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VfGH vom 29.11.2012, g23/12

VfGH vom 29.11.2012, g23/12

Sammlungsnummer

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Leitsatz

Aufhebung einer Regelung des StGB über den Begriff der Angehörigen wegen ungerechtfertigter Schlechterstellung von Eltern ehelicher Kinder nach Beendigung der Ehe gegenüber Eltern unehelicher Kinder; kein Vorliegen einer durch Analogie zu schließenden planwidrigen Lücke

Spruch

I. Das Wort "unehelichen" in § 72 Abs 1 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. I Nr. 60/1974 idF BGBl. I Nr. 135/2009, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

II. Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht

wieder in Kraft.

III. Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Sachverhalt, Antragsvorbringen, Vorverfahren

1. Das Oberlandesgericht Wien stellte aus Anlass

eines bei ihm anhängigen Berufungsverfahrens gemäß Art 140 Abs 1 B-VG den Antrag auf Aufhebung des Wortes "unehelichen" in § 72 Abs 1 StGB idF BGBl. I 135/2009.

2. Diesem Verfahren liegt folgender Sachverhalt

zugrunde:

2.1. Seitens der Staatsanwaltschaft Wien wurde einem bestimmten Angeklagten als Vergehen der Begünstigung nach § 299 Abs 1 StGB zur Last gelegt, seine geschiedene Gattin, die das Vergehen des (teils versuchten) schweren Betruges nach §§146 ff. und 15 StGB begangen hatte, dadurch absichtlich der Verfolgung wegen dieses Deliktes entzogen zu haben, dass er in dem gegen die Genannte anhängigen polizeilichen Ermittlungsverfahren unrichtig angab, nicht sie, sondern er habe die in Rede stehenden Betrugstaten begangen.

2.2. Mit Urteil des Landesgerichtes für

Strafsachen Wien vom wurde der Angeklagte von diesem Vorwurf gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen, während seine geschiedene Gattin mit demselben Urteil des ihr angelasteten Vergehens des schweren Betruges schuldig erkannt wurde.

2.3. Den Freispruch begründete das Landesgericht

damit, dass der Angeklagte zwar alle objektiven und subjektiven Merkmale des Tatbestandes nach § 299 Abs 1 StGB erfüllt habe, ihm aber der Straflosigkeitsgrund des § 299 Abs 3 erster Fall StGB zugute komme; das Angehörigenverhältnis zu seiner früheren Ehefrau, mit der er drei gemeinsame Kinder habe, bestehe ungeachtet der Scheidung weiter; die Bestimmung des § 72 Abs 1 StGB enthalte insoweit eine planwidrige Lücke, die durch analoge Anwendung der in derselben Vorschrift enthaltenen Regelung über das Angehörigenverhältnis von Vater und Mutter eines unehelichen Kindes zu schließen sei; andernfalls würde eine nicht zu rechtfertigende Bevorzugung von Eltern unehelicher Kinder eintreten.

2.4. Gegen diesen Freispruch erhob die Staatsanwaltschaft Wien Berufung wegen Nichtigkeit: Dem Gesetz könne auch im Fall des Vorhandenseins gemeinsamer Kinder eine Privilegierung geschiedener Eheleute nicht entnommen werden, das Vorliegen einer planwidrigen Lücke scheide aus.

3. Im vorliegenden Antrag führte das Oberlandesgericht Wien zur Präjudizialität der angefochtenen Bestimmung aus:

"§72 Abs 1 StGB legt für den Anwendungsbereich dieses Gesetzes fest, wer als Angehöriger einer Person zu betrachten ist. Demnach darf das Eheverhältnis materiellstrafrechtlich nicht mehr berücksichtigt werden, wenn die verbindende Ehe im Tatzeitpunkt infolge Todes, Scheidung oder aus anderen Gründen nicht mehr besteht. Anderes gilt aufgrund ausdrücklicher Ausnahmebestimmung für den Bereich der Strafprozessordnung (§156 f StPO) sowie in Fortführung dieser Privilegierung für den Aussagenotstand nach § 290 Abs 2 StGB. Für den gegenständlich zu beurteilenden Tatbestand nach § 299 Abs 1 StGB fehlt es an einem solchen Privileg (Leukauf-Steininger Komm3 § 72 RN 14 f; Jerabek in WK2 § 72 Rz 7)."

Die verfassungsrechtlichen Bedenken wurden

folgendermaßen dargelegt:

"Eine wortgetreue Auslegung des § 72 Abs 1 StGB führt dazu, dass die unehelichen Eltern eines gemeinsamen Kindes für alle Zukunft als Angehörige im Sinne dieser Gesetzesbestimmung (arg.: '..., der Vater oder die Mutter ihres unehelichen Kindes ...') gelten, die ehelichen Eltern eines solchen Nachwuchses, wenn sie sich in weiterer Folge scheiden lassen, aber nicht mehr als Angehörige zu betrachten sind und ihnen deshalb eine Privilegierung im Bereich des materiellen Strafrechts nur mehr dann zukommt, wenn eine solche im Gesetz ausdrücklich vorgesehen ist.

Eine sachliche Rechtfertigung für eine derartige Differenzierung ist jedoch nicht erkennbar, weil Eheleute im Vergleich zu Lebensgefährten oder Eltern ohne Beziehung weit mehr gesetzlich normierte gegenseitige Rechte und Pflichten treffen (z.B. § 44 ABGB), sodass nicht einzusehen ist, warum nach Scheidung einer solch intensiveren Beziehung den geschiedenen Eltern im Gegensatz zu unehelichen das Angehörigenprivileg abzuerkennen sein sollte (vgl. Jerabek aaO § 72 Rz 7; Kirchbacher/Presslauer aaO § 166 Rz 10 f).

Die seitens der Anklagebehörde ins Treffen geführte Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu 14 Os 174/89 gilt es dabei zu überdenken, zum einen, weil sie primär auf das vom Gesetzgeber mittlerweile beseitigte Ermächtigungserfordernis (BGBl I 2006/56) zum Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 und 2 StGB Bezug nimmt, zum anderen, weil sie auf die schon damals vorliegenden Zweifel zur Gleichbehandlung nicht eingeht (vgl. Mayerhofer-Rieder3 Anm 5 zu § 72 und Soyer, ÖJZ 1987, 587).

Aufgrund dieser Bedenken gilt es die sachlich nicht begründbare Ungleichbehandlung (Art2 StGG) von unehelichen Eltern und geschiedenen Eheleuten, die durch gemeinsame eheliche Kinder verbunden sind, zu beseitigen. Theoretisch bestehen dazu zwei Möglichkeiten, nämlich entweder auch den unehelichen Eltern das Angehörigenverhältnis zu verweigern oder aber es allen Eltern, gleich ob geschieden oder unehelich, zuzubilligen. Aufgrund der vom Gesetzgeber gezeigten Intention im Sinne des § 72 Abs 1 StGB kommt jedoch nur die zweite Variante in Frage.

Das Berufungsgericht sieht sich daher veranlasst, dem Verfassungsgerichtshof die Möglichkeit zu geben, die Verfassungsmäßigkeit der zitierten Bestimmung zu prüfen und stellt den aus dem Spruch ersichtlichen Antrag."

4. Die Bundesregierung erstattete über Einladung des Verfassungsgerichtshofes eine Äußerung, in der sie beantragt, den Antrag als unzulässig zurückzuweisen, in eventu, die angefochtene Bestimmung nicht als verfassungswidrig aufzuheben.

4.1. Zu den Prozessvoraussetzungen brachte die Bundesregierung vor:

"Die Grenzen der Aufhebung einer auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu prüfenden Gesetzesvorschrift sind in einem auf Antrag eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahren notwendig so zu ziehen, dass einerseits der verbleibende Gesetzesteil nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und dass andererseits die mit der aufzuhebenden Gesetzesstelle untrennbar zusammenhängenden Bestimmungen auch erfasst werden; der Verfassungsgerichtshof geht bei Bestimmung des Umfangs einer als verfassungswidrig aufzuhebenden Rechtsvorschrift stets vom Grundgedanken aus, dass ein Normenprüfungsverfahren dazu führen soll, eine festgestellte Verfassungswidrigkeit zu beseitigen, dass aber der nach der Aufhebung verbleibende Teil der Norm möglichst nicht mehr verändert werden soll als zur Bereinigung der Rechtslage unbedingt notwendig ist (vgl. zB VfSlg. 8155/1977, 8461/1978, 12.464/1990, 14.740/1997, 18.087/2007).

Im vorliegenden Antrag ist nach Auffassung der Bundesregierung der Anfechtungsumfang zu eng gefasst, da ausschließlich das Wort 'unehelichen' in § 72 Abs 1 StGB angefochten wird. Das antragstellende Gericht übersieht, dass § 72 Abs 1 StGB, der lediglich eine Definition des Begriffs 'Angehörige' vorsieht, keine eigenständige normative Bedeutung zukommt. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen hat, erhält eine Legaldefinition eine solche Bedeutung erst im Zusammenhang mit anderen Regelungen, die den definierten Begriff verwenden (vgl. zB VfSlg. 17.340/2004, 18.087/2007).

Der Antrag erweist sich daher nach Auffassung der Bundesregierung wegen unrichtiger Abgrenzung des Anfechtungsumfangs als unzulässig, weshalb er zurückzuweisen wäre."

4.2. Im Hinblick auf die Bedenken trug die Bundesregierung vor:

"1.1. Die Bundesregierung verweist eingangs auf die ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, wonach sich der Gerichtshof in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art 140 B-VG auf die Erörterung der aufgeworfenen Bedenken zu beschränken hat (vgl. zB 14.050/1995 und 14.466/1996). Der Verfassungsgerichtshof beurteilt ausschließlich, ob die angefochtenen Bestimmungen aus den in der Begründung des Antrags dargelegten Gründen verfassungswidrig sind (vgl. zB 14.466/1996). Die Bundesregierung beschränkt sich daher im Folgenden auf die Erörterung der vom antragstellenden Gericht vorgetragenen Bedenken.

1.2. Das antragstellende Gericht hegt das Bedenken, dass eine wortgetreue Auslegung des § 72 Abs 1 StGB dazu führt, dass die unehelichen Eltern eines gemeinsamen Kindes für alle Zukunft als Angehörige im Sinne dieser Gesetzesbestimmung gelten, nicht aber die ehelichen Eltern nach einer Scheidung, sodass ihnen eine Privilegierung im Bereich des materiellen Strafrechts nur mehr dann zukommt, wenn sie im Gesetz ausdrücklich vorgesehen ist. Das sei eine sachlich nicht begründbare Ungleichbehandlung, die gegen Art 2 StGG verstoße.

2. Nach Auffassung der Bundesregierung besteht bei der Festlegung der Angehörigeneigenschaft in § 72 Abs 1 StGB im Zusammenhang mit dem Delikt der Begünstigung nach § 299 StGB hinsichtlich geschiedener Ehegatten eine planwidrige Lücke, die durch analoge Anwendung des Angehörigenverhältnisses zwischen Vater und Mutter eines unehelichen Kindes zu schließen ist.

2.1. Ein solcher Analogieschluss ist verfassungsrechtlich zulässig:

2.1.1. Der Verfassungsgerichtshof hat nach Maßgabe des Konzepts des Gesetzgebers und zur Vermeidung einer gleichheitswidrigen Rechtslage schon mehrfach das Vorliegen einer planwidrigen Lücke angenommen und diese im Wege der Analogie geschlossen (vgl. VfSlg. 10.612/1985, 10.720/1985, 13.486/1993, 13.786/1994, 13.796/1994, 13.822/1994, 15.197/1998, 17.794/2006).

Oberndorfer/Wagner (Gesetzgeberisches Unterlassen als Problem verfassungsgerichtlicher Kontrolle, EuGRZ 2009, S. 434) beschreiben diese Judikatur wie folgt: 'Ein vorerst unter dem Aspekt der Gleichheit lückenhaftes, also mangels einer hinreichenden ausdrücklichen Regelung verfassungswidriges Gesetz, wird dabei unter dem Titel und mit Hilfe verfassungskonformer Interpretation [...] per analogiam umgedeutet. [...] Kann eine unter dem Aspekt des Gleichheitssatzes unvollständige gesetzliche Regelung als Rechtslücke verstanden und durch Analogie geschlossen werden, so ist insoweit per se eine Verfassungswidrigkeit ausgeschlossen.'

2.1.2. Das Analogieverbot im Strafrecht steht einer analogen Gesetzesanwendung im vorliegenden Fall nicht entgegen, da sie zugunsten des Angeklagten erfolgt: Art 7 Abs 1 EMRK verbietet jede Ausweitung von Strafbestimmungen insbesondere durch Analogie nämlich nur zum Nachteil des Angeklagten (vgl. zB EGMR, Kokkinakis, Serie A Nr. 260 [ÖJZ 1994, 59], Z 52; SW, Serie A Nr. 335-B [ÖJZ 1996, 356], Z 35; Cantoni, RJD 1996-V, 1613 [ÖJZ 1997, 579], Z 29). Durch das Analogieverbot wird auch nur eine Einschränkung strafbarkeitsbeschränkender Merkmale wie Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgründe begrenzt (Thienel, in:

Korinek/Holoubek [Hrsg.], Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art 7 EMRK, Rz. 19). Eine Analogie zugunsten des Angeklagten ist hingegen nicht unzulässig (Thienel, aa0, Rz. 17 unter Verweis insbesondere auf EKMR, Appl 1852/63, Yb 1965, 190 [198]; Appl 7721/76, DR 11, 209 [211]).

2.2. Das Vorliegen einer - im Wege der Analogie zu schließenden - planwidrigen Lücke in § 72 Abs 1 StGB im Zusammenhang mit dem Delikt der Begünstigung nach § 299 StGB ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte und wird auch vom Schrifttum angenommen:

2.2.1. In der Regierungsvorlage zum Strafgesetzbuch (30 BIgNR 13. GP) war der Angehörigenbegriff in § 75 geregelt. Während § 75 Abs 1 StGB idF der Regierungsvorlage gleich lautete wie § 72 Abs 1 in der Gesetz gewordenen und geltenden Fassung, enthielt § 75 Abs 2 StGB idF der Regierungsvorlage - ebenso wie bereits der Entwurf 1968 (RV 706 BIgNR 11. GP) - eine Bestimmung über die Fortdauer der Angehörigeneigenschaft über das Ende der Ehe hinaus. § 75 Abs 2 StGB idF der Regierungsvorlage lautete wie folgt:

'(2) Ein eheliches Verhältnis begründet die Eigenschaft einer Person als Angehörigen einer anderen auch dann noch, wenn es nicht mehr besteht.'

Insofern bedurften die Eltern ehelicher Kinder keiner gesonderten Erwähnung, weil sie sowohl während aufrechter Ehe als auch nach Auflösung derselben im Verhältnis zueinander als Angehörige gegolten hätten. Regelungsbedarf bestand hingegen für die Angehörigeneigenschaft von Eltern unehelicher Kinder zueinander. Daraus erklärt sich, dass in § 72 Abs 1 StGB, der den § 75 Abs 1 StGB idF der Regierungsvorlage unverändert übernommen hat, vom 'unehelichen' Kind die Rede ist (vgl. Nowakowski, Zur Angehörigeneigenschaft Geschiedener im Strafrecht, ÖJZ 1987, S. 753).

Im Justizausschuss wurde jedoch die Regelung des § 75 Abs 2 StGB idF der Regierungsvorlage in § 72 StGB nicht übernommen, wobei der Justizausschuss dies nicht näher begründete, sondern lediglich festhielt, dass das Angehörigenverhältnis den Täter grundsätzlich begünstige und eine solche Begünstigung nach Auflösung des ehelichen Verhältnisses nicht mehr zu begründen sei (AB 959 BIgNR 13. GP, 15). Im Unterausschuss des Justizausschusses wurde bei der Streichung des § 75 Abs 2 StGB idF der Regierungsvorlage die Meinung vertreten, dass die Nahebeziehung zwischen Geschiedenen eine 'Fiktion' sei (vgl. Nowakowski, Zur Angehörigeneigenschaft Geschiedener im Strafrecht, ÖJZ 1987, S. 752, FN 11).

Allerdings schuf der Justizausschuss dessen

ungeachtet für den Aussagenotstand nach § 290 StGB sehr wohl eine entsprechende 'Begünstigungsklausel'; dessen Abs 2 StGB normierte, dass die durch eine Ehe begründete Eigenschaft einer Person als Angehöriger aufrecht bleibt, auch wenn die Ehe nicht mehr besteht. Näher begründet wurde (auch) diese Regelung vom Justizausschuss nicht (vgl. AB 959 BIgNR 13. GP, 35).

2.2.2. Angesichts dieser Entstehungsgeschichte hat schon Pallin in der ersten Auflage des Wiener Kommentars zum StGB im Jahre 1980 bestritten, dass die Einbeziehung ehemaliger Ehegatten in den Angehörigenkreis nur beim Aussagenotstand nach § 290 StGB planmäßig sei. Er hält das Fehlen einer entsprechenden Bestimmung in § 299 StGB für ein 'Versehen des Justizausschusses' und befürwortet einen Analogieschluss (Pallin, aaO, Rz 23ff zu § 299).

Dem pflichtet K. Nowakowski wegen der engen Verwandtschaft sowohl des § 299 Abs 3 StGB als auch des § 299 Abs 4 StGB mit § 290 StGB bei. Nach Nowakowski besteht zwischen § 290 StGB und § 299 StGB auch insofern eine Gemeinsamkeit, als im Gegensatz zu den Delikten gegen Angehörige bei den hier erörterten Bestimmungen das Erfordernis einer Hausgemeinschaft fehle. Auf die Verstärkung und Aktualisierung der entfernteren Angehörigenverhältnisse werde verzichtet. Man könnte auch darin ein Argument dafür sehen, von § 290 StGB auf § 299 StGB zu schließen. Die Anforderungen seien in gleicher Weise herabgesetzt, der Gesichtspunkt der 'Fiktion' könnte in gleicher Weise zurücktreten (Nowakowski, aaO, S. 752). Dass § 75 Abs 2 StGB idF der Regierungsvorlage für den Bereich des materiellen Rechtes verworfen worden sei, muss nach Auffassung von Nowakowski nicht Ausdruck einer § 299 StGB betreffenden Wertung sein. Schon in der Strafrechtskommission sei die Diskussion vom Entschlagungsrecht dominiert worden. Nowakowski weist auch darauf hin, dass im Unterausschuss Serini es als das Anliegen der Kommission darstellte, § 152 StPO dem § 321 ZPO gleichzustellen. Die Einbeziehung Geschiedener sei der Kommission von ihm selbst vorgeschlagen worden. Er hätte dabei auch die Begünstigung zur Sprache gebracht. Nur von Delikten gegen Angehörige sei nicht die Rede gewesen (vgl. Nowakowski, aa0, S. 752). In der Kommission habe Serini gemeint, es sei 'an die Kinder zu denken, die ein auch zwischen geschiedenen Ehegatten unauflösliches Band darstellen'. Der Vorschlag von Tschadek, auch die Eltern unehelicher Kinder zu berücksichtigen, sei nur eine Weiterführung dieses Gedankens gewesen. Man hätte ihn, da § 75 Abs 2 StGB idF der Regierungsvorlage nicht Gesetz geworden sei, im Justizausschuss streichen oder anpassen müssen. Die Bestimmung sei aber nicht erörtert worden, was zum Analogieschluss vom 'unehelichen' auf das 'eheliche' Kind zwinge (Nowakowski, aaO, S. 753).

Soweit ersichtlich, geht auch das übrige

strafrechtliche Schrifttum einhellig davon aus, dass für das Delikt der Begünstigung auch geschiedene Ehegatten als Angehörige iSd. § 299 Abs 3 StGB anzusehen sind, wobei diese Auffassung teils aus einem Analogieschluss zu § 290 Abs 2 StGB, teils aus § 72 Abs 1 StGB selbst gewonnen wird (vgl. Triffterer, SbgK § 72 Rz. 12; Jerabek, WK StGB2 § 72 Rz. 7, Kirchbacher/Presslauer, WK StGB2 § 166 Rz. 10 f; nach Soyer, Angehörigeneigenschaft der geschiedenen Ehegatten im Strafrecht, ÖJZ 1987, S. 587, sind unter Ehegatten iSd. § 72 Abs 1 StGB - unabhängig vom Vorhandensein gemeinsamer Kinder - auch die geschiedenen Ehegatten zu verstehen, sodass der Gesetzgeber mit § 290 Abs 2 StGB eine 'unnotwendige Fleißaufgabe' unternommen habe).

2.3. Der Oberste Gerichtshof hat in einer - soweit ersichtlich - vereinzelt gebliebenen Entscheidung

(14 Os 175/89 v ) zu der (durch das Bundesgesetz BGBl. I Nr. 56/2006 aufgehobenen) Bestimmung des § 107 Abs 4 StGB, wonach eine gefährliche Drohung unter Angehörigen nur mit Ermächtigung des Bedrohten zu verfolgen ist, offenbar unter Bezugnahme auf § 72 Abs 1 StGB die Auffassung vertreten, dass 'dem Gesetz eine Privilegierung geschiedener Eheleute dem Beschwerdestandpunkt zuwider selbst im Falle gemeinsamer Kinder nicht zu entnehmen' ist.

Diese Entscheidung ist im strafrechtlichen Schrifttum kritisiert worden (Jerabek, WK StGB2 § 72 Rz. 7: 'unhaltbar'). Insbesondere wurde darauf hingewiesen, dass es bei diesem Verständnis des § 72 Abs 1 StGB zu Wertungswidersprüchen käme:

So würde ein bestehendes Angehörigenverhältnis der Eltern eines unehelichen Kindes erlöschen, wenn sie einander zunächst heiraten, wodurch die gemeinsamen unehelichen Kinder zu ehelichen werden (§161 ABGB), und sich danach scheiden lassen. Blieben sie unverheiratet, würde das Angehörigenverhältnis hingegen weiter bestehen. Ein weiterer Wertungswiderspruch ergibt sich in dem Fall, in dem ein Ehemann neben ehelichen auch uneheliche Kinder hat; er wäre ab Auflösung der Ehe nach dem Gesetzeswortlaut zwar nicht mehr Angehöriger der Mutter der ehelichen Kinder, wohl aber weiterhin Angehöriger der Mutter der unehelichen Kinder (Kirchbacher/Presslauer, WK StGB2 § 166 Rz. 11).

2.4. Eine bewusste Anordnung solcher sachlich nicht begründeter Unterschiede ergibt sich weder aus der Entstehungsgeschichte, noch entspricht sie der Gesetzessystematik. Die Bundesregierung geht daher davon aus, dass die Festlegung der Angehörigeneigenschaft in § 72 Abs 1 StGB im Zusammenhang mit dem Delikt der Begünstigung nach § 299 StGB hinsichtlich ehemaliger Ehegatten planwidrig unvollständig ist. Diese Lücke ist - unabhängig davon, ob gemeinsame Kinder vorhanden sind oder nicht - durch analoge Anwendung des § 290 Abs 2 StGB, im konkreten Fall aber auch - im Hinblick auf das Vorhandensein ehelicher Kinder - durch analoge Anwendung des in § 72 Abs 1 StGB vorgesehenen Angehörigenverhältnisses zwischen Vater und Mutter eines unehelichen Kindes zu schließen, um eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von geschiedenen und von unehelichen Eltern zu vermeiden. Es sind daher auch geschiedene Ehegatten unter den Angehörigenbegriff des § 72 Abs 1 iVm. § 299 Abs 3 StGB zu subsumieren.

Die vom antragstellenden Gericht behauptete Ungleichbehandlung liegt daher nicht vor."

II. Rechtslage

1. Die im gegebenen Zusammenhang maßgeblichen Bestimmungen des StGB, BGBl. 60/1974 idF BGBl. I 135/2009, lauten (das angefochtene Wort ist hervorgehoben):

"Allgemeiner Teil"

"ACHTER ABSCHNITT

Begriffsbestimmungen"

"Angehörige

§72. (1) Unter Angehörigen einer Person sind ihre Verwandten und Verschwägerten in gerader Linie, ihr Ehegatte oder eingetragener Partner und die Geschwister des Ehegatten oder eingetragenen Partners, ihre Geschwister und deren Ehegatten oder eingetragene Partner, Kinder und Enkel, die Geschwister ihrer Eltern und Großeltern, ihre Vettern und Basen, der Vater oder die Mutter ihres unehelichen Kindes, ihre Wahl- und Pflegeeltern, ihre Wahl- und Pflegekinder, sowie Personen, über die ihnen die Obsorge zusteht oder unter deren Obsorge sie stehen, zu verstehen.

(2) Personen, die miteinander in Lebensgemeinschaft leben, werden wie Angehörige behandelt, Kinder und Enkel einer von ihnen werden wie Angehörige auch der anderen behandelt."

"Besonderer Teil"

"EINUNDZWANZIGSTER ABSCHNITT

Strafbare Handlungen gegen die Rechtspflege"

"Aussagenotstand

§290. (1) Wer eine falsche Beweisaussage (§§288, 289) ablegt, um von sich oder einem Angehörigen Schande oder die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung oder eines unmittelbaren und bedeutenden vermögensrechtlichen Nachteils abzuwenden, ist nicht zu bestrafen, wenn er von der Verbindlichkeit zur Ablegung eines Zeugnisses befreit war oder hätte befreit werden können und wenn er

1. nicht wußte, daß dies der Fall war,

2. den Befreiungsgrund nicht geoffenbart hat, um die schon aus der Offenbarung drohenden Folgen der bezeichneten Art abzuwenden, oder

3. zur Ablegung der Aussage zu Unrecht verhalten

worden ist.

(1a) Der Täter ist nach § 288 Abs 3 ferner nicht zu bestrafen, wenn sich die Untersuchung des Ausschusses gemäß Art 53 B-VG gegen ihn gerichtet und er eine falsche Beweisaussage abgelegt hat, um die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung von sich abzuwenden.

(2) Die durch eine Ehe oder eingetragene

Partnerschaft begründete Eigenschaft einer Person als Angehöriger bleibt aufrecht, auch wenn die Ehe oder eingetragene Partnerschaft nicht mehr besteht.

(3) Der Täter ist jedoch auch bei Vorliegen der Voraussetzungen des Abs 1 zu bestrafen, wenn es ihm insbesondere im Hinblick auf den aus der falschen Aussage einem anderen drohenden Nachteil dennoch zuzumuten ist, wahrheitsgemäß auszusagen."

"Begünstigung

§299. (1) Wer einen anderen, der eine mit Strafe

bedrohte Handlung begangen hat, der Verfolgung oder der Vollstreckung der Strafe oder vorbeugenden Maßnahme absichtlich ganz oder zum Teil entzieht, ist mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.

(2) Wer einen anderen dazu verleitet, ihn zu

begünstigen, ist nach Abs 1 nicht zu bestrafen.

(3) Nach Abs 1 ist ferner nicht zu bestrafen, wer die Tat in der Absicht begeht, einen Angehörigen zu begünstigen oder zu verhindern, daß er selbst wegen Beteiligung an der strafbaren Handlung, derentwegen der Begünstigte verfolgt wird oder eine Strafe oder vorbeugende Maßnahme an ihm vollstreckt werden soll, bestraft oder einer vorbeugenden Maßnahme unterworfen werde.

(4) Wer eine der im Abs 1 mit Strafe bedrohten

Handlungen begeht, um von sich oder einem Angehörigen Schande oder die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung oder eines unmittelbaren und bedeutenden vermögensrechtlichen Nachteils abzuwenden, ist nicht zu bestrafen, wenn die Folgen, die durch die Tat abgewendet werden sollten, auch unter Berücksichtigung der Gefährlichkeit des Begünstigten und der Schwere der Tat, die der Begünstigte begangen hat oder derentwegen er verurteilt worden ist, schwerer gewogen hätten als die nachteiligen Folgen, die aus der Tat entstanden sind oder hätten entstehen können."

2. Die Bestimmung des § 72 Abs 1 StGB findet sich hinsichtlich des hier maßgeblichen Wortlautes bereits in der Stammfassung des StGB. Mit der Novelle BGBl. I 135/2009 (mit der die Angehörigeneigenschaft eine Erweiterung im Hinblick auf eingetragene Partner erfuhr) wurde der gesamte Absatz 1 neu erlassen; dies trifft auch auf die Bestimmung des § 290 Abs 2 StGB zu.

3. Im Bericht des Justizausschusses zur Stammfassung der §§72 und 290 StGB heißt es (AB 959 BlgNR 13. GP, 15 und 35):

"Zu § 72

Die Regierungsvorlage sieht in ihrem Abs 2 vor, daß ein eheliches Verhältnis die Eigenschaft einer Person als Angehörigen einer anderen auch dann noch begründet, wenn es nicht mehr besteht. Diese Bestimmung wurde § 321 der Zivilprozeßordnung nachgebildet, und auch § 152 der Strafprozeßordnung soll in ähnlicher Weise gestaltet werden.

Der Justizausschuß ist jedoch der Ansicht, daß eine solche Regelung für den Bereich des materiellen Rechtes abzulehnen sei, weil das Angehörigenverhältnis den Täter grundsätzlich begünstige und eine solche Begünstigung nach Auflösung des ehelichen Verhältnisses nicht mehr zu begründen sei.

Abs3 der Regierungsvorlage, wonach Personen, die miteinander in außerehelicher Lebensgemeinschaft leben, wie Angehörige behandelt werden, wurde in seiner Fassung dahin präzisiert, daß es sich um Personen verschiedenen Geschlechts handeln müsse. Dadurch wird klargestellt, daß Lebensgemeinschaften Homosexueller oder solche von Großfamilien und Kommunen nicht miterfaßt werden. Hingegen wurde eingefügt, daß auch Kinder und Enkel einer der beiden in außerehelicher Lebensgemeinschaft lebenden Personen wie Angehörige auch des anderen zu behandeln sind.

[...]

Zu § 290

Zunächst schlägt der Justizausschuß vor, in einem

neuen Abs 2 festzuhalten, daß die hier relevante Angehörigeneigenschaft auch nach Auflösung der Ehe bestehen bleibt. Darüber hinaus schlägt der Justizausschuß vor, statt des Abs 2 der Regierungsvorlage im neuen Abs 3 im wesentlichen zur Fassung des Kommissionsentwurfes zurückzukehren, weil dessen Fassung klarer das rechtspolitische Ziel zum Ausdruck bringt, nämlich Aussagenotstand dann nicht anzuerkennen, wenn die wahrheitsgemäße Aussage dem Täter ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des Abs 1 zumutbar war."

III. Erwägungen

1. Prozessvoraussetzungen

1.1. Das antragstellende Rechtsmittelgericht hat im anhängigen Berufungsverfahren zu beurteilen, ob der Angeklagte als Angehöriger iSd § 299 Abs 3 StGB anzusehen ist. Der Personenkreis der Angehörigen ist in § 72 Abs 1 StGB umschrieben.

1.2. Nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes kommt Legaldefinitionen - wie die Bundesregierung an sich zu Recht hervorhebt - in der Regel keine eigenständige normative Bedeutung zu, weil eine solche grundsätzlich erst im Zusammenhang mit anderen Regelungen, die diesen Begriff verwenden, bewirkt wird (VfSlg. 17.340/2004 [S 512], 18.087/2007).

1.3. Allerdings hat der Verfassungsgerichtshof

darüber hinaus in ständiger Judikatur ausgesprochen, dass der Umfang der zu prüfenden und allenfalls aufzuhebenden Bestimmung derart abzugrenzen ist, dass einerseits nicht mehr aus dem Rechtsbestand ausgeschieden wird als Voraussetzung für den Anlassfall ist, dass aber andererseits der verbleibende Teil keine Veränderung seiner Bedeutung erfährt; da beide Ziele gleichzeitig niemals vollständig erreicht werden können, ist in jedem Einzelfall abzuwägen, ob und inwieweit diesem oder jenem Ziel der Vorrang vor dem anderen gebührt (VfSlg. 7376/1974, 9374/1982, 11.506/1987, 15.599/1999, 16.195/2001).

1.4. Die Grenzen einer (möglichen) Aufhebung müssen demnach so gezogen werden, dass einerseits der verbleibende Gesetzesteil nicht einen völlig veränderten Inhalt erhält und dass andererseits die mit der aufzuhebenden Gesetzesstelle in untrennbarem Zusammenhang stehenden Bestimmungen auch erfasst werden (VfSlg. 12.465/1990, 13.965/1994 mwN, 16.542/2002, 16.911/2003).

1.5. Vor diesem Hintergrund erweist sich im konkreten Fall, dass der Aufhebungsantrag zulässigerweise nur auf das Wort "unehelichen" in § 72 Abs 1 StGB bezogen und daher nicht zu eng gefasst wurde:

Unter der Prämisse, dass der Verfassungsgerichtshof den Bedenken des Oberlandesgerichtes Wien folgt, würde nämlich die Aufhebung des Wortes "unehelichen" in der Definition des § 72 Abs 1 StGB genügen, um die - behauptete - Verfassungswidrigkeit zu beseitigen, ohne dass Teile der präjudiziellen, "Angehörige" schlechthin begünstigenden Bestimmung des § 299 Abs 3 StGB - die das antragstellende Gericht nicht für verfassungswidrig hält - mit aufgehoben werden müssten, weil weder diese Vorschrift (noch die übrigen auf Angehörige iSd § 72 Abs 1 StGB bezogenen Regelungen des StGB) nach der bereinigten Rechtslage einen anderen Sinngehalt erhielten; vielmehr würde (anders als im Fall VfSlg. 17.263/2004) die Beseitigung des angefochtenen Wortes hinreichen, um die Rechtslage für den Anlassfall soweit zu bereinigen, dass die geltend gemachten Bedenken nicht mehr bestünden (zur Zurückweisung wegen zu weit gewählten Anfechtungsumfanges vgl. zB VfSlg. 15.468/1999, 16.562/2002, 18.299/2007).

1.6. Da auch die übrigen Prozessvoraussetzungen vorliegen, ist der Antrag zulässig.

2. In der Sache

2.1. Der Antrag ist auch begründet.

2.2. Wie schon dargelegt, bewirkt das Gesetz nach Auffassung des antragstellenden Gerichts eine ungerechtfertigte Schlechterstellung von Eltern ehelicher Kinder nach Beendigung der Ehe gegenüber Eltern unehelicher Kinder, weil Vater und Mutter eines gemeinsamen unehelichen Kindes gemäß § 72 Abs 1 StGB in jedem Fall (unabhängig vom Eingehen einer Lebensgemeinschaft bzw. auch nach Beendigung einer derartigen Partnerschaft) im Verhältnis zueinander als Angehörige gelten, verehelichte Elternteile gemeinsamer Kinder hingegen nach ihrer Scheidung aus dem Angehörigenkreis ausscheiden.

2.3. Anders als die Bundesregierung in ihrer Äußerung geht der Verfassungsgerichtshof nicht vom Vorliegen einer (vom Landesgericht für Strafsachen Wien im Anlassfall angenommenen und in der Lehre vertretenen) planwidrigen Lücke aus, die durch analoge Anwendung der für uneheliche Elternteile geltenden Regelung der Angehörigeneigenschaft auf geschiedene Elternteile zu schließen wäre (vgl. Jerabek, WK-StGB2, 2010, § 72 Rz 7 mwN):

2.3.1. Zwar kann das Unterlassen einer kraft Gleichheitssatzes notwendigen, vom Gesetzgeber aber unterlassenen rechtlichen Regelung grundsätzlich durch Heranziehung vergleichbarer Tatbestände per analogiam korrigiert werden; eine derartige Lückenschließung wäre zugunsten des Angeklagten auch im Strafrecht zulässig (vgl. Thienel, in: Korinek/Holoubek [Hrsg.], Österreichisches Bundesverfassungsrecht, 1999, Art 7 EMRK, Rz 16). Angesichts des systematischen Zusammenhanges der angefochtenen Gesetzesstelle und der Entstehungsgeschichte des § 72 Abs 1 StGB ist jedoch keine dem Gesetzgeber versehentlich unterlaufene Unvollständigkeit der Regelung anzunehmen.

2.3.2. Die zunächst noch in der Regierungsvorlage zum Strafgesetzbuch vorgesehene Regelung (im damaligen Abs 2 des § 75, der dann als § 72 Gesetz wurde) sah unabhängig von gemeinsamen Nachkommen die Beibehaltung der Angehörigeneigenschaft von Geschiedenen vor ("Ein eheliches Verhältnis begründet die Eigenschaft einer Person als Angehörigen einer anderen auch dann noch, wenn es nicht mehr besteht" - RV 30 BlgNR 13. GP, 13 f.). Diese Bestimmung entfiel nach Beratung im Justizausschuss, weil "das Angehörigenverhältnis den Täter grundsätzlich begünstige und eine solche Begünstigung nach Auflösung des ehelichen Verhältnisses nicht mehr zu begründen sei" (AB 959 BlgNR 13. GP, 15 - vgl. oben II.3.). Unter einem wurde im Sinne des Vorschlags des Justizausschusses in Bezug auf den Tatbestand des Aussagenotstandes nach § 290 Abs 2 StGB (und nur in diesem) ausdrücklich normiert, dass die Angehörigeneigenschaft nach Auflösung der Ehe bestehen bleibt.

2.3.3. Die auf Vater und Mutter eines gemeinsamen unehelichen Kindes bezogene Regelung der Angehörigeneigenschaft (die bereits in der angeführten Regierungsvorlage vorgesehen war) steht seit der Stammfassung des Strafgesetzbuches unverändert in Geltung. Die Aufnahme dieser Personen in den Angehörigenkreis wird in den Materialien mit "soziologischen Tatsachen" und der Weiterentwicklung des Familienrechts erklärt (RV 30 BlgNR 13. GP, 185).

2.3.4. Der Gesetzgeber hat die Bestimmung des § 72

StGB zweimal novelliert: Durch BGBl. I 153/1998 wurde der auf die Lebensgemeinschaft abstellende Abs 2 dahingehend erweitert, dass auch Lebensgemeinschaften gleichgeschlechtlicher Personen erfasst wurden. Mit der Novelle BGBl. I 135/2009 wurde der Angehörigenkreis des Abs 1 auf eingetragene Partner erweitert (und § 72 Abs 1 StGB zur Gänze neu gefasst). Diese Novellen wurden ebenso wenig wie andere zahlreich erfolgte Novellierungen des Strafgesetzbuches zum Anlass genommen, geschiedenen Eltern ehelicher Kinder die Angehörigeneigenschaft ausdrücklich zuzuerkennen, sondern es blieb die seit der Stammfassung des StGB geltende Regelung des Angehörigenverhältnisses in Bezug auf Elternteile unehelicher Kinder in § 72 Abs 1 StGB unverändert aufrecht, obwohl dem Gesetzgeber die vorliegende Problematik seit langem bekannt sein musste (vgl. Soyer, Angehörigeneigenschaft des geschiedenen Ehegatten im Strafrecht, ÖJZ 1987, 586 f.;

Nowakowski, Zur Angehörigeneigenschaft Geschiedener im Strafrecht, ÖJZ 1987, 752 f.; Triffterer, SlbgK-StGB, 2001, § 72 Rz 12 und 16; Jerabek, aaO, § 72 Rz 7;

Kirchbacher/Presslauer, WK-StGB2, 2009, § 166 Rz 10 f.; vgl. auch ).

2.3.5. Vor diesem Hintergrund kann vom Vorliegen

einer "echten" (planwidrigen) Lücke im Sinne einer bloßen Unzulänglichkeit der Norm nicht ausgegangen werden.

2.4. Es ist kein sachlicher Grund erkennbar, der es rechtfertigen würde, Eltern unehelicher Kinder in Bezug auf ihren Angehörigenstatus dauerhaft zu begünstigen, Elternteilen ehelicher Kinder hingegen nach Auflösung der Ehe die (bis dahin bestandene) Angehörigeneigenschaft zu nehmen. Durch die Aufhebung des Wortes "unehelichen" in § 72 Abs 1 StGB wird die verfassungskonforme Gleichstellung von Elternteilen ehelicher Kinder nach Beendigung der Ehe mit Elternteilen gemeinsamer unehelicher Kinder in Bezug auf die zueinander bestehende Angehörigeneigenschaft bewirkt.

IV. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen

1. Das Wort "unehelichen" in § 72 Abs 1 StGB, BGBl. I 60/1974 idF BGBl. I 135/2009, ist daher als verfassungswidrig aufzuheben.

2. Der Ausspruch, dass frühere gesetzliche

Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten, beruht auf Art 140 Abs 6 erster Satz B-VG.

3. Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung und der damit im Zusammenhang stehenden sonstigen Aussprüche erfließt aus Art 140 Abs 5 erster Satz B-VG und § 64 Abs 2 VfGG iVm § 3 Z 3 BGBlG.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.