VfGH vom 23.09.2002, g211/02

VfGH vom 23.09.2002, g211/02

Sammlungsnummer

16596

Leitsatz

Gleichheitswidrigkeit von Schwellenwertregelungen mangels sachlicher Rechtfertigung des Ausschlusses des vergabespezifischen Rechtsschutzes im Unterschwellenbereich

Spruch

I. 1. Die Wortfolge "dann, wenn der geschätzte Auftragswert ohne Umsatzsteuer mindestens 200 000 Euro beträgt" in § 7 Abs 1 des NÖ Vergabegesetzes idF LGBl. 7200-3 wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des in Kraft.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

2. Der Landeshauptmann von Niederösterreich ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Landesgesetzblatt verpflichtet.

II. Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Gestützt auf Art 140 Abs 1 B-VG beantragt der Unabhängige Verwaltungssenat im Land Niederösterreich (UVS) aus Anlass eines bei ihm anhängigen Nachprüfungsverfahrens, § 7 des NÖ Vergabegesetzes idF LGBl. 7200-5 als verfassungswidrig aufzuheben.

a) Begründend führt er aus, dass er über einen Antrag eines Architekten auf Feststellung zu befinden habe, dass eine näher bezeichnete Gemeinde mit der Vergabe der Planungsdienstleistungen für ein Sicherheitszentrum für die Freiwillige Feuerwehr und das Rote Kreuz wegen grober Verstöße gegen das NÖ Vergabegesetz bzw. den hiezu ergangenen Verordnungen den Zuschlag nicht den Bestbieter erteilt habe. Nach einer vorläufigen Stellungsnahme der auftraggebenden Gemeinde sei ohne Durchführung einer öffentlichen Ausschreibung eine dritte Person mit der Planung des Sicherheitszentrums beauftragt worden; sowohl die im vorhinein geschätzten Kosten für die Planungsdienstleistungen aufgrund der geschätzten Herstellungskosten als auch der letztlich vertraglich vereinbarte Preis lägen unter dem Schwellenwert gemäß § 7 Abs 1 NÖ VergabeG in der Höhe von € 200.000,--. Bei Prüfung seiner Zuständigkeit zur Durchführung des Nachprüfungsverfahrens habe der UVS demnach § 7 NÖ VergabeG anzuwenden.

b) In der Sache hegt der UVS unter Hinweis auf die hg. Erkenntnisse VfSlg. 16.027/2000 sowie vom , G43/00, und vom , G10/01, das Bedenken, dass die Schwellenwertregelung des § 7 NÖ VergabeG zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Differenzierung zwischen den Rechtspositionen von Bewerbern und Bietern im Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge führe.

2. a) Die Niederösterreichische Landesregierung hat angesichts der einschlägigen verfassungsgerichtlichen Judikatur von einer inhaltlichen Äußerung abgesehen und für den Fall einer allfälligen Aufhebung eine Frist für deren In-Kraft-Treten bis zum Ablauf des begehrt.

b) Der im Anlassverfahren vor dem UVS antragstellende Architekt ist in seiner Äußerung den Bedenken des UVS beigetreten.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. Das NÖ VergabeG enthält gesetzliche Regelungen über das Vergabeverfahren und die Kontrolle u.a. für die Vergabe von Dienstleistungsaufträgen (§§18, 21 und 23 ff. NÖ VergabeG) durch bestimmte öffentliche Auftraggeber, darunter die Gemeinden (§11 Abs 1 Z 2 NÖ VergabeG), oberhalb bestimmter Schwellenwerte.

Der unter der Überschrift "Schwellenwerte bei Dienstleistungsaufträgen" stehende, vom UVS zur Aufhebung beantragte § 7 NÖ VergabeG hat folgenden Wortlaut:

"(1) Dieses Gesetz gilt für die Vergabe von Dienstleistungsaufträgen dann, wenn der geschätzte Auftragswert ohne Umsatzsteuer mindestens 200 000 Euro beträgt.

(2) Bei Aufträgen über die folgenden Dienstleistungen ist als geschätzter Auftragswert anzusetzen:

1. bei Versicherungsleistungen die Versicherungsprämie;

2. bei Bankdienstleistungen und anderen Finanzdienstleistungen die Entgelte und Gebühren, Provisionen und Zinsen sowie andere vergleichbare Vergütungen;

3. bei Verträgen, die Planung zum Gegenstand haben, die Entgelte, die Honorare und sonstige Vergütungen.

(3) Besteht eine Dienstleistung aus mehreren Losen, für die jeweils ein gesonderter Auftrag vergeben wird, so muß bei der Berechnung des in Abs 1 angegebenen Betrages der Wert eines jeden Loses berücksichtigt werden. Beläuft sich der Wert der Lose auf den in Abs 1 genannten Betrag oder einen höheren, so unterliegen alle Lose diesem Gesetz. Dies gilt nicht für Lose, deren geschätzter Auftragswert ohne Umsatzsteuer weniger als 80 000 Euro beträgt, sofern der kumulierte Auftragswert dieser Lose 20 % des kumulierten Wertes aller Lose nicht übersteigt.

(4) Bei Dienstleistungsaufträgen, für die kein Gesamtpreis angegeben wird, ist als geschätzter Auftragswert anzusetzen:

1. bei befristeten Verträgen mit einer Laufzeit von höchstens 48 Monaten der geschätzte Gesamtwert für die Laufzeit des Vertrages;

2. bei unbefristeten Verträgen oder Aufträgen mit einer Laufzeit von mehr als 48 Monaten das 48fache der monatlichen Zahlung.

(5) Bei regelmäßig wiederkehrenden Aufträgen oder bei Daueraufträgen ist als geschätzter Auftragswert entweder

1. der tatsächliche Wert der entsprechenden Aufträge im vorangegangenen Finanz- oder Haushaltsjahr oder in den vorangegangenen zwölf Monaten, nach Möglichkeit unter Anpassung an voraussichtliche Änderungen bei Mengen oder Kosten während der auf die erste Dienstleistungserbringung folgenden zwölf Monate, oder

2. der geschätzte Gesamtwert während der auf die erste Dienstleistungserbringung folgenden zwölf Monate bzw. während der Laufzeit des Vertrages, soweit diese länger als zwölf Monate ist,

anzusetzen.

(6) Sieht der beabsichtigte Dienstleistungsauftrag Optionsrechte vor, so ist der geschätzte Auftragswert aufgrund des größtmöglichen Gesamtwertes unter Einbeziehung der Optionsrechte zu berechnen.

(7) Die angewandte Berechnungsmethode darf nicht die Absicht verfolgen, die Anwendung dieses Gesetzes zu umgehen.

(8) Ein Beschaffungsauftrag für eine bestimmte Menge von Dienstleistungen darf nicht in der Absicht aufgeteilt werden, ihn der Anwendung dieses Gesetzes zu entziehen."

2. Der Antrag des UVS, § 7 des Gesetzes zur Gänze aufzuheben, ist nur zum Teil zulässig.

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg. 13.965/1994 mwN) ist der Umfang der vom Verfassungsgerichtshof zu prüfenden und im Fall ihrer Rechtswidrigkeit aufzuhebenden Bestimmung derart abzugrenzen, dass einerseits nicht mehr aus dem Rechtsbestand ausgeschieden wird, als Voraussetzung für den Anlassfall ist, dass aber andererseits der verbleibende Teil keine Änderung seiner Bedeutung erfährt. Die Grenzen der Aufhebung einer in Prüfung stehenden Norm müssen so gezogen werden, dass einerseits der verbleibende Teil nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und andererseits die mit der aufzuhebenden Stelle in untrennbarem Zusammenhang stehenden Bestimmungen auch erfasst werden. Diese Rechtsprechung beruht auf dem Grundgedanken, dass im Normprüfungsverfahren nicht mehr aus dem Rechtsbestand ausgeschieden wird, als zur Bereinigung der Rechtslage unbedingt notwendig ist. Es sollen keine oder möglichst wenige Regelungen aufgehoben werden, gegen die sich die vorgebrachten Bedenken nicht richten.

Im Übrigen hat der Gerichtshof in auf Antrag von Gerichten oder eines unabhängigen Verwaltungssenates eingeleiteten Normprüfungsverfahren die Auffassung vertreten, dass er nicht berechtigt ist, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht bzw. den antragstellenden unabhängigen Verwaltungssenat an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieser Behörden in der Hauptsache vorgreifen würde.

Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art 140 B-VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die - angefochtene - Gesetzesbestimmung eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichts bzw. unabhängigen Verwaltungssenates im Anlassfall bildet (zB VfSlg. 9811/1983, 10.296/1984, 11.565/1987, 12.189/1989).

b) Der Verfassungsgerichtshof vermag nun nicht zu erkennen, dass bei Zutreffen der vom UVS vorgetragenen Bedenken die Aufhebung des gesamten § 7 zur Bereinigung der Rechtslage erforderlich wäre. Besondere Gründe für die Präjudizialität oder für die Verfassungswidrigkeit des gesamten § 7 werden vom UVS auch nicht vorgebracht.

Der Verfassungsgerichtshof geht daher - wie schon in den von Amts wegen eingeleiteten Verfahren betreffend bundesvergabegesetzliche Schwellenwertregelungen (zB VfSlg. 16.027/2000) - davon aus, dass mit der Aufhebung der Wortfolge "dann, wenn der geschätzte Auftragswert ohne Umsatzsteuer mindestens 200 000 Euro beträgt" in § 7 Abs 1 des NÖ VergabeG das Auslangen gefunden werden könnte, sollten sich die Bedenken als zutreffend erweisen. Eine Aufhebung des gesamten Abs 1 des § 7 scheiterte schon daran, dass diesfalls ein gemeinschaftsrechtswidriger Zustand einträte. Andererseits ist es für die Zulässigkeitsentscheidung nicht von Bedeutung, dass sich Teile des verbleibenden Normtextes im Fall der Aufhebung einzelner Formulierungen als unanwendbar erweisen würden (vgl. zB VfSlg. 14.802/1997, S. 398).

Der Antrag war daher, soweit er über die eben erwähnte Wortfolge hinausgeht, als unzulässig zurückzuweisen.

3. In seinem zulässigen Teil ist der Antrag auch begründet:

Wie der UVS zu Recht dartut, hat der Verfassungsgerichtshof schon mehrfach die Auffassung vertreten, dass es dem Gleichheitssatz widerspricht, bei der Vergabe von Aufträgen durch öffentliche Auftraggeber im Unterschwellenbereich auf eine außenwirksame Regelung, die den Bewerbern und Bietern wenigstens ein Minimum an Verfahrensgarantien zur Verfügung stellt, gänzlich zu verzichten und die Bewerber und Bieter damit vom vergabespezifischen Rechtsschutz auszuschließen (zB VfSlg. 16.027/2000; ;

, G10/01, sowie jeweils , G349/01; G350/01;

G351-355/01; G363/01; und , G184/02). Daher steht auch der vom UVS idF LGBl. 7200-5 angefochtene § 7 NÖ VergabeG, der einen solchen vergabespezifischen Rechtsschutz bei Dienstleistungsverträgen unterhalb bestimmter Schwellenwerte ausschließt, mit dem auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitssatz in Widerspruch. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird auf die erwähnten Erkenntnisse verwiesen.

Da sich sohin die Bedenken des UVS als zutreffend erwiesen haben, war der präjudizielle Teil des § 7 NÖ VergabeG als verfassungswidrig aufzuheben. Was die Bezeichnung der Fassung der aufzuhebenden Bestimmung anlangt, war diese im Spruch dahin zu umschreiben, dass jene Novelle angeführt wird, durch die diese Bestimmung ihre geltende Fassung erhalten hat, und nicht - wie vom UVS praktiziert - die letzte Novelle zu diesem Gesetz überhaupt.

4. a) Bei Bestimmung der gemäß Art 140 Abs 5 dritter Satz B-VG gesetzten Frist für das In-Kraft-Treten der Aufhebung ließ sich der Verfassungsgerichtshof von denselben Erwägungen leiten wie in seinem Erkenntnis vom , G184/02.

b) Die Verpflichtung des Landeshauptmannes zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche erfließt aus Art 140 Abs 5 zweiter Satz B-VG und § 64 Abs 2 VfGG.

III. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 Z 2 VfGG ohne mündliche Verhandlungen in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.