörde - im Sinn der zuvor angeführten Judikatur des Verfassungsgerichtshofs - die Ausübung schrankenlosen Ermessens. § 75 NAG verstößt daher aus den dargelegten Gründen gegen das Bestimmtheitsgebot des Art 18 Abs 1 B-VG.

...

§ 75 NAG zufolge bedarf die Erteilung von allen im Gesetz vorgesehenen (§§72 bis 74 NAG) humanitären Aufenthaltstiteln der Zustimmung des Bundesministers für Inneres. Der Leitfaden zum NAG führt hinsichtlich dieser Bestimmung aus, dass es sich dabei 'nicht um eine Delegation der Zuständigkeit zur Prüfung oder Beurteilung 'nach oben', sondern lediglich um einen zweiten Schritt im Verfahren [handelt]. Dieser stellt einen Kontrollmechanismus dar, der die Einheitlichkeit der Vollziehung in diesem - ebenso sensiblen wie missbrauchsanfälligen - Bereich gewährleisten soll.'

(Kutscher/Poschalko/Schmalzl, Niederlassungs- und Aufenthaltsrecht - Leitfaden zum neuen NAG samt Durchführungsverordnungen [2006] S. 131). Nun ist das Verfahren aber derart ausgestaltet, dass dem Bundesminister für Inneres nur jene Fälle zur Bewilligung vorgelegt werden, die nach Ansicht der unterinstanzlichen Behörde die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen erforderlich machen. All jene Fälle, in denen die Behörde eine Anregung nicht aufgreift, vom Vorliegen eines berücksichtigungswürdigen Grundes nicht ausgeht oder aber eine ursprünglich vorhandene Erteilungsabsicht im Zuge des Verfahrens wieder verwirft, gelangen nicht durch eine entsprechende Vorlage zum Bundesminister (§75 NAG sieht eine entsprechende Zustimmung des Bundesministers für Inneres eben nur für den Fall der 'Erteilung' eines Aufenthaltstitels aus humanitären Gründen, vor, nicht jedoch auch im Fall dessen 'Nichterteilung'; vgl. dazu Kutscher/Poschalko/Schmalzl, Niederlassungs- und Aufenthaltsrecht - Leitfaden zum neuen NAG samt Durchführungsverordnungen [2006] S. 133).

Das Ziel des § 75 NAG, einen einheitlichen Vollzug zu gewährleisten, kann jedoch nicht erreicht werden, wenn dem Bundesminister für Inneres von vornherein nur jene Sachverhalte zugehen, die nach Einschätzung der Behörde einer positiven Erledigung zuzuführen sind. Da der Mitwirkung des Bundesministers im Rahmen des humanitären Verfahrens - quasi als zweiter Verfahrensschritt - eine sehr zentrale Bedeutung zukommt, müsste sie sich auf alle an die Behörde herangetragenen bzw. von dieser behandelten Fälle beziehen. Nur auf diese Weise kann auch die Kontrollfunktion des Bundesministers in dem erforderlichen Ausmaß ausgeübt werden. Da § 75 NAG somit nicht geeignet ist, das an sich legitime Ziel eines einheitlichen Vollzugs zu erreichen, ist er als unverhältnismäßig und daher in weiterer Folge als unsachlich zu qualifizieren. Das im § 75 NAG vorgesehene Zustimmungsrecht des Bundesministers für Inneres verstößt somit auch gegen den Gleichheitsgrundsatz."

3.1. Schließlich ist beim Verwaltungsgerichtshof ein Beschwerdeverfahren gegen einen Bescheid des Bundesministers für Inneres vom , "betreffend die Zurückweisung eines Antrages" nach § 73 Abs 2 NAG anhängig.

3.2. Aus Anlass dieses Verfahrens stellte der Verwaltungsgerichtshof gemäß Art 140 Abs 1 B-VG den Antrag, die Wortfolge "von Amts wegen" in § 73 Abs 2 NAG als verfassungswidrig aufzuheben. Hinsichtlich der Begründung seines Antrages verweist er auf die vom Verfassungsgerichtshof im zu B215,216/07 von Amts wegen eingeleiteten Verfahren geäußerten Bedenken.

4. Die Bundesregierung erstattete Stellungnahmen, in denen sie den geäußerten Bedenken entgegentritt.

Zur behaupteten Verfassungswidrigkeit des § 72 Abs 1 zweiter Satz NAG führt sie im Wesentlichen Folgendes aus:

"Den sehr spezifischen und außerhalb der allgemeinen Systematik stehenden Charakter dieser Norm zeigt - neben der Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels aus Gründen des Refoulementverbots (§72 Abs 1 NAG iVm § 50 FPG) - unter anderem auch die explizite Erwähnung der Opfer von Menschenhandel und grenzüberschreitendem Prostitutionshandel in § 72 Abs 2 NAG. Diese Erwähnung ist vor dem Hintergrund der innerstaatlichen Umsetzung der Richtlinie 2004/81/EG über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörde kooperieren (sog. 'Opferschutz-Richtlinie'), ABI. 2004 Nr. L 261, S. 19, zu sehen (vgl. Vogl/Taucher/Bruckner/Marth/Doskozil, Fremdenrecht - Kommentar [2006], § 72 NAG Z 4; weiters ErläutRV 952 BlgNR 22 GP zu § 72 NAG), weshalb die Erteilung von humanitären Aufenthaltstiteln an diese Personengruppe auch den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen Genüge zu tun hat.

Durch die Verwendung des Wortes 'insbesondere' in § 72 Abs 1 zweiter Satz NAG wurde im Einklang mit der legistischen Übung klargestellt, dass die konkrete Nennung von Fällen 'besonders berücksichtigungswürdiger Gründe' jedenfalls keine abschließende Regelung solcher besonders berücksichtigungswürdiger Gründe darstellt, sondern vielmehr davon auszugehen ist, dass über die genannten demonstrativen Fälle hinaus weitere andere gleichwertige 'besonders berücksichtigungswürdige Gründe' möglich sind. Gerade durch die bloß demonstrative Aufzählung ist der grundrechtsoffene Charakter dieser Norm klar zum Ausdruck gebracht worden. Diese Auslegung ergibt sich neben dem eindeutigen Wortlaut auch aus dem Zweck der Bestimmung, wonach die Erteilung einer humanitären Aufenthaltsbewilligung immer in konkreten Einzelfällen zu prüfen ist. [Zur Berücksichtung des Art 8 EMRK als besonders berücksichtigungswürdigen Grund im Behördenvollzug wird auch auf die Ausführungen zu Punkt II.2.2.3. verwiesen.] Die Erwähnung des § 50 FPG ist folglich keinesfalls so zu verstehen, dass den mit dieser Bestimmung in Zusammenhang stehenden Grundrechtsgarantien (v.a. Art 2 und 3 EMRK) ein Vorrang gegenüber anderen zu beachtenden grundrechtlichen Garantien (etwa Art 8 EMRK) eingeräumt oder gar die Anwendung anderer Grundrechte ausgeschlossen wurde. Vor diesem Hintergrund ist die von der Gesetzgebung gewählte 'offene' Formulierung des § 72 Abs 1 NAG zu sehen, zumal nur durch einen derartigen 'offen' formulierten Auffangtatbestand den unterschiedlichsten Lebenssachverhalten entsprochen werden kann. Eine restriktive Auslegung dieser Bestimmung würde sowohl der Intention der Gesetzgebung als auch dem Gebot der verfassungskonformen Interpretation widersprechen [siehe dazu u.a. auch Berka, Die Grundrechte (1999), Rz 124 mit Judikaturnachweisen].

...

Das von der Antragstellerin bezogene Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes VfSlg. 10.737/1985 (Aufhebung des § 3 FrPG, BGBl. Nr. 75/1954) ist nach Ansicht der Bundesregierung nicht auf die angefochtene Bestimmung übertragbar, zumal es auch keine Aussagen zur Umschreibung von Eingriffstatbeständen im Zusammenhang mit einer behaupteten Verletzung positiver Schutzpflichten durch die Gesetzgebung enthält.

Auch das von der Antragstellerin verwiesene Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , B328/07, erscheint nicht geeignet, den monierten Determinierungsmangel sowie die Annahmen, dass § 72 Abs 1 zweiter Satz NAG einer verfassungskonformen Interpretation nicht zugänglich sei, darzutun: Mit dem genannten Erkenntnis wurde ein Ausweisungsbescheid wegen Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK aufgehoben. Im Wesentlichen wurde dies mit einer der Behörde vorzuwerfenden mangelnden Interessensabwägung und der mangelnden Berücksichtigung verschiedener persönlicher Lebensumstände der Beschwerdeführerin begründet. In diesem Zusammenhang zeigte der Verfassungsgerichtshof einige bedeutsame Kriterien zur Interessensabwägung auf. Die angeführten Kriterien sind im Rahmen eines verfassungs- und grundrechtskonformen Vollzugs zu beachten.

In diesem Zusammenhang darf auch darauf hingewiesen werden, dass weder der Verfassungsgerichtshof noch der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen ihrer umfassenden Rechtsprechung zur inhaltlich gleichen Vorgängerbestimmung des § 10 Abs 4 FrG verfassungsrechtliche Bedenken der vorgebrachten Art gehegt haben. Soweit ersichtlich erwuchsen den genannten Gerichtshöfen auch keine Bestimmtheitsbedenken hinsichtlich der Wendung der 'besonders berücksichtigungswürdigen Gründe'."

Zur behaupteten Verfassungswidrigkeit der Wortfolge "von Amts wegen" in §§72 Abs 1, 73 Abs 2, 73 Abs 3 und 74 NAG führt die Bundesregierung im Wesentlichen aus wie folgt:

"Der in den §§72ff NAG verankerte Grundsatz der Amtswegigkeit dieser Verfahren ist keine Neuerung des NAG, sondern wurde aus den Regelungen des Fremdengesetzes 1997 (§§10 Abs 4 und 14 Abs 2 FrG) übernommen.

...

Systematisch und inhaltlich handelt es sich bei den Bestimmungen über den humanitären Aufenthalt um einen aufenthaltsrechtlichen 'Auffangtatbestand' für besonders berücksichtigungswürdige humanitäre Einzelfälle, in denen die Regelungen betreffend ein 'reguläres' Aufenthaltsrecht nicht greifen, aber die Schaffung eines Aufenthaltsrechts auf Grund der spezifischen Umstände des konkreten Einzelfalls - etwa zur Wahrung der menschenrechtlichen Garantien - geboten sein kann.

...

a) § 11 NAG enthält die allgemeinen Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel, wobei dessen Abs 1 NAG jene Voraussetzungen festlegt, unter welchen einem Fremden ein Aufenthaltstitel jedenfalls nicht erteilt werden darf (absolute Versagungsgründe), und Abs 2 jene Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um einem Fremden einen Aufenthaltstitel zu erteilen (relative Erteilungsvoraussetzungen; vgl. RV 952 BlgNR 22. GP zu § 11 NAG). § 11 Abs 3 NAG bestimmt diesbezüglich, dass ein Aufenthaltstitel trotz Ermangelung der in § 11 Abs 2 NAG aufgezählten (relativen) Voraussetzungen (etwa ortsübliche Unterkunft, leistungspflichtige Krankenversicherung und keine finanzielle Belastung einer Gebietskörperschaft) erteilt werden kann, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- oder Familienlebens im Sinne des Art 8 der EMRK geboten ist.

Innerhalb des umfangreichen und komplexen Systems der verschiedenen Arten von Aufenthaltstiteln bildet § 11 Abs 3 NAG damit eine bereits im Verfahren zur Erteilung von Aufenthaltstiteln allgemein zu beachtende Ausnahme von den Erteilungsvoraussetzungen, welche explizit der Wahrung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechts auf Privat- oder Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK dient. Da es sich bei Verfahren zur Erteilung von Aufenthaltstiteln um ein antragsbedürftiges Verfahren handelt (vgl. § 19 NAG), hat der Betroffene daher die Möglichkeit, seine Interessen über Antrag an die Behörde zur Entscheidung in einem ordentlichen Verwaltungsverfahren heranzutragen und soweit seine Interessen in diesem Rahmen unter Nutzung des Instanzenzugs und der vorhandenen Rechtsschutzmechanismen zu wahren.

Liegen einzelne Erteilungsvoraussetzungen nach § 11 Abs 2 nicht vor, so hat die Behörde bei jedem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zu prüfen, ob Rechte gemäß Art 8 EMRK berührt sind und bejahendenfalls unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles zu beurteilen, welche Maßnahmen oder Verfügungen zur Wahrung dieser Rechte notwendig sind. Für den Fall, dass nur die Erteilung eines Aufenthaltstitels geeignet ist, eine Verletzung der in Art 8 EMRK garantierten Rechte hintanzuhalten, ist ein entsprechender Aufenthaltstitel trotz Ermangelung einer in § 11 Abs 2 NAG normierten Voraussetzung zu erteilen (vgl dazu auch RV 952 BlgNR 22. GP zu § 11 NAG).

b) § 25 Abs 1 NAG regelt, dass die Behörde im Falle des Fehlens von Erteilungsvoraussetzungen (§11 Abs 1 und 2 NAG) in einem Verfahren zur Verlängerung eines Aufenthaltstitels die Zulässigkeit einer Aufenthaltsbeendigung gemäß § 52 ff FPG - gegebenenfalls nach Einholung einer fremdenpolizeilichen Stellungnahme - unter Berücksichtigung des Schutzes des Privat- oder Familienlebens (§66 FPG) zu prüfen hat. Wird die Zulässigkeit einer Aufenthaltsbeendigung verneint, so ist der beantragte Aufenthaltstitel zu erteilen (§24 Abs 3 NAG).

c) Im Hinblick auf Ausweisungsentscheidungen stellt die zentrale Norm des § 66 Abs 1 FPG ausdrücklich klar, dass eine Ausweisung nur dann zulässig ist, wenn kein ungerechtfertigter Eingriff in die Rechte nach Art 8 EMRK vorliegt. In § 66 Abs 2 FPG wird die bei Prüfung des Eingriffsvorbehalts gemäß Art 8 Abs 2 EMRK notwendige Interessensabwägung dahingehend präzisiert, dass eine Ausweisung nach § 54 Abs 1, 3 und 4 FPG jedenfalls nicht erlassen werden darf, wenn die Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen als die öffentlichen Interessen.

d) Schließlich bestimmt § 10 Abs 2 Z 2 AsylG 2005 die Unzulässigkeit einer von den Asylbehörden anzuordnenden Ausweisung im Zusammenhang mit einer negativen asylrechtlichen Entscheidung, wenn dadurch Art 8 EMRK verletzt werden würde.

Die Berücksichtigung dieser Regelungen im vorliegenden Verfahren ist erforderlich, weil nur dadurch eine ganzheitliche Beurteilung der Wirksamkeit des gesamten Rechtsschutzsystems des Fremdenrechts im Hinblick auf den Schutz des Privat- und Familienlebens nach Art 8 EMRK möglich ist. Es kommt dadurch klar zum Ausdruck, dass, bevor die Frage nach der allfälligen Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels überhaupt aktuell wird, im Rahmen des fremdenpolizeilichen Ausweisungsverfahrens bereits zwingend eine Prüfung der Rechte gem. Art 8 EMRK vorzunehmen ist, in der dem Aufenthaltswerber sowohl Antragsrecht als auch volle Parteistellung im Verfahren zukommt.

1.2.2. Im Übrigen darf auch auf das Erkenntnis des

Verwaltungsgerichtshofes vom , Zlen 2007/21/0247,

0248, hingewiesen werden. Darin verwies der Verwaltungsgerichtshof

auf die Möglichkeit eines Feststellungsantrages nach § 73 Abs 4 NAG

über die Fälle einer Familienzusammenführung hinaus hin. Eine

derartige Auslegung sei aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten,

da 'dieser Rechtsbehelf zur Durchsetzung eines aus Art 8 EMRK

ableitbaren Anspruchs auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung

aus humanitären Gründen auch dann zur Verfügung steht, wenn ... zwar

nicht die Voraussetzungen des § 46 Abs 4 FPG vorliegen, aber ... die

Erteilung einer solchen Niederlassungsbewilligung unter dem Gesichtspunkt des Art 8 EMRK geboten scheint.'

...

Nicht ersichtlich ist, dass ein Verfahren, das von Amts wegen eingeleitet wird, mit dem Recht auf eine wirksame Beschwerde per se im Widerspruch stünde. Die ausreichende Wirksamkeit einer Beschwerde kann sich nach der Rechtsprechung des EGMR auch aus dem Zusammenwirken verschiedener Rechtsmittel ergeben (Urteil des EGMR vom im Fall Leander gegen Schweden, Appl. No. 9248/81, Rz 76ff; Mayer, B-VG4 (2007), Art 13 MRK II.2.). Bei der Beurteilung, ob ein ausreichend effizienter Rechtsschutz vorliegt, ist folglich keine isolierte Normbetrachtung vorzunehmen, sondern vielmehr auf das gesamte einschlägige Regelwerk abzustellen, welches die maßgebliche Rechtsfrage zum Gegenstand hat.

Den vorläufigen Bedenken des Verfassungsgerichtshofs wird mit Blick auf die (oben dargelegte) Zusammenschau aller jener Normen entgegengetreten, die die Berücksichtigung der Rechte gemäß Art 8 EMRK zum Gegenstand haben: bereits im Antragsverfahren (§11 Abs 3 NAG), die mögliche Erteilung einer Niederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen (§73 NAG) und im besonderen Maße die vorgelagerten Bestimmungen des Fremdenpolizeigesetzes 2005 zur Ausweisung garantieren in ihrer Gesamtheit im Rahmen eines stufenweise ablaufenden Prüfungsverfahrens dem betroffenen Fremden einen adäquaten Rechtsschutz und konstituieren eine den Schutz des Privat- und Familienlebens wahrende und damit verfassungskonforme Rechtslage. Der betroffene Fremde hat in diesem Verfahren volle Parteistellung und die damit verbundenen Antragsrechte.

Der vorläufigen Auffassung des Verfassungsgerichtshofes, dass einem Fremden zur Durchsetzung des Rechts auf Privat- und Familienleben ein Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz iSd Art 13 EMRK nicht zukomme, kann folglich nicht beigetreten werden, da ein wirksamer Rechtsschutz schon im fremdenpolizeilichen Verfahren gewährleistet ist. Der allfällige Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben besteht hingegen nicht primär in der Nichterteilung eines humanitären Aufenthaltstitels, sondern in der Verhängung und Durchsetzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme, insbesondere einer Ausweisung aus dem Bundesgebiet wegen illegalen Aufenthalts (in Einhaltung der Verfahrensgarantien des Art 1 7. ZP EMRK). Bevor eine Ausweisung angeordnet werden darf, hat die Behörde eine Abwägung mit den Interessen des Fremden hinsichtlich seines Privat- und Familienlebens vorzunehmen (siehe § 66 FPG und § 10 Abs 2 Z 2 AsylG 2005).

...

Erst dann, wenn eine aufenthaltsbeendende Maßnahme auf Grund des Art 8 EMRK jedenfalls nicht zulässig ist, stellt sich die Frage über die rechtliche Ausgestaltung des weiteren Aufenthalts des betroffenen Fremden, insbesondere ob ihm ein Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen erteilt werden soll oder nicht.

Sollte hingegen der Verfassungsgerichtshof zur Auffassung gelangen, dass auch ein Antrag auf Erteilung einer humanitären Niederlassungsbewilligung zulässig sein müsse, so würde die Tatsache der Antragstellung für sich alleine genommen noch kein Recht auf Verbleiben im Bundesgebiet verschaffen, weshalb die Verhängung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme grundsätzlich auch möglich sein wird. Für deren Zulässigkeit muss aber bereits von der Fremdenpolizeibehörde im Hinblick auf § 66 FPG geprüft werden, ob die Aufenthaltsbeendigung keine Verletzung des Art 8 EMRK bedeuten würde. Für den Fall, dass die Aufenthaltsbeendigung per Ausweisung veranlasst wird, hätte der betroffene Fremde die Möglichkeit der Berufung, der aufschiebende Wirkung zukommt, und damit ein effektives Rechtsmittel gegen die Verhängung der Ausweisung.

...

Allgemein richtet sich die Beurteilung der Frage, ob ein Verfahren auf Antrag oder/und von Amts wegen einzuleiten ist, grundsätzlich nach den Verwaltungsvorschriften. Personen mit Parteistellung kommt dabei grundsätzlich auch ein Antragsrecht zu. Ist lediglich eine amtswegige Einleitung vorgesehen, hat die Behörde das Verfahren einzuleiten, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen. Wenn die Verwaltungsvorschriften die Einleitung eines Verfahrens bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen zwingend vorsehen, dann ist die Behörde mit Blick auf Art 18 B-VG verpflichtet, im Falle dieser Voraussetzungen das Verfahren einzuleiten. Verschiedentlich ist den Behörden aber auch Ermessen eingeräumt, ob sie von Amts wegen einschreiten (zB § 68 Abs 2 bis 4 AVG), welches von ihnen im Sinne des Gesetzes auszuüben ist. Auch in diesem Fall hat die Behörde von Amts wegen zu prüfen, ob das Verfahren einzuleiten ist; Personen haben in solchen Verfahren zwar Parteistellung, aber kein Antragsrecht und keinen Erledigungsanspruch. Ebenso gibt es Verfahren mit zwar mehreren Parteien, aber einem Antragsrecht von lediglich einer Partei (§§353ff GewO) [siehe dazu etwa Walter/Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht8 (2003), Rz 265; Thienel, Verwaltungsverfahrensrecht4 (2006), 145f].

...

Weder aus Art 8 iVm Art 13 EMRK noch aus dem Rechtsstaatsprinzip der österreichischen Bundesverfassung ist ableitbar, dass ein Verfahren nur von Amts wegen nicht eingeleitet und durchgeführt werden darf. Es liegt in der Gestaltungsfreiheit der Gesetzgebung, ob ein Verfahren entgegen dem Grundsatz der Amtswegigkeit nach § 39 Abs 2 AVG auch oder nur auf Antrag eröffnet wird.

Aus dem Legalitätsprinzip ergibt sich, dass die Behörden auf Grund und im Rahmen der Gesetze tätig werden und gegebenenfalls, wenn dies (verfassungs-)gesetzlich vorgesehen ist, auch zum Tätigwerden verpflichtet sein können. Die Klärung der Frage, welche Form der Einleitung eines Verwaltungsverfahrens - von Amts wegen und/oder auf Antrag - vorzusehen ist, bleibt unter Berücksichtigung des Art 11 Abs 2 B-VG jedoch der einfachen Gesetzgebung überlassen.

Ungeachtet des gegenständlichen Verfahrens erschiene auch fraglich, anhand welcher Aspekte des Rechtsstaatsprinzips die einfache (Bundes- bzw Landes-) Gesetzgebung künftig beurteilen könnte, ob ein geplantes von Amts wegen einzuleitendes Verfahren dann (noch) im Einklang mit dem Rechtsstaatsprinzip stünde."

In ihrer Äußerung im Verfahren zu G265/07 führt die Bundesregierung ergänzend aus:

"Auch aus Sicht des Behördenvollzugs darf darauf hingewiesen werden, dass eine Prüfung nach Art 8 EMRK bei besonders berücksichtigungswürdigen Gründen im Zusammenhang mit humanitären Aufenthaltstiteln jedenfalls stattfindet. Jeder Einzelfall wird von der zuständigen Behörde erster Instanz geprüft, wobei die jeweiligen besonderen Umstände individuell zu berücksichtigen sind und eine entsprechende Gesamtschau des jeweiligen Falles vorgenommen wird. In diesem Zusammenhang wurde seitens des Bundesministeriums für Inneres gemeinsam mit den Bundesländern ein Kriterienkatalog für die Prüfung von Aufenthaltstiteln aus humanitären Gründen erarbeitet. Dieser wurde an alle Landeshauptleute übermittelt und soll als Arbeitsbehelf allen Behörden für das Treffen konkreter Entscheidungen eine Unterstützung bieten. Daneben wurde ein Formular für Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen erstellt. Diese Arbeitsgrundlage soll den zuständigen Behörden erster Instanz für ihre Entscheidungen zur Vorlage an das Bundesministerium für Inneres als Orientierungshilfe dienen und eine einheitliche Vorgangsweise im Rahmen eines bestmöglichen Verfahrensablaufes sicherstellen. Darüber hinaus wird gewährleistet, dass eine Prüfung aller relevanten Sachverhalte in Hinblick auf Art 8 EMRK erfolgt. Im Rahmen von Schulungen wurde dieses Formular allen Bundesländern präsentiert.

Das Formular sowie eine Ausfüllanleitung wurden am

mit Rundschreiben ... an alle Ämter der

Landesregierungen, an alle Sicherheitsdirektionen sowie an die

Bundespolizeidirektionen als fremdenpolizeiliche Behörden

übermittelt. Aufgrund des am vom Nationalrat

beschlossenen Entschließungsantrags der Abgeordneten ... betreffend

Asyl, humanitäres Aufenthaltsrecht und Fremdenrecht (siehe

Entschließungsantrag 39/E 23. GP sowie zur Grundlage der

Entschließung 177/UEA 23. GP) wurde mit Rundschreiben vom 11. Oktober

2007 ... ein aktualisiertes Formular samt Ausfüllanleitung an

denselben Adressatenkreis übersendet."

Zur behaupteten Verfassungswidrigkeit des § 75 NAG führt die Bundesregierung aus:

"Zur Wahrung der Rechtssicherheit und der Einheitlichkeit des Behördenvollzugs bei der Erteilung von humanitären Aufenthaltstiteln, bei der Zuerkennung der Inlandsantragstellung oder bei der Heilung von sonstigen Verfahrensmängeln bedarf es gemäß § 75 NAG vor der Erteilung durch den zuständigen Landeshauptmann oder der von ihm nach § 3 NAG ermächtigten Bezirksverwaltungsbehörde als zuständige Aufenthaltsbehörde der Zustimmung des Bundesministers für Inneres. Der in § 75 NAG verankerte Grundsatz ist keine Neuerung des NAG, sondern wurde fast wortident aus § 90 Abs 1 FrG übernommen. Bereits im Zusammenhang mit § 90 Abs 1 FrG beurteilte der VfGH in seinem Beschluss vom , VfSlg. 15.687/1999, die im Interesse einer möglichst einheitlichen Gesetzeshandhabung festgelegte Zustimmungsbefugnis des Bundesministers für Inneres als 'wohl unbedenklich'. Sie stellt ein Verfahrenselement im Rahmen der Prüfung der zuständigen Aufenthaltsbehörde (Landeshauptmann oder Bezirksverwaltungsbehörde) auf Erteilung von humanitären Aufenthaltstiteln dar. Bei der Zustimmung des Bundesministers für Inneres handelt es sich demnach um ein Tatbestandselement, das vor der Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels durch die zuständige Aufenthaltsbehörde, vorzuliegen hat.

Die Zustimmungsbefugnis des Bundesministers für Inneres ist dabei auch keineswegs von schrankenlosem Ermessen oder mangelnder Bestimmtheit getragen, sondern hat sich entsprechend dem auch von der verfahrensführenden Behörde anzuwendenden Prüfungsmaßstab am Inhalt und an den Kriterien der bezughabenden materiellrechtlichen Vorschriften in den §§72 bis 74 NAG und der oben aufgezeigten Gesamtsystematik zu orientieren (VfSlg. 15.687/1999; siehe Muzak, in:

Muzak/Taucher/Pinter/Lobner (Hrsg), Fremden- und Asylrecht, Anm 1 zu § 90 FrG).

...

Es liegt geradezu im Wesen eines Prüfungsverfahrens, welches in mehreren aufeinander folgenden Schritten abläuft, dass vom Bundesminister für Inneres nur jene Fälle zu beurteilen sind, die bereits von der zuständigen Aufenthaltsbehörde als 'vorlagefähig' erachtet werden. Jede andere Vorgehensweise würde zudem dem Grundsatz der zweckmäßigen, wirtschaftlichen und sparsamen Verwaltung widersprechen. Es gilt zu bedenken, dass die Aufenthaltsbehörde bei Vorliegen von Anhaltspunkten, die für die Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels sprechen, von Amts wegen tätig zu werden hat und das Verfahren bei Nichtvorliegen der Voraussetzungen einstellen kann. Es bliebe daher auch unklar, worin überhaupt eine 'negative Entscheidungsabsicht' der Behörde bestünde und in welchem Zeitpunkt eine nicht mehr weiterverfolgte Prüfung dem Bundesminister für Inneres zur Zustimmung vorgelegt werden müsste. Dem Erfordernis des einheitlichen Vollzugs wird vielmehr mit dem gewählten System in tunlicher Weise entsprochen. In diesem Zusammenhang ist weiters auf den vom Bundesministerium für Inneres gemeinsam mit den Ländern ausgearbeiteten Kriterienkatalog für humanitäre Aufenthaltstitel und ein gemeinsam erstelltes behördeninternes Formular hinzuweisen, die ebenfalls wesentlich zu einem einheitlichen, vereinfachten und raschen Vollzug beitragen.

Es darf ergänzend darauf hingewiesen werden, dass die Landeshauptleute bei der Prüfung von humanitären Aufenthaltstiteln (§3 Abs 1 NAG) im Rahmen der mittelbaren Bundesverwaltung tätig werden. Der Bundesminister für Inneres hat unabhängig von der Zustimmungsbefugnis nach § 75 NAG als oberste Aufenthaltsbehörde nach Art 103 Abs 1 B-VG eine Weisungsbefugnis gegenüber den als Aufenthaltsbehörden in erster Instanz tätigen Landeshauptleuten."

III. Der Verfassungsgerichtshof hat nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung über die in sinngemäßer Anwendung der §§187 und 404 ZPO iVm § 35 VfGG zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfahren erwogen:

1. Zur Zulässigkeit:

1.1. Zu den von Amts wegen eingeleiteten Verfahren:

Im Verfahren ist nichts hervorgekommen, was gegen die in den zu B215,216/07 und B375/07 protokollierten Prüfungsbeschlüssen vorläufig angenommene Präjudizialität der Wortfolge "von Amts wegen" in § 72 Abs 1 bzw. in § 73 Abs 2 NAG sprechen könnte.

Da auch die sonstigen Prozessvoraussetzungen vorliegen, sind die von Amts wegen eingeleiteten - zu G246,247/07 und G273/07 protokollierten - Gesetzesprüfungsverfahren zulässig.

1.2. Zum Antrag der Oberösterreichischen Landesregierung:

Gemäß Art 140 Abs 2 zweiter Satz B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit eines Bundesgesetzes unter anderem auf Antrag einer Landesregierung.

1.2.1. Im Hinblick darauf, dass ein Normprüfungsverfahren dazu führen soll, eine festgestellte Rechtswidrigkeit zu beseitigen, erweist sich der Anfechtungsumfang hinsichtlich des zweiten Satzes des § 72 Abs 1 NAG als zu eng (vgl. VfSlg. 17.101/2004), weshalb der Antrag der Oberösterreichischen Landesregierung insoweit unzulässig ist:

Eine Aufhebung des § 72 Abs 1 zweiter Satz NAG und der damit verbundene Wegfall der beispielhaften Nennung eines Tatbestandes, der jedenfalls zu den "besonders berücksichtigungswürdigen Gründen" zählt, würde nämlich die von der Oberösterreichischen Landesregierung behauptete Verfassungswidrigkeit dieser Regelung - wegen mangelnder Bestimmtheit - im Hinblick auf den Tatbestand "in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen" gemäß dem ersten Satz des § 72 Abs 1 NAG nicht beseitigen.

Da eine isolierte Anfechtung des § 72 Abs 1 zweiter Satz NAG nicht zulässig ist, war der diesbezügliche Antrag der Oberösterreichischen Landesregierung zurückzuweisen.

1.2.2. Im Hinblick auf die übrigen Anträge der Oberösterreichischen Landesregierung sind beim Verfassungsgerichtshof keine Zweifel am Vorliegen der Prozessvoraussetzungen entstanden, sie sind daher zulässig.

1.3. Zum Antrag des Verwaltungsgerichtshofes:

Im Verfahren sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen, die gegen die Annahme des Verwaltungsgerichtshofes sprechen, dass er die angefochtene Wortfolge in § 73 Abs 2 NAG bei der Entscheidung über die bei ihm anhängige Beschwerde anzuwenden hat. Die bloße Verweisung des Verwaltungsgerichtshofes auf den Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom , B215,216/07, zur Darlegung seiner Bedenken ist zulässig, weil die anzuwendende Bestimmung und der Lebenssachverhalt offenkundig gleich sind und die Bedenken zur Gänze übertragen werden können (VfSlg. 8308/1978).

Der Antrag des Verwaltungsgerichtshofes ist daher zulässig.

2. In der Sache:

2.1. Zur Wortfolge "von Amts wegen" in §§72 Abs 1 erster Satz, 73 Abs 2 und 3 NAG:

2.1.1. Der Verfassungsgerichtshof hatte in seinen - § 72 Abs 1 erster Satz und § 73 Abs 2 NAG betreffenden - Prüfungsbeschlüssen unter anderem das Bedenken, dass es aus rechtsstaatlichen Erwägungen unzulässig sein könnte, bei der Erteilung humanitärer Aufenthaltstitel lediglich ein Tätigwerden der Behörden von Amts wegen vorzusehen und keine Antragstellung des - in seinen Rechten betroffenen - Einzelnen zuzulassen. Sowohl die Oberösterreichische Landesregierung als auch der Verwaltungsgerichtshof haben sich in ihren Anträgen diesen Bedenken angeschlossen. Die Oberösterreichische Landesregierung äußerte darüber hinaus dieselben Bedenken gegen den - in den von Amts wegen eingeleiteten Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof nicht präjudiziellen - § 73 Abs 3 NAG.

2.1.2. Diesem Bedenken hält die Bundesregierung entgegen, dass die Behörde mit Blick auf Art 18 B-VG verpflichtet sei, im Falle des Vorliegens der Voraussetzungen ein Verfahren einzuleiten. Die Bundesregierung verweist weiters auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom , 2007/21/0247,0248, sowie die darin erwähnte Möglichkeit eines Feststellungsantrages gemäß § 73 Abs 4 NAG über die Fälle einer Familienzusammenführung hinaus.

2.1.3.1. Dazu ist auf Folgendes hinzuweisen: Ein Feststellungsantrag iSd § 73 Abs 4 NAG ist nur zulässig, wenn gleichzeitig ein Antrag in der Hauptfrage auf Familienzusammenführung eingebracht wird oder ein solcher bereits anhängig ist. Ist eine Familienzusammenführung gemäß § 46 Abs 4 NAG also mangels Vorhandenseins eines Quotenplatzes nicht möglich, aber nach Art 8 EMRK geboten, bietet die Regelung des § 73 Abs 4 NAG die Möglichkeit, einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung "aus humanitären Gründen" zu stellen (RV 952 BlgNR 22. GP).

Auf Grund der Begriffsbestimmung des § 2 Abs 1 Z 9 NAG ist § 73 Abs 4 NAG nur auf einen eng begrenzten Personenkreis, nämlich "Ehegatte oder unverheiratetes minderjähriges Kind, einschließlich Adoptiv- oder Stiefkind", anwendbar. Über diesen genannten Personenkreis hinaus ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels "aus humanitären Gründen" jedoch nur von Amts wegen vorgesehen. Sowohl der Wortlaut der Bestimmung als auch die Erläuterungen (RV 952 BlgNR 22. GP) stehen einer Interpretation, wie sie von der Bundesregierung vorgenommen wurde, entgegen.

2.1.3.2. Wie sich aus der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (vgl. VfSlg. 17.013/2003 und 17.734/2005) ergibt, enthält Art 8 EMRK zwar kein Recht von Fremden auf Entfaltung des Privat- und Familienlebens in einem bestimmten Aufenthaltsstaat ihrer Wahl, dennoch kann sich - in einem System, das die Erteilung von Aufenthaltstiteln vorsieht - aus Art 8 EMRK unter besonderen Umständen eine Verpflichtung des Staates ergeben, den Aufenthalt eines Fremden zu ermöglichen, mit der Folge, dass die Verweigerung der Erteilung eines Aufenthaltstitels einen Eingriff in dieses Grundrecht bildet.

Die §§72 Abs 1, 73 Abs 2 und 3 NAG stellen unter dem Aspekt humanitärer Gründe wesentlich auf Interessen von Fremden - auch solcher, für die besondere Umstände aus Art 8 EMRK ein Recht auf Erteilung eines Aufenthaltstitels begründen können - ab, schließen aber generell die Möglichkeit aus, dass der einzelne Rechtsschutzsuchende diese Interessen als seine Rechte unabhängig vom Tätigwerden der Behörden geltend machen kann. Aus rechtsstaatlichen Gründen ist es jedoch unzulässig, in diesen Fällen lediglich ein Tätigwerden der Behörden von Amts wegen vorzusehen und keine Antragstellung des - in seinen Rechten betroffenen - Einzelnen zuzulassen.

2.1.4.1. In seinen Prüfungsbeschlüssen hat der Verfassungsgerichtshof erwogen, ob aus § 11 Abs 3 NAG die Möglichkeit ableitbar ist, ein Antragsrecht auf Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels in Fällen anzunehmen, in denen ein solches auf Grund der Art 8 iVm 13 EMRK bzw. aus rechtsstaatlichen Erwägungen als notwendig erachtet wird.

2.1.4.2. Die Bundesregierung vertritt in ihren Äußerungen im Wesentlichen die Auffassung, dass § 11 Abs 3 NAG innerhalb des Systems der verschiedenen Arten von Aufenthaltstiteln eine im Verfahren zur Erteilung zu beachtende Ausnahme von den Erteilungsvoraussetzungen bilde.

2.1.4.3. § 11 NAG enthält die allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung von Aufenthaltstiteln. Abs 1 leg.cit. legt jene Voraussetzungen fest, unter denen einem Fremden ein Aufenthaltstitel jedenfalls nicht erteilt werden darf (absolute Versagungsgründe), Abs 2 zählt jene Voraussetzungen auf, die erfüllt sein müssen, um einem Fremden einen Aufenthaltstitel zu erteilen (Erteilungsvoraussetzungen). § 11 Abs 3 NAG bestimmt diesbezüglich, dass ein Aufenthaltstitel trotz Ermangelung der in § 11 Abs 2 leg.cit. aufgezählten Voraussetzungen erteilt werden kann, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- oder Familienlebens iSd Art 8 EMRK geboten ist. Scheitert somit ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels an einer der Voraussetzungen des § 11 Abs 2 NAG, ermöglicht der Ausnahmetatbestand des Abs 3 eine Bedachtnahme auf Art 8

EMRK.

Der vom Verfassungsgerichtshof erwogene Weg, aus § 11 Abs 3 NAG ein Antragsrecht auf Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels abzuleiten, hat sich als nicht gangbar erwiesen: Da § 11 Abs 3 NAG ausschließlich vom Vorliegen der Voraussetzungen des Abs 2 leg.cit. dispensiert, schafft er darüber hinaus keine Möglichkeit der Antragstellung auf Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels.

2.1.5. Die Wortfolge "von Amts wegen" in den §§72 Abs 1, 73 Abs 2 und 3 NAG war aus rechtsstaatlichen Erwägungen als verfassungswidrig aufzuheben.

2.2. Zur Wortfolge "von Amts wegen" in § 74 NAG:

2.2.1. Die Oberösterreichische Landesregierung behauptet des Weiteren die Verfassungswidrigkeit der Wortfolge "von Amts wegen" in '74 NAG. Die Wortfolge verstoße gegen Art 8 iVm 13 EMRK und verletze "das Prinzip der faktischen Effizienz des Rechtsschutzes". Darüber hinaus sei die Wortfolge auch aus Sachlichkeitserwägungen verfassungsrechtlich bedenklich.

2.2.2. Nach Auffassung der Bundesregierung ergibt sich aus dem Legalitätsprinzip, dass die Behörden auf Grund und im Rahmen der Gesetze tätig werden und gegebenenfalls, wenn dies (verfassungs-)gesetzlich vorgesehen ist, auch zum Tätigwerden verpflichtet sein können. Die Klärung der Frage, welche Form der Einleitung eines Verwaltungsverfahrens - von Amts wegen und/oder auf Antrag - vorzusehen sei, bleibe dem Gesetzgeber überlassen.

2.2.3. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom , B1263,1264/07 ausgesprochen hat, hegt er keine Bedenken gegen § 74 NAG. Diese Bestimmung hat - wie ihre Vorgängerbestimmungen (§§14 Abs 2 iVm 10 Abs 4 FrG 1997) - eine Ausnahme vom Grundsatz der Auslandsantragstellung zum Inhalt. Liegen die Voraussetzungen des § 72 NAG vor, ist ungeachtet des Wortlautes des Gesetzes ("kann") die in § 74 NAG ausnahmsweise vorgesehene Antragstellung im Inland zuzulassen, wobei diese Zulassung im Rechtsweg erzwungen werden kann.

Diese - vom Verfassungsgerichtshof als geboten erachtete - verfassungskonforme Interpretation der Wortfolge "von Amts wegen" in § 74 NAG steht nicht im Widerspruch zur Aufhebung der Wortfolge "von Amts wegen" in den §§72 Abs 1, 73 Abs 2 und 3 leg.cit.: Der Unterschied zwischen § 74 NAG und den §§72 Abs 1, 73 Abs 2 und 3 leg.cit. besteht nämlich darin, dass die Frage, ob ein Antrag auf Erteilung eines (humanitären) Aufenthaltstitels im Inland gestellt werden darf, jedenfalls im Rechtsweg geklärt werden kann. Für die Frage der Erteilung eines Aufenthaltstitels ist hingegen eine solche Klärung ausgeschlossen, wenn ein Antragsrecht überhaupt fehlt.

Die Bedenken der Oberösterreichischen Landesregierung gegen § 74 NAG erweisen sich daher als unbegründet.

2.3. Zu § 75 NAG:

2.3.1. Nach Auffassung der Oberösterreichischen Landesregierung verstößt das Zustimmungsrecht des Bundesministers für Inneres zur Erteilung von Aufenthaltstiteln "aus humanitären Gründen" gegen das Bestimmtheitsgebot des Art 18 B-VG, weil die Regelung keine Hinweise enthalte, nach welchen Kriterien dieses Zustimmungsrecht auszuüben sei. Dem eingeräumten Ermessen wären somit keine Grenzen gesetzt.

Darüber hinaus verstoße § 75 NAG gegen ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassicher Diskriminierung, BGBl. 390/1973, weil dem Bundesminister für Inneres auf Grund der Verfahrensgestaltung nur jene Fälle vorgelegt würden, die nach Ansicht der Behörde die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus "besonders berücksichtigungswürdigen Gründen" erforderlich machen; er werde hingegen nicht befasst, wenn die Behörde keine "berücksichtigungswürdigen Gründe" als gegeben erachte. Die Bestimmung sei nicht geeignet, das Ziel eines einheitlichen Vollzugs zu erreichen und daher sowohl unverhältnismäßig als auch unsachlich.

2.3.2. In ihrer Äußerung führt die Bundesregierung unter anderem aus, dass der Bundesminister für Inneres unabhängig von seiner Zustimmungsbefugnis nach § 75 NAG als oberste Aufsichtsbehörde nach Art 103 Abs 1 B-VG eine Weisungsbefugnis gegenüber dem Landeshauptmann habe.

2.3.3. Der Verfassungsgerichtshof hat bereits in seinem Beschluss VfSlg. 15.687/1999 zu der der nunmehr bereinigten Rechtslage im Wesentlichen entsprechenden Vorgängerbestimmung des § 90 Abs 1 FrG 1997 erkennen lassen, dass gegen die Zustimmungsbefugnis des Bundesministers für Inneres - im Interesse einer möglichst einheitlichen Gesetzeshandhabung - keine Bedenken bestehen.

Soweit die Oberösterreichische Landesregierung kritisiert, dem Bundesminister für Inneres sei ein schrankenloses Ermessen eingeräumt - was gegen das Bestimmtheitsgebot des Art 18 B-VG verstoße -, ist darauf hinzuweisen, dass der Bundesminister für Inneres bei der Ausübung seines Zustimmungsrechts an dieselben gesetzlichen Kriterien gebunden ist wie die zur Bescheiderlassung zuständige Behörde und dass durch die Aufhebung der Wortfolge "von Amts wegen" in den §§72 Abs 1, 73 Abs 2 und 3 NAG und die damit verbundene Einräumung eines Antragsrechts die rechtsstaatliche Kontrolle negativer behördlicher Entscheidungen sichergestellt ist.

Die Bedenken der Oberösterreichischen Landesregierung hinsichtlich § 75 NAG haben sich daher als unbegründet erwiesen.

3. Im Ergebnis ist daher auszusprechen, dass in den §§72 Abs 1, 73 Abs 2 und 3 NAG, idF BGBl. I 100/2005, jeweils die Wortfolge "von Amts wegen" als verfassungswidrig aufgehoben wird.

Hingegen sind die Anträge der Oberösterreichischen Landesregierung auf Aufhebung der Wortfolge "von Amts wegen" in § 74 NAG sowie auf Aufhebung des § 75 NAG abzuweisen.

4. Der Verfassungsgerichtshof setzt - gestützt auf Art 140 Abs 5 letzter Satz B-VG - für das Außer-Kraft-Treten eine Frist bis zum , weil nicht ausgeschlossen ist, dass nach der Aufhebung der Wortfolge "von Amts wegen" in den §§72 Abs 1, 73 Abs 2 und 3 NAG legistische Vorkehrungen getroffen werden müssen. Da die Wortfolge "von Amts wegen" aus rechtsstaatlichen Überlegungen aufgehoben wird, wird für das Außer-Kraft-Treten eine Frist von lediglich neun Monaten gesetzt, um die bestehende Verfassungswidrigkeit ehest möglich zu beseitigen.

Der Ausspruch, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten, beruht auf Art 140 Abs 6 B-VG.

Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung im Bundesgesetzblatt erfließt aus Art 140 Abs 5 B-VG.