VfGH vom 17.06.1987, g22/87
Sammlungsnummer
11372
Leitsatz
Nicht die Beschwerde nach Art 144 B-VG,
sondern der Individualantrag nach Art 139, 140 B-VG ist der subsidiäre Rechtsbehelf; Bestellung provisorischer Gemeindeorgane für die neu geschaffene Gemeinde - implizite Feststellung, daß ua. der Bf. seine Funktion als Mitglied des Gemeinderates der aufgelösten Gemeinde verloren hat; normative Wirkung dieser Feststellung auch dann, wenn der Funktionsverlust bereits ex lege eingetreten ist; Zulässigkeit des Anlaßbeschwerdeverfahrens
Nö. KommunalstrukturverbesserungsG 1971; Vereinigung der Gemeinden Stössing und Kasten war gleichheitswidrig; Vorhersehbarkeit der Unzweckmäßigkeit im Jahre 1971 aus geographischen Gründen; keine (besondere) Notwendigkeit, die - über ausreichende Infrastruktur verfügende - Gemeinde Stössing aufzulösen; keine Rechtfertigung für eine Gemeindevereinigung allein aus finanzausgleichrechtlichen Gründen; Feststellung, daß § 3 Abs 16 Z 3 gleichheitswidrig war
Spruch
§ 3 Abs 16 Z 3 des Nö. Kommunalstrukturverbesserungsgesetzes 1971, Nö. LGBl. Nr. 264, war verfassungswidrig.
Der Landeshauptmann von Niederösterreich ist verpflichtet, diesen Ausspruch unverzüglich im Landesgesetzblatt kundzumachen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1.a) § 3 Abs 16 des NÖ Kommunalstrukturverbesserungsgesetzes 1971, LGBl. 264, (KStrVG) lautet auszugsweise:
"(16) Im politischen Bezirk St. Pölten werden folgende Gemeinden zu einer neuen Gemeinde vereinigt:
1. . . . ;
3. die Gemeinden Kasten bei Böheimkirchen und Stössing
zur Gemeinde Kasten bei Böheimkirchen;
4. . . ."
Die von der Vereinigung betroffenen Gemeinden haben gemäß § 5 Abs 1 KStrVG mit dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes - das ist seinem § 9 zufolge der - als eigene Gemeinden zu bestehen aufgehört.
b) Unter dem Datum hat die NÖ Landesregierung den Bescheid Zl. II/1-854-1971 erlassen, dessen Spruch lautet:
"Gemäß § 3 Abs 16 Ziffer 3 des Kommunalstrukturverbesserungsgesetzes 1971, LGBl. Nr. 264, wurden die Gemeinden Kasten bei Böheimkirchen und Stössing zur Gemeinde Kasten bei Böheimkirchen vereinigt.
Gemäß § 6 Abs 2 leg.cit. werden bis zur Angelobung des neugewählten Bürgermeisters zur Besorgung der unaufschiebbaren
Geschäfte dieser Gemeinde bestellt:
Zum Regierungskommissär: .........
Zu Beiräten ......... (es folgen sechs Namen)
Das Beiratsmitglied ........ wird zum Stellvertreter des
Regierungskommissärs bestimmt.
Die von der Gemeinde zu tragende Entschädigung des Regierungskommissärs wird mit S 2.308,-- festgesetzt."
2. Der Bescheid der Nö. Landesregierung bildet den Gegenstand der unter B370/86 protokollierten Beschwerde wegen Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte, die von einem (weder zum Regierungskommissär noch zum Beiratsmitglied bestellten) Mitglied des Gemeinderates der ehemaligen Gemeinde Stössing erhoben wurde.
3. Anläßlich dieser Beschwerde hat der VfGH gemäß Art. 140 B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 3 Abs 16 Z 3 KStrVG eingeleitet.
4. Die Nö. Landesregierung hat hiezu eine Äußerung erstattet.
Sie stellt den Antrag, der VfGH wolle das amtswegige Prüfungsverfahren mangels Vorliegens der Prozeßvoraussetzungen einstellen, in eventu aussprechen, daß § 3 Abs 16 Z 3 KStrVG nicht verfassungswidrig war. Für den Fall, daß der VfGH ausspricht, daß diese Bestimmung verfassungswidrig war, wird beantragt, eine Frist von einem Jahr festzusetzen.
II. Der VfGH hat erwogen:
1.a) aa) Die Nö. Landesregierung bestreitet die Beschwerdelegitimation des Bf. im Anlaßverfahren. Sie meint, der Verlust der Mitgliedschaft zum Gemeinderat Stössing sei ex lege eingetreten (Hinweis auf VfSlg. 9814/1983). Daraus ergebe sich, daß § 6 Abs 1 erster Satz iVm § 3 Abs 16 Z 3 KStrVG für den Bf. ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung und ohne Erlassung eines Bescheides wirksam geworden sei; es könnte daher auch der Weg des Individualantrages gemäß Art 140 Abs 1 (letzter Satz) B-VG gewählt werden; die Zulässigkeit der Beschwerde würde eine Doppelgeleisigkeit des Rechtsschutzes eröffnen, die bisher von der Judikatur ausgeschlossen worden sei.
Weiters sei - wie die Nö. Landesregierung meint - zu bedenken, daß der im Anlaßverfahren bekämpfte Bescheid gar nicht die Gemeinde Stössing betreffe, deren Gemeinderat der Bf. angehört habe.
Träfe die in der bisherigen Rechtsprechung des VfGH in gleichartigen Fällen geäußerte Ansicht über die Beschwerdelegitimation zu, so hätten (auch) die ausscheidenden Gemeindesratsmitglieder im Verfahren zur Bestellung ihrer Nachfolger im Administrativverfahren Parteistellung.
Die Nö. Landesregierung regt an, die - ihr bekannte entgegenstehende Judikatur des VfGH, wonach in derartigen Fällen die Beschwerdelegitimation gegeben ist, zu überprüfen.
bb) Die Anlaßbeschwerde wurde rechtzeitig eingebracht (vgl. zB VfSlg. 9068/1981 und 9655/1983; ).
Der Bf. ist - entgegen der Meinung der Nö. Landesregierung - beschwerdeberechtigt. Hiezu wird auf die bis ins Jahr 1972 zurückreichende Judikatur verwiesen (vgl. zB 8869/1980, 9793/1983 und 9819/1983 und die dort zitierte weitere Rechtsprechung). Die dagegen von der Nö. Landesregierung vorgebrachten Argumente vermögen nicht, den VfGH zu bewegen, von ihr abzurücken:
Nicht die Beschwerde nach Art 144 B-VG , sondern der Individualantrag nach Art 140 Abs 1 letzter Satz B-VG ist der subsidiäre Rechtsbehelf. Der Schluß der Nö. Landesregierung ist daher verfehlt. Wenn nämlich ein Beschwerdeverfahren - wie hier die Möglichkeit eröffnet, die Behauptung, ein Gesetz (etwa das KStrVG) sei verfassungswidrig, an den VfGH heranzutragen, dann ist eben in aller Regel ein Individualantrag unzulässig; nicht aber bewirkt die Zulässigkeit eines Individualantrages die Unzulässigkeit einer Beschwerde.
Der im Anlaßverfahren bekämpfte Bescheid berührt die Rechtstellung des Bf. jedenfalls insofern, als mit ihm explizit provisorische Gemeindeorgane (anstelle aller bisherigen Gemeindeorgane) bestellt wurden. Darin liegt die implizite Feststellung, daß ua. der Bf. seine Funktion als Mitglied des Gemeinderates der aufgelösten Gemeinde Stössing verloren hat. Diese Feststellung hat auch dann normative Wirkung, wenn der Funktionsverlust bereits ex lege eingetreten ist. Es ist daher möglich, daß der Bescheid den Bf. in seinen Rechten verletzt, dies unabhängig davon, daß die neu geschaffene Gemeinde Kasten heißt.
Im gegebenen Zusammenhang ist nicht zu untersuchen, welche Personen in einem Administrativverfahren sonst noch Parteistellung haben, das einen Wechsel von Gemeindefunktionären zum Gegenstand hat; derartige Überlegungen können für das Ergebnis, wer in Fällen wie im Anlaßbeschwerdeverfahren beschwerdelegitimiert ist, nicht von Einfluß sein.
Zusammenfassend ist festzuhalten, daß dem Anlaßbeschwerdeverfahren keine Prozeßhindernisse entgegenstehen.
b) Der VfGH hätte bei Entscheidung über die - sohin zulässige - Beschwerde jene Gesetzesbestimmungen anzuwenden, die den angefochtenen Bescheid stützen. Nur so kann er klären, ob bei Erlassung des Bescheides Rechte iS des Art 144 B-VG verletzt wurden. Zu diesen den bekämpften Bescheid tragenden Vorschriften gehört insbesondere § 3 Abs 16 Z 3 KStrVG.
An der Präjudizialität dieser landesgesetzlichen Bestimmung ändert das mit in Kraft getretene Landesgesetz über die Gliederung des Landes Niederösterreich in Gemeinden (Stammfassung: LGBl. 1030-0) nichts, in dem anknüpfend an die bestehende Gemeindestruktur - festgestellt wird, in welche Gemeinden sich das Land Niederösterreich gliedert. Ebensowenig ändert daran etwas der ArtII Z 18 des NÖ. Landesgesetzes vom , LGBl. 1030-7 (ausgegeben am , Jahrgang 1981, 119. Stück), womit das Nö. KStrVG 1971, LGBl. Nr. 264, idF LGBl. Nr. 1450-2, 1450-3, 1450-4 und 1450-5, aufgehoben wird. Für die Beurteilung des angefochtenen Bescheides ist im gegebenen Zusammenhang nämlich nur wesentlich, ob die ihn tragende Bestimmung des KStrVG verfassungsmäßig war (vgl. zB VfSlg. 9819/1983).
c) Da die übrigen Voraussetzungen des eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahrens ebenfalls gegeben sind, hat der VfGH über die Verfassungsmäßigkeit der angeführten Gesetzesvorschrift im Rahmen der im Einleitungsbeschluß dargelegten Bedenken zu entscheiden.
2.a) Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die in Prüfung gezogene Vorschrift haben sich unter dem Blickpunkt des auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitsgebotes ergeben:
Der VfGH nahm im Einleitungsbeschluß vorläufig an, daß die besondere geographische Situation jeglicher Verflechtung der vereinigten Gemeinden Kasten und Stössing entgegengestanden sei und die Gemeindevereinigung keinerlei Vorteile für die betroffenen Bewohner mit sich gebracht habe.
b) Diese Bedenken sind begründet:
aa) In seiner bisherigen ständigen Rechtsprechung (siehe zB und die dort enthaltenen weiteren Judikaturhinweise) in ähnlich gelagerten Fällen hat der VfGH dargetan, daß bei Klärung der Frage, ob das KStrVG 1971 verfassungswidrig ist (oder war), ausschließlich der Zeitpunkt seiner Erlassung maßgebend ist. Dieser Vorjudikatur zufolge hat der VfGH also auch heute nur zu untersuchen, ob die im Jahre 1971 vom Gesetzgeber angeordnete Gemeindezusammenlegung sachlich gerechtfertigt war. Der Gesetzgeber mußte damals die zukünftige Entwicklung, so insbesondere die Folgen der Gemeindevereinigung abschätzen. Bei Beurteilung durch den VfGH, ob diese Prognoseentscheidung vor dem Gleichheitsgebot bestehen kann, ist also auf das Jahr 1971 zurückzublicken, sohin nur auf jene Auswirkungen der Gemeindevereinigung abzustellen, die seinerzeit vom Gesetzgeber bei Abwägung aller maßgebenden Umstände erwartet werden durften. Die tatsächliche Entwicklung kann allenfalls eines der Hilfskriterien bei Lösung der Frage sein, ob die damals getroffene Prognose vertretbar war oder nicht.
Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen eine gesetzlich angeordnete Änderung der Gemeindestruktur vor dem Gleichheitsgrundsatz bestehen kann, hat der VfGH in der erwähnten bisherigen Rechtsprechung grundsätzlich ausgeführt, daß die Zusammenlegung einer Kleingemeinde von weniger als 1.000 Einwohnern mit einer anderen Gemeinde in der Regel sachlich ist. Die Prognose, daß durch Schaffung größerer Gemeinden im allgemeinen die Gemeindestruktur in Zukunft verbessert wird, ist jedenfalls im Jahre 1971 begründet gewesen. Ob dies auch heute noch (uneingeschränkt) zutrifft, muß nach dem vorhin Gesagten unerörtert bleiben.
Ausnahmen vom Grundsatz, daß die Auflösung einer Kleingemeinde sachlich begründet war, haben sich in jenen Fällen ergeben, in denen die Zusammenlegung einer Kleingemeinde - mit welcher anderen Gemeinde immer - auf Grund ganz besonderer Umstände vorhersehbarerweise völlig untauglich war, das angestrebte Ziel einer Kommunalstrukturverbesserung zu erreichen (wie etwa im Fall Alberndorf - VfSlg. 8108/1977, S 526 f., im Fall Hirschbach - VfSlg. 9793/1983, S 112 ff. und im Fall Raach VfSlg. 9819/1983, S 215 ff.);
ferner in einem Fall, in dem eine Gemeinde mit räumlich nicht geschlossenem Gemeindegebiet neu geschaffen wurde, obgleich nicht ganz besondere Umstände dazu zwangen (siehe VfSlg. 9814/1983, S 194;
Fall Hollern) und in einem Fall, in dem die Zusammenlegung der Kleingemeinde mit einer bestimmten anderen Gemeinde oder ihre Aufteilung auf mehrere bestimmte andere Gemeinden (siehe VfSlg. 9068/1981, Fall Gerersdorf) - beispielsweise aus geographischen Gründen unter Bedachtnahme auf das Bestehen öffentlicher Verkehrsverbindungen voraussehbarerweise extrem unzweckmäßiger war als eine andere denkbare Zusammenlegung oder Aufteilung oder auch das Belassen der Gemeinde.
Der VfGH hat ferner in ständiger Rechtsprechung (siehe auch hiezu zB und die dort angeführte weitere Judikatur) dargetan, daß die Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit von Strukturänderungsmaßnahmen jeder Art von einer Vielzahl von Umständen abhängig ist. So gut wie niemals ist eine Situation so beschaffen, daß ausnahmslos alle in Ansehung einer bestimmten Maßnahme erheblichen Umstände für diese Maßnahme sprächen; immer liegen im Einzelfall auch Umstände vor, an denen gemessen sie nicht erforderlich, ja vielleicht sogar unzweckmäßig ist. Auch jede Änderung der Gemeindestruktur bewirkt deshalb und zwar besonders für die unmittelbar davon Betroffenen - nicht nur Vorteile; es wird sich manches überhaupt nicht und manches sogar zum Nachteil ändern, dies oft allerdings nur vorübergehend. Das ist unvermeidlich und macht deshalb eine solche Maßnahme an sich noch nicht unsachlich. Strittig kann nur die Frage der (bloßen) Zweckmäßigkeit der getroffenen Regelung sein.
bb) Vor dem Hintergrund dieser Judikatur - gegen die die Nö. Landesregierung nichts vorbringt und von der abzugehen auch sonst kein Anlaß besteht - steht fest, daß die Zusammenlegung der Gemeinden Stössing und Kasten insgesamt gesehen keine Verbesserung der Gemeindestruktur mit sich brachte und daß dies vom Gesetzgeber des Jahres 1971 vorhergesehen werden konnte, daß also diese Maßnahme unsachlich war (vgl. zB VfSlg. 9819/1983):
Wohl hatten die beiden Gemeinden zum Zeitpunkt ihrer Zusammenlegung - 1971 - etwa 1.000 Einwohner (Stössing 822 und Kasten 1.003 Einwohner); daran hat sich bei diesen Orten seither nicht viel geändert (1981: 784 und 929 Einwohner). Die verfügte Zusammenlegung war aber im Hinblick auf die besonderen Umstände dennoch extrem unzweckmäßig: Beide ehemals selbständigen Gemeinden hatten knapp über oder nur knapp unter 1.000 Einwohner, wodurch allein schon sich dieser Fall essentiell vom Fall Altenwörth () unterscheidet (Altenwörth zählte 1971 bloß 325 Einwohner). Beide Gemeinden waren 1971 durchaus lebensfähig. Sie verfügten über eine ausreichende Infrastruktur. In der Beschwerdeschrift wird - unwidersprochen geschildert, daß in der ursprünglichen Gemeinde Stössing neben dem Gemeindeamt nachstehende Vorsorgungseinrichtungen vorhanden waren: Eigene Volksschule, eigene Pfarre mit regelmäßigen Sonntagsgottesdiensten, Friedhof, Feuerwehr, Postamt, landwirtschaftliches Lagerhaus mit Landesproduktenhandel, zwei Gemischtwarenhandlungen, Landesproduktenhandlung, Transportunternehmung für Güter-, Nah- und Fernverkehr, Taxiunternehmen, Mietwagenunternehmen, Transportunternehmen ausschließlich für Nahverkehr, vier Gastwirtschaftsbetriebe mit vorhandener Nächtigungsmöglichkeit, Fleischhauer, Bankbetrieb im Postamt, Abgabestelle für Bäckerei, Bauunternehmung, Wagnerei, Faßbinderei, Schmiede und Landmaschinenreparaturwerkstätte, Abgabestelle für Tabakwaren, Tankstelle sowie Veranstaltungssäle und Skiliftbetrieb. Weiters war der Anschluß an eine Autobuslinie der Österreichischen Post- und Telgraphenverwaltung vorhanden. Im wesentlichen waren die Versorgungseinrichtungen, wie sie aufgezählt worden sind, in der Katastralgemeinde Stössing - also im Bezug auf das ursprüngliche Gemeindegebiet Stössing - zentral situiert. Es bestand daher überhaupt keine (besondere) Notwendigkeit, die Gemeinde Stössing aufzulösen und mit einer anderen Gemeinde zusammenzulegen.
Es lag auch nicht nahe, Stössing gerade mit Kasten zu vereinigen. Der sogenannten "Hauptdorfkarte" zufolge bestanden nämlich zwischen diesen beiden Gemeinden nahezu keinerlei Zuordnungen; derartige Verbindungen gab es im übrigen auch zu anderen Siedlungen kaum, dies offenbar bedingt durch die gebirgige Lage, die dünne Besiedelung und die größeren Entfernungen zu anderen Gemeinden. Stössing und Kasten weisen jeweils einen geschlossenen Ortskern auf, während sonst die Gebäude größtenteils verstreut liegen; vielfach handelt es sich um Einzelgehöfte.
Die Nö. Landesregierung stellt in ihrer Äußerung die geographische Situation wie folgt dar:
"Die Siedlungsstruktur der Gemeinde Kasten und Stössing war (und ist noch immer) in erster Linie durch Streulage von Einzelgehöften gekennzeichnet. Selbst in den Talbereichen kam es zur Ausbildung von nur kleinen Dörfern und Kleinstsiedlungen, die in losem Zusammenhang zueinander liegen. 1971 waren die größten Siedlungen die Dörfer Kasten (42 Häuser, 197 Einwohner), Mitterfeld (27 Häuser, 128 Einwohner) und Fahrafeld (30 Häuser, 102 Einwohner). Das Dorf Stössing umfaßte lediglich 32 Häuser mit 82 Einwohnern."
Die Entfernung vom Ortszentrum Stössing zum Ortszentrum Kasten (wo sich das Gemeindeamt der nun vereinten Gemeinde befindet) beträgt etwa 6 Straßenkilometer. Von Stössing ist das Gemeindeamt also praktisch nur mit einem Kraftfahrzeug erreichbar. Die Autobusverbindung kann kaum als günstig bezeichnet werden. Wenngleich sicherlich viele Gemeindebewohner über Kraftfahrzeuge verfügen, ist die Überwindung größerer Entfernungen nach wie vor belastend (vgl. zB VfSlg. 9819/1983).
Die gegebene geographische Situation stand - ähnlich wie im Fall Raach (VfSlg. 9819/1983) - jeglicher Verflechtung der vereinigten Gemeinde entgegen und verhinderte die Entwicklung eines für funktionierende Gemeinden wesentlichen Zusammengehörigkeitsgefühles zwischen den Bewohnern der einzelnen Ortsteile. Der Gesetzgeber des Jahres 1971 konnte nicht erwarten, daß sich künftig - etwa aufgrund der von ihm verfügten Gemeindevereinigung - dieses Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln werde.
Darauf weist auch der seit 1971 bis heute währende schon seinerzeit zu erwartende - Widerstand der Bevölkerung gegen die Gemeindevereinigung hin. Die Beschwerdeschrift führt unbestritten - hiezu aus, daß im Jahre 1971 der Gemeinderat der alten Gemeinde Kasten sowie 1982 und 1983 der Gemeinderat der neuen (vereinigten) Gemeinde Kasten einstimmig gegen die Gemeindezusammenlegung bzw. für eine Wiederabtrennung des Ortsteiles Stössing stimmte; eine im Jahre 1985 im Gebiet der ehemaligen Ortsgemeinde Stössing durchgeführte, nicht amtliche Befragung der Bevölkerung ergab eine Mehrheit von 90 % der Befragten für eine Trennung in die ursprünglichen Gemeinden.
Die Gemeindezusammenlegung brachte unter den gegebenen Umständen für die Bewohner des Ortsteiles Stössing nur Nachteile und für die Bewohner des Ortsteiles Kasten (des Gebietes der Gemeinde Kasten alt) keinerlei Vorteile mit sich, ein Ergebnis, das bereits 1971 vorhergesehen werden konnte. Infolge der geschilderten geographischen Verhältnisse war und ist es nur in unerheblichem Umfang möglich, für die Ortsteile, die ehemals selbständige Gemeinden waren, gemeinsame Anlagen und Einrichtungen zu schaffen oder irgendwelche gemeinsame Aktivitäten zugunsten der Gemeindebürger durchzuführen, zumindest nicht solche, die ohne Gemeindevereinigung nicht ebensogut möglich gewesen wären.
cc) Die im Einleitungsbeschluß geäußerten Bedenken haben sich als zutreffend erwiesen und konnten auch durch die im Gesetzesprüfungsverfahren erstattete Äußerung der Nö. Landesregierung nicht entkräftet werden:
Zunächst ist festzuhalten, daß es - entgegen der von der Nö. Landesregierung angedeuteten Meinung - nicht darum geht, ob derzeit ein sachlicher Grund für die Trennung der "Großgemeinde" Kasten in die ehemaligen Gemeinden besteht, sondern darum, ob seinerzeit (1971) die Gemeindezusammenlegung sachlich gerechtfertigt war.
Zwar trifft zu, daß in Streusiedlungsgebieten relativ große Wegzeiten, um das jeweilige Gemeindeamt zu erreichen, für relativ viele Gemeindebewohner unvermeidlich sind; diese Situation hat sich aber durch die Gemeindevereinigung nicht gebessert, sondern verschlechtert.
Wenn in der Äußerung eine durch die Gemeindevereinigung bewirkte Erhöhung der Finanzkraft und darauf aufbauend eine Erhöhung der Verwaltungskraft der Gemeinde behauptet wird, so werden damit keine solchen aus der Gemeindezusammenlegung resultierenden Vorteile nachgewiesen, daß sie die getroffene Maßnahme sachlich begründen könnten. Es ist nämlich verfehlt, eine Gemeindestrukturverbesserung (allein) damit zu rechtfertigen, daß damit die nach dem Finanzausgleichsgesetz den Gemeinden insgesamt zukommenden Ertragsanteile anders verteilt werden, daß also das, was die eine Gemeinde gewinnt, den anderen Gemeinden genommen wird. Die möglicherweise durch die Gemeindezusammenlegung eingetretene Stärkung der Finanzkraft vermag sohin die durch die Vereinigung insgesamt eingetretenen Nachteile nicht annähernd aufzuwiegen (vgl. zB VfSlg. 9819/1983, das einen ähnlich gelagerten Fall - Trattenbach, Ottenthal, Raach - betrifft, sowie 9068/1981).
Der VfGH hat gar nicht das Bedenken geäußert, die Zusammenlegung bewirke dadurch ein Demokratiedefizit, daß nun zur Erlangung eines Gemeinderatsmandates mehr Wählerstimmen als früher erforderlich sind. Die diese Frage erörternden Ausführungen der Nö. Landesregierung gehen daher ins Leere. Sie widerlegen nicht die Annahme des VfGH, daß die Zusammenlegung auf weitestgehende Ablehnung der Bevölkerung stieß und nach wie vor stößt. Der allgemeine anhaltende Widerstand der Bevölkerung ist zumindest ein Indiz dafür, daß die Gemeindevereinigung unsachlich war (vgl. VfSlg. 8108/1977, betreffend Alberndorf, und VfSlg. 9793/1983, betreffend Hirschbach/Kirchberg).
Ob die Katastralgemeinden groß oder klein sind, hat mit der Sachlichkeit einer Gemeindestrukturänderung tatsächlich - wie die Nö. Landesregierung dartut - nichts zu tun. Der VfGH hat sich aber im Einleitungsbeschluß mit diesem Umstand überhaupt nicht befaßt.
Wenn die Volksschule nun derart eingerichtet ist, daß zwei Schulstufen (Klassen) der Volksschule in Kasten und die zwei weiteren Schulstufen (Klassen) in Stössing geführt werden, so hätte dasselbe Ergebnis - wie die Nö. Landesregierung selbst ausführt - auch im Wege eines aus mehreren Gemeinden bestehenden Schulverbandes erzielt werden können.
Die beiden Ortsteile Kasten und Stössing decken sich mit Pfarrgemeinden und verfügen der Schilderung der Nö. Landesregierung zufolge nach wie vor über einige Grundversorgungseinrichtungen (Kindergarten, Postamt, Feuerwehr, Friedhof, Gemischtwarenhandlung, Gasthaus, Veranstaltungssaal, Tankstelle); all dies spricht eher dafür, daß sie selbständige Gemeinden hätten bleiben können. Wenn einige Einrichtungen (etwa Arzt, Gendarmerieposten, Bank, Sportplatz, Lagerhaus) nur in einem der beiden Ortsteile zu finden sind, so hat die Gemeindezusammenlegung an diesen Fakten nichts geändert.
Die Nö. Landesregierung weist schließlich noch auf eine
verstärkte Pendlerbewegung hin, ohne allerdings nachzuweisen, inwiefern sich in dieser Hinsicht durch die Gemeindezusammenlegung irgendetwas für die Bevölkerung verbessert haben sollte.
dd) Eine Zusammenschau aller maßgebenden Umstände zeigt, daß die Gemeindevereinigung, wie sie im Jahre 1971 verfügt wurde, zahlreiche Nachteile und keine nennenswerten Vorteile für die Bevölkerung von Kasten und Stössing bewirkt hat. Dies war für den Gesetzgeber des Jahres 1971 prognostizierbar; es war für ihn die dann tatsächlich eingetretene (negative) Entwicklung vorhersehbar. Die Gemeindezusammenlegung kann daher sachlich nicht gerechtfertigt werden. § 3 Abs 16 Z 3 KStrVG 1971 widerspricht sohin dem Gleichheitsgebot.
3. Durch ArtII Z 18 des Nö. Landesgesetzes vom , LGBl. 1030-7 (ausgegeben am , Jahrgang 1981, 119. Stück), wurde das Nö. KStrVG 1971, LGBl. Nr. 264, idF LGBl. 1450-2, 1450-3, 1450-4 und 1450-5 aufgehoben.
Die in Prüfung gezogene Gesetzesbestimmung ist sohin bereits außer Kraft getreten. Der VfGH hatte daher gemäß Art. 140 Abs 4 B-VG auszusprechen, daß § 3 Abs 16 Z 3 KStrVG verfassungswidrig war.
Bei einer solchen Feststellung kommt eine - von der Nö. Landesregierung beantragte - Bestimmung einer Frist iS des Art 140 Abs 5 vorletzter und letzter Satz B-VG nicht in Betracht.
4. Die Verpflichtung des Landeshauptmannes von Niederösterreich zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches stützt sich auf Art 140 Abs 5 erster und zweiter Satz B-VG.