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VfGH vom 02.03.1989, G219/88

VfGH vom 02.03.1989, G219/88

Sammlungsnummer

11993

Leitsatz

Heranziehung der Einkünfte aller mit dem Unterstützungsempfänger im gemeinsamen Haushalt lebenden unterhaltsberechtigten Angehörigen bei Bestimmung des Ausmaßes der Sozialhilfe sachlich nicht gerechtfertigt

Spruch

Die Wortfolge "und für die mit ihm im gemeinsamen Haushalt lebenden unterhaltsberechtigten Angehörigen" im § 1 Abs 3 lita des Tiroler Sozialhilfegesetzes, LGBl. Nr. 105/1973, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Landeshauptmann von Tirol ist verpflichtet, diese Aussprüche unverzüglich im Landesgesetzblatt kundzumachen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.a) Beim Verwaltungsgerichtshof ist zu Zl. 87/11/0231 das Verfahren über eine Beschwerde anhängig, mit der ein Bescheid der Tiroler Landesregierung betreffend Ersatzleistungen nach § 9 Abs 1 des Tiroler Sozialhilfegesetzes, LGBl. 105/1973, (TSHG) bekämpft wird. Der Ehefrau des Beschwerdeführers war Sozialhilfe gewährt worden, da sie aus ihrem Einkommen (Lohn) neben ihrem Unterhalt nicht auch noch den ihres im gemeinsamen Haushalt mit ihr - getrennt vom Beschwerdeführer - lebenden minderjährigen ehelichen Kindes bestreiten konnte.

b) Der Verwaltungsgerichtshof beantragt mit Beschluß vom , Zl. A62/88, aus Anlaß dieser Beschwerde gemäß Art 140 Abs 1 B-VG, die Wortfolge "und für die mit ihm im gemeinsamen Haushalt lebenden unterhaltsberechtigten Angehörigen" im § 1 Abs 3 lita TSHG als verfassungswidrig aufzuheben.

2. Die Tiroler Landesregierung hat von einer Äußerung abgesehen.

II. Die hier maßgebenden Bestimmungen des TSHG lauten (die Wortfolge, deren Aufhebung beantragt wird, ist hervorgehoben):

"1. Abschnitt

Allgemeine Bestimmungen

§1

Allgemeines

(1) Sozialhilfe ist staatliche Hilfe zur Führung eines menschenwürdigen Lebens.

(2) Sozialhilfe ist nach den Bestimmungen dieses Gesetzes Personen zu gewähren, die sich in einer Notlage befinden.

(3) In einer Notlage im Sinne dieses Gesetzes befindet sich,

a) wer den Lebensunterhalt für sich und für die mit ihm im gemeinsamen Haushalt lebenden unterhaltsberechtigten Angehörigen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln beschaffen kann und ihn auch nicht von anderen Personen oder Einrichtungen erhält,

b) ........

2. Abschnitt

Arten, Form und Ausmaß der Sozialhilfe

§3

Arten der Sozialhilfe

Die Sozialhilfe umfaßt

a) die Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes,

b) die Hilfe in besonderen Lebenslagen,

c) die Übernahme der Kosten einer einfachen Bestattung.

.........

§7

Form und Ausmaß der Sozialhilfe

(1) ........

(6) Die Landesregierung hat durch Verordnung nähere Vorschriften über die Form und das Ausmaß der Sozialhilfe zu erlassen. Hiebei sind unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten in Tirol für die Bemessung des Lebensunterhaltes Richtsätze festzusetzen. Ferner hat die Landesregierung durch Verordnung nähere Vorschriften zu erlassen, inwieweit das Vermögen und das Einkommen nicht zu berücksichtigen sind.

3. Abschnitt

Kostentragung

§8

Ersatz durch den Empfänger der Sozialhilfe

...........

§ 9

Ersatz durch Unterhaltspflichtige

(1) Personen, die gesetzlich zum Unterhalt des Empfängers der

Sozialhilfe verpflichtet sind, haben die Kosten der Sozialhilfe im

Rahmen ihrer Unterhaltspflicht zu ersetzen.

(2) Großeltern und Enkel sind zum Kostenersatz nicht

heranzuziehen.

........".

III. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. Zur Zulässigkeit des Gesetzesprüfungsverfahrens

a) Der Verwaltungsgerichtshof führt zur Präjudizialität der angefochtenen Gesetzesstelle aus:

"Der Beschwerdeführer bestreitet u.a. die Rechtmäßigkeit der Gewährung der Sozialhilfe an seine Ehefrau. Er ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. das Erkenntnis vom , Zl. 84/11/0118) dazu auch legitimiert. Da er nicht Partei des Verfahrens betreffend Gewährung der Sozialhilfe gewesen ist, kann ihm die Rechtskraft des dieses Verfahren abschließenden Bescheides nicht entgegengehalten werden. Die Frage, ob sich seine Ehefrau in einer Notlage im Sinne des Gesetzes befunden hat, kann daher von ihm im Verfahren betreffend Vorschreibung von Ersatzleistungen aufgerollt werden. Die angefochtene Wendung ist damit auch im vorliegenden Beschwerdeverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof präjudiziell."

b) Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iS des Art 140 B-VG bzw. des Art 139 B-VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, daß die - angefochtene - generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlaßfall bildet (zB VfSlg. 7999/1977, 9811/1983, 10 296/1984).

Hier kann keine Rede davon sei, daß die Annahmen des antragstellenden Verwaltungsgerichshofes über die Präjudizialität denkunmöglich wären.

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist das Gesetzesprüfungsverfahren zulässig.

2. Zur Sache selbst

a) Der Verwaltungsgerichtshof legt seine Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der angefochtenen Gesetzesstelle wie folgt dar:

"Der Verfassungsgerichtshof hat mit dem Erkenntnis vom , G158/87 u.a., ausgesprochen, daß die Wortfolge 'und die mit ihm im gemeinsamen Haushalt lebenden unterhaltspflichtigen Angehörigen' im § 4 Abs 1 des Kärntner Sozialhilfegesetzes 1981, LGBl. Nr. 30, verfassungswidrig war (LGBl. Nr. 34/1988). Für diesen Ausspruch war maßgebend, daß sich aus § 4 Abs 1 in Verbindung mit § 8 Abs 1 und 2 leg.cit. ergebe, daß eine der Voraussetzungen für den Anspruch auf Hilfe zur Sicherung des Lebensbedarfes für den Fall, daß der Anspruchswerber als Hauptunterstützter in einer Haushaltsgemeinschaft lebt, darin bestehe, daß der Hauptunterstützte den Lebensbedarf für sich und die mit ihm im gemeinsamen Haushalt lebenden unterhaltsberechtigten Angehörigen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln beschaffen könne; ferner gehe aus diesen Vorschriften hervor, daß es für die Unterstützungshöhe auf das Einkommen der Haushaltsgemeinschaft ankomme, wobei die Einkünfte der im Haushalt wohnenden unterhaltsberechtigten Angehörigen des Hauptunterstützten (so auch die den Angehörigen von dritter Seite gewährten Alimente) zur Gänze in das Haushaltseinkommen einzubeziehen seien. Es sei aber nicht einzusehen, weshalb die dem Hauptunterstützten gegenüber unterhaltsberechtigten Angehörigen in jedem Fall mit ihren Einkünften unbeschränkt zum Lebensunterhalt der anderen Mitglieder der Haushaltsgemeinschaft beitragen sollen, und zwar auch dann, wenn sie ihnen gegenüber gar nicht unterhaltspflichtig sind. Dies könne etwa dazu führen, daß der Vater oder die Mutter auf Kosten der ihren Kindern von dritter Seite gewährten Alimente lebt. Derartige Konstellationen seien keine vernachlässigbaren Härtefälle, sondern ergäben sich aus dem System der Regelung.

Diese Gründe treffen nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes auch auf die angefochtene Wendung im § 1 Abs 3 lita des Tiroler Sozialhilfegesetzes zu. Auch sie scheint im Zusammenhang mit § 7 Abs 6 leg.cit. in Verbindung mit den Bestimmungen der Sozialhilfeverordnung, LGBl. Nr. 68/1974, (insbesondere deren im Beschwerdefall anzuwendenden § 4 Abs 1 lita in der Fassung LGBl. Nr. 46/1986) für die Beurteilung des Vorliegens einer Notlage als Voraussetzung für die Gewährung von Sozialhilfe eine Rechtslage zu schaffen, die - gemessen an den Ausführungen des Verfassungsgerichtshofes in seinem zitierten Erkenntnis vom - gleichheitswidrig ist."

b) Diese Bedenken treffen zu; die in Prüfung gezogene Wortfolge ist aus den gleichen Gründen verfassungswidrig, die den Verfassungsgerichtshof (mit der im oben zitierten Prüfungsantrag zutreffend wiedergegebenen Begründung) bewogen haben, eine ähnliche Bestimmung des Kärntner Sozialhilfegesetzes als dem Gleichheitsgrundsatz widersprechend festzustellen:

Ebenso wie das Kärntner Sozialhilfegesetz verhält das TSHG - wie sich aus dessen § 1 Abs 3 lita iVm § 7 Abs 6 ergibt - den Verordnungsgeber dazu, für die Bemessung des Lebensunterhaltes eigene Richtsätze für alleinstehende Unterstützungsempfänger und für solche, die mit anderen Personen im gemeinsamen Haushalt leben, vorzusehen und für den letzteren Fall bei Bestimmung des Ausmaßes der Sozialhilfe u.a. auf die Einkünfte aller mit dem Unterstützungsempfänger im gemeinsamen Haushalt lebenden unterhaltsberechtigten Angehörigen Bedacht zu nehmen, und zwar auch auf die den Angehörigen von dritter Seite gewährten Alimente (vgl. § 4 Abs 1 lita der Tiroler Sozialhilfeverordnung, LGBl. 68/1974 idF der Novelle LGBl. 58/1988, der tatsächlich so verfährt).

Wie der Verfassungsgerichtshof im zitierten Erkenntnis vom G158/87 u.a. Zlen., dargetan hat, verstößt nun aber eine derartige Regelung gegen den auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitsgrundsatz; es ist nämlich sachlich nicht begründet, wenn auf diese Weise die dem Unterstützungsempfänger gegenüber unterhaltsberechtigten Angehörigen unbeschränkt zum Lebensunterhalt der anderen Mitglieder der Haushaltsgemeinschaft beitragen müssen, auch wenn sie diesen gegenüber gar nicht unterhaltspflichtig sind.

Die in Prüfung gezogene Wortfolge im § 1 Abs 3 lita T-SHG widerspricht sohin dem Gleichheitsgrundsatz; sie ist infolgedessen als verfassungswidrig aufzuheben.

c) Die Verpflichtung des Landeshauptmannes zur Kundmachung gründet sich auf Art 140 Abs 5 B-VG.

3. Dies konnte gemäß § 19 Abs 4 Z 2 VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.