VfGH vom 27.09.2010, g226/09
Sammlungsnummer
19169
Leitsatz
Verfassungswidrigkeit des im Nö Pflegegeldgesetz 1993 normierten Ausschlusses des Parteiengehörs; Verstoß gegen das Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander bei Bescheiden betreffend die Nachsicht vom Erfordernis der österreichischen Staatsbürgerschaft mangels eines Rechtszugs an das Arbeits- und Sozialgericht
Spruch
In § 23 Abs 1 des NÖ Pflegegeldgesetzes 1993 (NÖ PGG) idF LGBl. Nr. 9220-3 wird die Wortfolge ", wobei jedoch § 45 Abs 3 AVG nicht anzuwenden ist" als verfassungswidrig aufgehoben.
Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Kraft.
Die Aufhebung tritt mit Ablauf des in Kraft.
Der Landeshauptmann von Niederösterreich ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Landesgesetzblatt verpflichtet.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zu B195/08 eine Beschwerde
gegen einen Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung anhängig, mit welchem dem Antrag des Beschwerdeführers, eines armenischen Staatsbürgers, auf Nachsicht vom Erfordernis des Besitzes der österreichischen Staatsbürgerschaft als Voraussetzung für die Gewährung von Pflegegeld für den Zeitraum vom bis keine Folge gegeben wurde.
2. Aus Anlass der Behandlung dieser Beschwerde sind beim Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der Wortfolge ", wobei jedoch § 45 Abs 3 AVG nicht anzuwenden ist" in § 23 Abs 1 NÖ Pflegegeldgesetz 1993 (NÖ PGG) idF LGBl. Nr. 9220-3, entstanden.
Der Verfassungsgerichtshof hat daher mit Beschluss vom ein Gesetzesprüfungsverfahren ob der genannten Wortfolge eingeleitet.
3. Die Rechtslage stellt sich wie folgt dar:
3.1. Die maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen im Niederösterreichischen Pflegegeldgesetz (in der Folge: NÖ PGG), LGBl. 9220 in der hier maßgeblichen Fassung, lauten in ihrem Zusammenhang (die in Prüfung gezogene Wortfolge ist hervorgehoben):
"§3
Personenkreis
(1) Voraussetzung für die Leistung eines Pflegegeldes ist, daß der Antragsteller
1. die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt und
2. seinen Hauptwohnsitz oder mangels eines solchen seinen Aufenthalt in Niederösterreich hat und
3. nicht eine der in § 3 BPGG angeführten Leistungen bezieht oder gleichartige Leistungen nach einem Pflegegeldgesetz eines anderen Landes erhält oder einen Anspruch auf eine solche Leistung hat oder
4. unter der Voraussetzung der Z. 3 einen Ruhe- oder Versorgungsgenuß, Versorgungsgeld oder einen Unterhaltsbeitrag (auf Pensionsleistungen) aufgrund eines anderen NÖ Landesgesetzes erhält.
(2) Nicht zum Kreis der anspruchsberechtigten Personen zählen jedenfalls die Personen:
1. die im Sinne des § 3 Abs 2, 3 und 4 BPGG die Möglichkeit hatten, aufgrund einer sozialversicherungsrechtlichen Regelung in die gesetzliche Pensionsversicherung einbezogen zu werden, davon jedoch keinen Gebrauch gemacht haben, oder
2. die einen privatrechtlichen Anspruch oder eine privatrechtliche Anwartschaft auf eine pflegebezogene Geldleistung gegenüber einem Betrieb, Unternehmen oder dergleichen erworben haben und aus diesem Grund nicht in den § 3 Abs 1 BPGG aufgenommen wurden.
(3) Den österreichischen Staatsbürgern sind gleichgestellt:
1. Fremde, insoweit sich eine Gleichstellung aus Staatsverträgen ergibt, oder
2. Fremde, wenn mit ihrem Heimatstaat aufgrund tatsächlicher Übung Gegenseitigkeit besteht, insoweit sie dadurch nicht besser gestellt sind als Staatsangehörige in dem betreffenden Staat, oder
3. Fremde, denen gemäß § 3 AsylG 2005 Asyl gewährt wurde, oder
4. Staatsangehörige einer Vertragspartei des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum,
a) die im Sinne des § 51 oder § 52 NAG Sichtvermerks- und Niederlassungsfreiheit genießen, soweit es sich um Arbeitnehmer oder Selbstständige, um Personen, denen dieser Status erhalten bleibt oder um ihre Familienangehörige handelt oder
b) die im Sinne des § 51 NAG niederlassungsberechtigt sind und sich rechtmäßig länger als 3 Monate in Österreich aufgehalten haben, oder
5. Fremde, die über einen Aufenthaltstitel mit Niederlassungsrecht gemäß §§45, 48, 49, 50 oder 81 Abs 2 NAG verfügen.
(4) Die Voraussetzung des Abs 1 Z. 1 kann nachgesehen werden, wenn das auf Grund der persönlichen, familiären oder wirtschaftlichen Verhältnisse des Fremden zur Vermeidung einer sozialen Härte geboten ist und der Fremde sich rechtmäßig in Österreich aufhält.
(5) - (6) ...
§20
Zuständigkeit
(1) Für die Vollziehung ist zuständig:
1. die Bezirksverwaltungsbehörde für die im § 3 Abs 1 Z. 1 bis 3 angeführten pflegebedürftigen Menschen, soweit nicht ausdrücklich die Zuständigkeit der Landesregierung vorgesehen ist;
2. die Landesregierung
* für die Erteilung der Nachsicht nach § 3 Abs 4, soweit nicht eine andere Behörde nach Z. 3 bis 5 zuständig ist, und
* für die im § 3 Abs 1 Z. 4 angeführten pflegedürftigen Menschen, die einen Anspruch auf Pensionsleistungen gegenüber dem Land haben;
3. (Verfassungsbestimmung) der Gemeinderat (der Verbandsvorstand) für die im § 3 Abs 1 Z. 4 angeführten pflegebedürftigen Menschen, die einen Anspruch auf Pensionsleistungen gegenüber der Gemeinde (dem Gemeindeverband) haben;
4. (Verfassungsbestimmung) der Stadtsenat in Städten mit eigenem Statut für die im § 3 Abs 1 Z. 4 angeführten pflegebedürftigen Menschen, die einen Anspruch auf Pensionsleistungen gegenüber der Stadt mit eigenem Statut haben;
5. die nach Z. 2 - 4 in Betracht kommende Behörde jenes Rechtsträgers, der zur Kostentragung nach § 19 verpflichtet ist.
§23
Bescheide
(1) Bescheide nach diesem Gesetz sind schriftlich zu erlassen, wobei jedoch § 45 Abs 3 AVG nicht anzuwenden ist.
(2) Gegen Bescheide nach diesem Gesetz ist eine Berufung nicht zulässig. Bescheide haben auf die Möglichkeit, eine Klage beim zuständigen Gerichtshof erster Instanz als Arbeits- und Sozialgericht einzubringen, auf die dabei einzuhaltende Frist, die Form der Einbringung und auf das Erfordernis des hinreichend bestimmten Klagebegehrens gemäß § 82 ASGG hinzuweisen.
(3) - (5) ...
§23a
Klagsmöglichkeiten
(1) Wurde ein Bescheid erlassen über
1. den Bestand oder den Umfang eines Anspruches auf Pflegegeld (§§3 und 4, ausgenommen § 3 Abs 4)
2. über das Ruhen des Pflegegeldes (§11)
3. über den Ersatz des Pflegegeldes durch Sachleistungen (§16)
4. über die Pflicht zum Ersatz eines zu Unrecht bezogenen Pflegegeldes (§10, ausgenommen § 10 Abs 6)
5. über den Anspruchsübergang auf den Sozialhilfeträger (§11),
kann Klage beim zuständigen Gerichtshof erster Instanz als Arbeits- und Sozialgericht erhoben werden. Die Klage muß bei sonstigem Verlust der Klagsmöglichkeit innerhalb der unerstreckbaren Frist von drei Monaten ab Zustellung des Bescheides erhoben werden.
(2) - (5) ..."
3.2. Das hinsichtlich des Anspruchs auf Pflegegeld an bestehende Renten- und Pensionsleistungen anknüpfende und daher eine Differenzierung nach der Staatsbürgerschaft nicht enthaltende Bundespflegegeldgesetz (BPGG) sieht in § 24 einen Ausschluss des Parteiengehörs vor, der sich daher nur auf Leistungssachen bezieht, hinsichtlich derer eine sukzessive Kompetenz der Arbeits- und Sozialgerichte gegeben ist. Diese Bestimmung lautet:
"§24. Auf das Verfahren finden, soweit dieses Bundesgesetz nichts anderes bestimmt, vor den Sozialversicherungsträgern die Bestimmungen der §§354, 357 bis 361, 363 bis 367 und 412 ASVG und vor den übrigen Entscheidungsträgern die Vorschriften des AVG mit Ausnahme der §§45 Abs 3 und 68 Abs 2 AVG Anwendung."
3.3. § 45 Abs 3 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 (AVG), BGBl. 51/1991 idgF, lautet:
"§45. (1) - (2) ...
(3) Den Parteien ist Gelegenheit zu geben, vom Ergebnis der Beweisaufnahme Kenntnis und dazu Stellung zu nehmen."
4.1. Der Verfassungsgerichtshof hat im Prüfungsbeschluss vom dazu Folgendes erläuternd ausgeführt:
"Grundsätzlich ist eine Voraussetzung für den Anspruch auf Pflegegeld nach dem NÖ PGG, dass der Antragsteller entweder die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt (§3 Abs 1 NÖ PGG) oder den österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt ist (§3 Abs 3 NÖ PGG).
§3 Abs 4 des NÖ PGG sieht vor, dass die Voraussetzung der österreichischen Staatsbürgerschaft nachgesehen werden kann, wenn das auf Grund der persönlichen, familiären oder wirtschaftlichen Verhältnisse des Fremden zur Vermeidung einer sozialen Härte geboten ist und der Fremde sich rechtmäßig in Österreich aufhält. Während gemäß § 23a Abs 1 Z 1 leg.cit. gegen einen Bescheid über den Bestand oder den Umfang eines Anspruchs auf Pflegegeld Klage an das Arbeits- und Sozialgericht erhoben werden kann, unterliegen Bescheide betreffend die Nachsicht vom Erfordernis der österreichischen Staatsbürgerschaft keinem solchen Rechtszug, wie sich aus § 23a Abs 1 Z 1 NÖ PGG idF der 6. Novelle, LGBl. 9220-6, ergibt: diese Bestimmung nimmt Bescheide über die Nachsicht vom Erfordernis der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 3 Abs 4 leg.cit. ausdrücklich von der Möglichkeit, Klage beim zuständigen Gerichtshof erster Instanz als Arbeits- und Sozialgericht zu erheben, aus. Gegen solche Bescheide ist daher nur mehr der Rechtsbehelf der Beschwerde an die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts eingeräumt.
§ 23 Abs 1 des NÖ PGG schließt das sonst obligatorische Parteiengehör gemäß § 45 Abs 3 AVG für 'Bescheide nach diesem Gesetz' aus.
Die Materialien zur NÖ Pflege[geld]gesetz-Novelle 1998 (Motivenbericht vom , GS5-A-102/6-98), mit welcher der Ausschluss von § 45 Abs 3 AVG in § 23 Abs 1 NÖ PGG eingeführt wurde, führen Folgendes aus:
'Zur Beschleunigung des Verfahrens soll künftig das Parteiengehör gemäß § 45 Abs 3 AVG nicht mehr durchgeführt werden. Diese Änderung soll auch zu einer bundeseinheitlichen Vorgangsweise beitragen, zumal die Sozialversicherungsträger, welche die größte Anzahl pflegebedürftiger Personen zu betreuen haben, schon derzeit kein Parteiengehör gewähren. Dem Rechtsschutz der Betroffenen wird durch die sukzessive Kompetenz der Arbeits- und Sozialgerichte entsprochen.'
Der Text dieser Erläuterungen wurde wörtlich aus den Erläuterungen zur Novelle des § 24 Bundespflegegeldgesetz (BPGG - RV 1186 BlgNR 20. GP), mit welcher der Ausschluss von § 45 Abs 3 AVG ins BPGG eingeführt wurde, übernommen. Anders als im NÖ PGG ist im BPGG jedoch die Staatsbürgerschaft keine Voraussetzung für einen Anspruch auf Pflegegeld, weshalb Bescheide über die Nachsicht von der Staatsbürgerschaft, die von einer sukzessiven Kompetenz der Gerichte ausgeschlossen wären, im Bereich des BPGG nicht vorkommen."
4.2. Der Verfassungsgerichtshof hat seine Bedenken im Einzelnen wie folgt begründet:
"[...] Der Ausschluss des Parteiengehörs gemäß § 45 Abs 3 AVG durch die hiermit in Prüfung gezogene Norm scheint verfassungswidrig zu sein:
[...] Der Verfassungsgerichtshof hegt gegen die in Prüfung genommene Vorschrift das Bedenken, dass sie mit dem Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander nicht im Einklang steht:
Nach der mit VfSlg. 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg. 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg. 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl. 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein - auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes - Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Dieses Bedenken ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
a) Hinsichtlich jener Bescheide nach dem NÖ PGG, für welche § 23a leg.cit. die Möglichkeit einer Klage beim zuständigen Gerichtshof erster Instanz als Arbeits- und Sozialgericht vorsieht, ist dem Rechtsschutzbedürfnis der Parteien in ausreichendem Maß entsprochen, zumal im gerichtlichen Verfahren sowohl umfassendes Parteiengehör als auch die Möglichkeit zu ergänzendem Sachvorbringen besteht.
b) Hingegen besteht bei Bescheiden über die Nachsicht von der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 3 Abs 4 NÖ PGG anscheinend auch in einem späteren Verfahrensstadium kein vergleichbarer Ausgleich für den Ausschluss vom Parteiengehör, da diese in erster und letzter Instanz von der Landesregierung erlassen werden und daher mit Berufung nicht angefochten werden können. Daran vermag auch die Möglichkeit der Anrufung des Verwaltungsgerichtshofes nichts zu ändern, weil eine Behörde nicht rechtswidrig handelt, wenn sie gestützt auf eine Norm, wie die in Prüfung gezogene, kein Parteiengehör gewährt hat.
c) Die Gewährung von Parteiengehör ist in Verfahren nach § 3 Abs 4 des NÖ PGG anscheinend auch nicht deshalb obsolet, weil nur 'aufgrund der Aktenlage entschieden werden konnte', wie die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid meint. Die Nachsicht vom Erfordernis der Staatsbürgerschaft hängt - abgesehen von einem rechtmäßigen Aufenthalt des Fremden in Österreich - anscheinend davon ab, ob bei Nichtgewährung des Pflegegeldes eine 'soziale Härte' aufgrund seiner persönlichen, seiner familiären oder seiner wirtschaftlichen Verhältnisse eintreten würde. Ob zumindest eine dieser Voraussetzungen vorliegt, steht - wie der Verfassungsgerichtshof vorläufig annimmt - erst nach einem entsprechenden Ermittlungsverfahren zur Erforschung dieser Verhältnisse fest. Es dürfte unter den oben genannten verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht angehen, dass eine in erster und letzter Instanz entscheidende Behörde das Vorliegen sozialer Härte verneint, ohne der betroffenen Partei das Ergebnis ihrer Ermittlungen (nämlich dass eine soziale Härte in den genannten Verhältnissen nicht eintreten würde) zur Kenntnis gebracht und ihr Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben zu haben.
d) Der alle Verfahren nach dem NÖ PGG betreffende Ausschluss der Gewährung des Parteiengehörs im Sinne des § 45 Abs 3 AVG scheint daher Verschiedenes (nämlich unterschiedliche Verfahrensgestaltungen) in einer den Rechtsschutz der Betroffenen erheblich und unsachlich einschränkenden Weise gleich zu behandeln und daher mit dem Gleichheitssatz (hier: in der Ausprägung des BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung) in Widerspruch zu stehen.
[...] Der Verfassungsgerichtshof hegt überdies auch das Bedenken, dass die hiermit in Prüfung gezogene Regelung gegen den Grundsatz der Bedarfskompetenz des Art 11 Abs 2 B-VG verstößt. Hat der Bund einheitliche Vorschriften über das Verwaltungsverfahren erlassen, können abweichende Regelungen in Bundes- oder Landesgesetzen nur dann getroffen werden, wenn sie zur Regelung des Gegenstandes erforderlich bzw. 'unerlässlich' (vgl. zB VfSlg. 16.460/2002, 17.346/2004) sind.
Eine Abweichung ist gemäß der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes dann nicht 'erforderlich' im Sinne von Art 11 Abs 2 B-VG, wenn dadurch gegen andere Verfassungsbestimmungen (vgl. zB VfSlg. 17.340/2004 im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip und den daraus abgeleiteten Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes) verstoßen würde.
Sollten sich daher die unter [...] geäußerten Bedenken hinsichtlich des Verstoßes gegen das Gleichbehandlungsgebot von Fremden untereinander als zutreffend erweisen, würde die zu prüfende Bestimmung auch Art 11 Abs 2 B-VG verletzen."
4.3. Die Niederösterreichische Landesregierung erstattete eine Äußerung, in der sie beantragt, das Gesetzesprüfungsverfahren mangels Präjudizialität einzustellen, eventualiter auszusprechen, dass die die in Prüfung gezogene Bestimmung nicht als verfassungswidrig aufgehoben wird. Für den Fall der Aufhebung beantragt sie, für das Außerkrafttreten der Bestimmung eine Frist von einem Jahr zu bestimmen, um die erforderlichen legistischen Vorkehrungen zu ermöglichen. Im Einzelnen brachte sie Folgendes vor:
"I. Zu den Prozessvoraussetzungen:
(...)
Wie die belangte Behörde in der Gegenschrift zum Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof [zu] B195/08 ausgeführt hat, hat sie die in § 23 Abs 1 NÖ PGG enthaltene Wortfolge ', wobei jedoch § 45 Abs 3 nicht anzuwenden ist' im Nachsichtsverfahren nach § 3 Abs 4 NÖ PGG nicht angewendet.
Die belangte Behörde war aus folgenden Gründen aber auch nicht verpflichtet, diese Bestimmung anzuwenden:
[...] Die in § 23 Abs 1 NÖ PGG enthaltene Wortfolge ' ,wobei jedoch § 45 Abs 3 AVG nicht anzuwenden ist' soll lediglich auf Bescheide über 'Bestand oder Umfang eines Anspruches auf Pflegegeld' Anwendung finden. § 45 Abs 3 AVG soll aus Gründen der möglichst raschen Entscheidungsfindung zugunsten der pflegebedürftigen Person in diesen Verfahren keine Anwendung finden. Das Parteiengehör wird somit im Interesse des Antragstellers ausgeschlossen. Auf 'andere' Verwaltungssachen soll § 23 Abs 1 NÖ PGG hingegen aus folgenden Gründen keine Anwendung finden:
§ 23 Abs 1 letzter Halbsatz NÖ PGG ist im Zusammenhalt mit § 23 Abs 2 und § 23a Abs 1 NÖ PGG zu lesen, wonach bei Bescheiden über 'Bestand oder Umfang eines Anspruches auf Pflegegeld' die Möglichkeit zur Klagserhebung beim Arbeits- und Sozialgericht besteht. Eindeutiger Wille des Gesetzgebers war somit, § 45 Abs 3 AVG bei Verfahren zur Erlassung von Bescheiden, gegen die Klage erhoben werden kann, auszuschließen. In § 23a Abs 1 Z. 1 NÖ PGG ist die Möglichkeit einer Klagserhebung an das Arbeits- und Sozialgericht gegen Nachsichtsbescheide nach § 3 Abs 4 NÖ PGG ausdrücklich ausgeschlossen. Im Übrigen wird darauf hingewiesen, dass es sich auch nach Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei 'Nachsichtbescheiden' nicht um Entscheidungen über den 'Bestand oder Umfang eines Anspruches auf Pflegegeld', sondern um 'andere Verwaltungssachen' handelt (vgl. etwa Zl. 2002/10/0104).
Es war somit eindeutig der Wille des Gesetzgebers, dass sich der Ausschluss des § 45 Abs 3 AVG nur auf Entscheidungen über den 'Bestand oder Umfang eines Anspruches auf Pflegegeld' beziehen.
[...] Zwar würde eine reine Wortinterpretation von § 23 Abs 1 NÖ PGG nicht zu diesem einschränkenden Anwendungsbereich der Wortfolge ', wobei jedoch § 45 Abs 3 AVG nicht anzuwenden ist' führen. Die historische, teleologische und systematische Interpretation führt aber aus den angeführten Gründen eindeutig zu diesem Ergebnis. Wie in der Gegenschrift der belangten Behörde im Verfahren nach Art 144 B-VG auch ausgeführt wird, wird § 23 Abs 1 NÖ PGG auch in dieser Weise angewendet.
Nach der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ist eine berichtigende Auslegung einer Bestimmung zulässig, wenn den Gesetzesmaterialien mit eindeutiger Sicherheit entnommen werden kann, dass der Wille des Gesetzgebers tatsächlich in eine andere Richtung gegangen ist, als sie in der getroffenen Regelung zum Ausdruck kommt (vgl. etwa VfSlg. 4442/1963, VfSlg. 16.773/2002, VwSlg. 6872/A).
So hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, dass ein Abweichen vom klaren Wortlaut des Gesetzes - auch nach Auffassung des VwGH - nur dann zu verantworten ist, wenn eindeutig feststeht, dass der Gesetzgeber etwas anderes gewollt hat, als er zum Ausdruck gebracht hat. Eine 'berichtigende Auslegung' ist daher nur zulässig, wenn den Gesetzesmaterialien mit eindeutiger Sicherheit entnommen werden kann, 'dass der Wille des Gesetzgebers tatsächlich in eine andere Richtung gegangen ist, als sie in der getroffenen Regelung zum Ausdruck kommt. Die grammatikalische und systematische Interpretation würde etwa dort versagen, wo nach dem reinen Gesetzeswortlaut Unvollziehbares normiert wäre. Dies trifft hier aber nicht zu.' (vgl. VfSlg. 4442/1963 mit weiteren Hinweisen).
Die belangte Behörde war somit nicht verpflichtet, § 23 Abs 1 letzter Halbsatz NÖ PGG anzuwenden.
Dieses Ergebnis gebietet auch eine verfassungskonforme Auslegung von § 23 Abs 1 letzter Halbsatz NÖ PGG:
Der Verfassungsgerichtshof hat zu Recht erkannt, dass eine einfachgesetzliche Bestimmung im Sinne des Grundrechtes auf Datenschutz bei verfassungskonformer Auslegung nur eingeschränkt Anwendung findet (vgl. VfSlg. 16.150/2001). Wie im Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom selbst aufgezeigt, würde eine Anwendung von § 23 Abs 1 letzter Halbsatz NÖ PGG auf alle Verfahren nach dem NÖ PGG mit dem Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander nicht im Einklang steh[en]. Eine verfassungskonforme Auslegung führt daher zu einer Einschränkung des Anwendungsbereiches von § 23 Abs 1 letzter Halbsatz NÖ PGG.
[...] Die belangte Behörde hat in ihrem dem Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom zugrundeliegenden Verfahren § 23 Abs 1 letzter Halbsatz NÖ PGG (...) - wie in der Gegenschrift dargelegt - nicht angewendet und war auch - wie soeben ausgeführt - nicht verpflichtet, ihn anzuwenden. § 23 Abs 1 letzter Halbsatz NÖ PGG bildet daher keine Prüfungsmaßstab für das zur Zahl B195/08 beim Verfassungsgerichtshof geführte Beschwerdeverfahren nach Art 144 B-VG.
§ 23 Abs 1 NÖ PGG ist daher nicht präjudiziell i[m] Sinne der dargestellten Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes. Das Gesetzesprüfungsverfahren wäre daher einzustellen.
Zu der in Prüfung gezogenen Fassung des § 23 Abs 1 NÖ PGG:
Im Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom wird ausgeführt, dass die Verfassungsmäßigkeit von § 23 Abs 1 NÖ PGG 'idF LGBl. Nr. 9220-3' zu prüfen wäre.
Ungeachtet der Ausführungen zur Präjudizialität wird auf Folgendes hingewiesen:
Die in Prüfung gezogene Wortfolge wurde mit der NÖ Pflegegesetz-Novelle 1998 in § 23 Abs 1 NÖ PGG, LGBl. 9220-3, eingefügt; der Wortlaut ist seit dem unverändert.
Im Zeitpunkt der Erlassung des nach Art 144 B-VG angefochtenen Bescheides der NÖ Landesregierung () ist das NÖ PGG in der Fassung 'LGBl. 9220-8' in Kraft gestanden. Das NÖ PGG steht aktuell in der Fassung der 10. Änderung des Textes in Kraft (LGBl. 9220-10)."
Den Bedenken des Verfassungsgerichtshofes entgegnete die Niederösterreichische Landesregierung Folgendes:
"1. Zum Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander:
Der Verfassungsgerichtshof geht in seinem Beschluss vom vorläufig davon aus, dass der in § 3 Abs 1 NÖ PGG normierte Ausschluss der Gewährung von Parteiengehör alle Verfahren nach dem NÖ PGG treffen würde. Damit würde Verschiedenes in einer den Rechtsschutz der Betroffenen erheblich und unsachlich einschränkenden Weise gleich behandelt werden und damit mit dem Gleichheitssatz (in der Ausprägung des BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung) in Widerspruch stehen.
Die belangte Behörde hat § 23 Abs 1 letzter Halbsatz NÖ PGG in dem zugrundeliegenden Verfahren nicht angewendet und war auch nicht zur Anwendung verpflichtet. Vielmehr findet § 23 Abs 1 letzter Halbsatz NÖ PGG nur auf Verfahren über den 'Bestand oder Umfang eines Anspruches auf Pflegegeld' Anwendung, die Verpflichtung zur Gewährung von Parteiengehör entfällt daher auch nur in jenen Fällen, in denen eine nachfolgende Überprüfung durch die Arbeits- und Sozialgerichte sichergestellt ist. In 'anderen Verwaltungssachen' findet § 23 Abs 1 NÖ PGG hingegen keine Anwendung. Da somit nicht Gleiches ungleich behandelt wird, sondern der Entfall des Parteiengehörs nur in Verfahren über den 'Bestand oder Umfang eines Anspruches auf Pflegegeld' Anwendung findet, wird sachlich differenziert.
Es liegt daher keine Verletzung des Rechts auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander vor.
2. Zu den Bedenken hinsichtlich der Bedarfskompetenz des Art 11 Abs 2 B-VG:
Bereits § 24 des Bundespflegegeldgesetzes, BGBl. Nr. 110/1993, sieht einen Ausschluss des § 45 Abs 3 AVG bei Verfahren zur Erlassung von Bescheiden, gegen die eine Klage erhoben werden kann, vor. Aufgrund der Vereinbarung gemäß Art 15a B-VG über gemeinsame Maßnahmen des Bundes und der Länder für pflegebedürftige Personen, LGBl. 9211-0, sind die Landesgesetzgeber verpflichtet, diese Regelung auch in den Landes-Pfegegeldgesetzen umzusetzen. Niederösterreich und auch andere Länder sind dieser Verpflichtung durch eigene Regelungen in den Pflegegeldgesetzen (vgl. neben § 23 Abs 1 NÖ PGG etwa § 19 OÖ PGG, § 21 Abs 2 Salzburger PGG) nachgekommen.
Es teilen somit offensichtlich nicht nur der NÖ Landesgesetzgeber, sondern auch der Bundesgesetzgeber und andere Landesgesetzgeber die Auffassung, dass die in § 23 Abs 1 enthaltene Regelung 'unerlässlich' im Sinne der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zu Art 11 Abs 2 B-VG ist.
Gerade im Interesse des Antragstellers soll rasche Hilfe ermöglicht werden, und zwar ohne Verzögerungen, die durch die Gewährung von Parteiengehör verursacht werden würde.
§ 23 Abs 1 NÖ PGG verstößt somit nicht gegen Art 11 Abs 2 B-VG."
4.4. Die beschwerdeführende Partei des Anlassverfahrens hat sich am Gesetzesprüfungsverfahren nicht beteiligt.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:
1. Zur Zulässigkeit:
Das Gesetzesprüfungsverfahren ist zulässig:
Im Verfahren ist nichts hervorgekommen, was an der Zulässigkeit der Beschwerde oder an der Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Bestimmung zweifeln ließe. Es kann insbesondere entgegen der Auffassung der Niederösterreichischen Landesregierung auf sich beruhen, ob die belangte Behörde die in Prüfung stehende Bestimmung angewendet hat, weil der Beschwerdeführer in seiner Beschwerde die Unterlassung jeglichen Parteiengehörs zu entscheidungswesentlichen Sachverhaltsfragen als Übung von Willkür gerügt hat und sich der Verfassungsgerichthof daher mit diesem Vorwurf auseinanderzusetzen und dabei die in Prüfung gezogene Bestimmung bei Feststellung der einfachgesetzlichen Rechtslage anzuwenden hat.
Präjudiziell sind selbst jene gesetzlichen Bestimmungen, die der Verfassungsgerichtshof anzuwenden hätte, obgleich sie von der belangten Behörde weder angewendet wurden, noch anzuwenden waren (VfSlg. 14.257/1995 und die dort zitierte Rechtsprechung; aus jüngerer Zeit VfSlg. 17.961/2006).
2. In der Sache:
2.1. Die Bedenken des Verfassungsgerichtshofes wurden nicht zerstreut:
2.1.1. Die Niederösterreichische Landesregierung tritt den verfassungsrechtlichen Bedenken des Verfassungsgerichtshofes im Kern nicht entgegen. Sie verteidigt nicht die Verfassungsmäßigkeit der Norm im Sinne des sich aus ihrem Wortlaut ergebenden Normverständnisses.
2.1.2. Die Niederösterreichische Landesregierung vertritt auf das Wesentliche zusammengefasst allerdings die Auffassung, dass dieses Normverständnis nicht zwingend sei. Die Norm könne ungeachtet ihres Wortlautes in verfassungskonformer Interpretation auch dahin verstanden werden, dass sich der Ausschluss des Parteiengehörs nur auf Leistungssachen beziehe, in denen gegen den Bescheid Klage erhoben werden könne.
2.2. Die von der Niederösterreichischen Landesregierung ins Treffen geführte verfassungskonforme Interpretation der in Prüfung stehenden Gesetzesbestimmung mittels einer ihre Geltung auf Leistungssachen einschränkenden teleologischen Reduktion hält der Verfassungsgerichtshof jedoch hier schon wegen des klaren, nicht auf Leistungssachen eingeschränkten Wortlautes (im Gegensatz zu nur in Leistungssachen geltenden Parallelregelungen, wie des § 24 BPGG, mit dem aufgrund der zwischen Bund und Ländern abgeschlossenen, auf Art 15a B-VG gestützten Pflegegeld-Vereinbarung, in Niederösterreich kundgemacht in LGBl. 9211-0, ein gewisser Zusammenhang besteht) nicht für gangbar.
3. Die in Prüfung gezogene Bestimmung war daher wegen Verstoßes gegen das Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander als verfassungswidrig aufzuheben, ohne dass auf das weitere, aus Art 11 Abs 2 B-VG abgeleitete Bedenken des Verfassungsgerichtshofes eingegangen werden musste.
4. Die Frist für das Außer-Kraft-Treten der aufgehobenen Gesetzesstelle mit Ablauf des gründet sich auf Art 140 Abs 5 dritter und vierter Satz B-VG.
5. Der Ausspruch, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten, beruht auf Art 140 Abs 6 erster Satz B-VG.
6. Die Verpflichtung des Landeshauptmannes zur unverzüglichen Kundmachung und der damit in Zusammenhang stehenden sonstigen Aussprüche beruht auf Art 140 Abs 5 erster Satz B-VG und § 64 Abs 2 VfGG.
7. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.