VfGH vom 30.11.2006, G197/06

VfGH vom 30.11.2006, G197/06

Sammlungsnummer

18014

Leitsatz

Formerfordernis eines ausdrücklichen Begehrens auf Aufhebung des angefochtenen Bescheides in Beschwerden an den Verfassungsgerichtshof überschießend und nicht vereinbar mit dem Erfordernis eines effizienten Rechtsschutzes verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte im Sinne der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention; Konterkarierung des Verfahrenszweckes im Falle der Feststellung einer überlangen Verfahrensdauer durch eine Bescheidaufhebung

Spruch

In § 82 Abs 2 Z 5 Verfassungsgerichtshofgesetz 1953 - VfGG, BGBl. Nr. 85, in der Fassung des Kundmachungsreformgesetzes 2004, BGBl. I Nr. 100/2003, wird die Wortfolge ", den angefochtenen Bescheid aufzuheben" als verfassungswidrig aufgehoben.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Kraft.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zu B201/06 das Verfahren über eine auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde anhängig, der folgender Sachverhalt zugrunde liegt:

1.1. Die Beschwerdeführer sind Fachärzte mit Sitz in Niederösterreich; sie stehen in einem Einzelvertragsverhältnis mit der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft. In den Jahren 1991 und 1992 bzw. 1994 haben die Beschwerdeführer jeweils Stoffwechsel- und Enzymuntersuchungen teils selbst durchgeführt, teils aber durch Überweisung an ein Fachlabor durchführen lassen.

1.2. Mit dem - im dritten Rechtsgang ergangenen - Bescheid der Landesberufungskommission für Niederösterreich vom wurde festgestellt, dass die Beschwerdeführer durch die umstrittene Vorgangsweise gegen die Bestimmungen des Gesamtvertrages und der Honorarordnung verstoßen hätten und die Sozialversicherungsanstalt berechtigt sei, den durch diese Vorgangsweise entstandenen, näher bezifferten Schaden gegen die Honoraransprüche der Beschwerdeführer aufzurechnen.

2.1. Bei Behandlung der gegen diesen Bescheid gerichteten Beschwerde sind im Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der Wortfolge ", den angefochtenen Bescheid aufzuheben" in § 82 Abs 2 Z 5 Verfassungsgerichtshofgesetz 1953 - VfGG, BGBl. Nr. 85, in der Fassung des Kundmachungsreformgesetzes 2004, BGBl. I Nr. 100/2003, entstanden; er hat daher am beschlossen, diese Vorschrift von Amts wegen einem Normenprüfungsverfahren zu unterziehen.

Durch das KundmachungsreformG 2004 erhielt § 82 Abs 2 VfGG mit Wirksamkeit vom folgende im Anlassverfahren anzuwendende Fassung (die in Prüfung gezogene Bestimmung ist hervorgehoben):

"(2) Die Beschwerde hat zu enthalten:


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1.
die Bezeichnung des angefochtenen Bescheides;
2.
die Bezeichnung der Behörde, die den Bescheid erlassen hat;
3.
den Sachverhalt;
4.
die Angabe, ob der Beschwerdeführer durch den angefochtenen Bescheid in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht oder wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung, einer gesetzwidrigen Kundmachung über die Wiederverlautbarung eines Gesetzes (Staatsvertrages), eines verfassungswidrigen Gesetzes oder eines rechtswidrigen Staatsvertrages in seinen Rechten verletzt zu sein behauptet, im letzteren Fall auch die Bezeichnung der für rechtswidrig erachteten Rechtsvorschrift;
5.
das Begehren, den angefochtenen Bescheid aufzuheben;
6.
die Angaben, die erforderlich sind, um zu beurteilen, ob die Beschwerde rechtzeitig eingebracht ist."

2.2. Die im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken stellen sich auszugsweise wie folgt dar:

"Dass notwendiger Inhalt einer Beschwerde nach Art 144 B-VG der Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Bescheides ist, ergab sich bis zum KundmachungsreformG 2004 [...] als notwendige Konsequenz aus der in § 87 Abs 1 VfGG geregelten, grundsätzlich kassatorischen Entscheidungskompetenz des Verfassungsgerichtshofes.

[...] Der Verfassungsgerichtshof hat es aber auch als zulässig erachtet, eine Grundrechtsverletzung, die ausnahmsweise zu keiner Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides führt, bloß festzustellen (zB VfSlg. 13.893/1994, 14.193/1995, 14.225/1995 und 14.492/1996 betreffend das durch Art 6 Abs 1 PersFrSchG gewährleistete Recht auf eine Haftprüfungsentscheidung binnen einer Woche). An die Rechtsprechung zu Art 6 Abs 1 PersFrSchG anknüpfend hat der Gerichtshof auch bei einer Verletzung in dem durch Art 6 Abs 1 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist davon abgesehen, den angefochtenen Bescheid (aus diesem Grund) aufzuheben; er hat sich vielmehr - soweit aus der Verfahrensdauer nicht die Rechtswidrigkeit der Strafbemessung in einem Verwaltungsstrafverfahren folgte - auf den Ausspruch beschränkt, dass eine solche Rechtsverletzung stattgefunden hat, die auf Aufhebung des Bescheides gerichtete Beschwerde jedoch insoweit abgewiesen. Zuletzt hat er dies etwa im Erkenntnis vom , B1741/03, wie folgt begründet:

'Durch die (begehrte) Aufhebung des das (bisherige) überlange Verfahren (vorläufig) abschließenden angefochtenen Bescheides würde diese Rechtsverletzung aber nicht beseitigt, sondern im Gegenteil sogar insoweit verschärft werden, als das Ende des Verfahrens noch weiter verzögert werden würde. Der Verfassungsgerichtshof hatte sich deshalb auf den Ausspruch zu beschränken, dass eine Verletzung des Beschwerdeführers im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist nach Art 6 Abs 1 EMRK stattgefunden hat; insoweit ist folglich der Antrag, den angefochtenen Bescheid aufzuheben, abzuweisen (vgl. ).'

[...]

Der Verfassungsgerichtshof geht aber vorläufig davon aus, dass es die Neufassung des § 82 VfGG durch das KundmachungsreformG 2004 nunmehr ausschließt, von einer der darin genannten Anforderungen an den Beschwerdeschriftsatz mit Blick auf diese Entscheidungsbefugnis des Verfassungsgerichtshofes abzusehen: Gemäß § 82 Abs 2 Z 5 VfGG dürfte eine Beschwerde nach Art 144 B-VG nunmehr in jedem Fall, und daher auch bei einer Beschwerde, die wegen Verletzung im Recht auf ein Verfahren innerhalb angemessener Frist nur die Feststellung dieser Grundrechtsverletzung anstrebt, ein Aufhebungsbegehren enthalten müssen.

[...] Der Verfassungsgerichtshof hegt nun aber das Bedenken, dass das uneingeschränkte Erfordernis eines Aufhebungsbegehrens auch in jenen Fällen, in denen sich nach der zuvor dargestellten Rechtsprechung die Entscheidung des Gerichtshofes auf den Ausspruch einer Verletzung im Recht auf ein Verfahren innerhalb angemessener Frist zu beschränken hat und der angefochtene Bescheid (aus diesem Grund) nicht aufgehoben werden kann, weder mit den verfassungsgesetzlichen Vorgaben des Art 144 Abs 1 B-VG, noch - im Falle zivilrechtlicher Ansprüche und strafrechtlicher Anklagen - mit jenen einer wirksamen Beschwerde nach Art 6 iVm 13 EMRK vereinbar ist.

[...] Der Verfassungsgerichtshof geht dabei vorläufig davon aus, dass jene gesetzlichen Regelungen, welche die genannten Verfassungsbestimmungen auf einfachgesetzlicher Ebene näher auszuführen haben (vgl. Art 148 B-VG), deren Wirksamkeit nicht einschränken dürfen. Dies bedeutet zwar nicht, dass der Gesetzgeber Form- und Inhaltserfordernisse für Beschwerden an den Verfassungsgerichtshof nicht festlegen dürfte; solche einfachgesetzlich festgelegten Erfordernisse bedürfen jedoch - so nimmt der Verfassungsgerichtshof vorläufig weiter an - einer am Zweck des Verfahrens, insbesondere jenem des bundesverfassungsgesetzlich (dh im B-VG selbst, aber auch in der EMRK) garantierten Rechtsschutzes orientierten, spezifischen sachlichen Rechtfertigung.

[...] Gesetzliche Anforderungen an Beschwerdeschriftsätze, die nicht solchen - oder mit ihnen in Zielrichtung und Gewicht vergleichbaren - Zwecken dienen, dürften hingegen im Allgemeinen eine unzulässige Beschränkung des verfassungsgesetzlich garantierten Beschwerderechts darstellen; dies jedenfalls dann, wenn sie mit nachteiligen prozessualen Folgen für den Rechtsschutzsuchenden verbunden sind.

[...] Um eine solche, unzulässige gesetzliche Anforderung an eine Bescheidbeschwerde handelt es sich anscheinend bei § 82 Abs 2 Z 5 VfGG:

[...] Die Rechtsschutzsuchenden scheinen durch diese Norm nämlich dazu verhalten zu werden, in ihren nach Art 144 B-VG erhobenen Beschwerden in jedem Fall einen Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Bescheides zu stellen, und zwar auch dann, wenn sie eine solche Aufhebung - wie im vorliegenden Beschwerdefall - gar nicht anstreben und der Verfassungsgerichtshof einem Aufhebungsbegehren aufgrund der zuvor dargestellten (Pkt. 3.1.) Überlegungen auch nicht Folge geben könnte. Insoweit dürfte die Norm - gemessen an ihrem Zweck - überschießend sein.

[...] Ihre Nichteinhaltung dürfte auch sanktioniert sein: Der beschwerdeführenden Partei wäre bei Fehlen eines Aufhebungsbegehrens ein Verbesserungsauftrag zu erteilen und die Beschwerde für den Fall seiner Nichterfüllung zurückzuweisen (vgl. zB VfSlg. 15.160/1998). Wird der Verbesserungsauftrag aber erfüllt, so wird der Beschwerdeführer gezwungen, einen seinem Verfahrensziel widersprechenden Antrag zu stellen und ist - für den Fall der Abweisung - insoweit unterliegende Partei im Sinne des § 88 VfGG.

[...] Die hiemit in Prüfung gezogene Bestimmung scheint also nach dem dargestellten, hier anzuwendenden Maßstab (vgl. Pkt. 4.1. - 4.3.) gegen Art 144 Abs 1 B-VG und Art 6 iVm 13 EMRK zu verstoßen."

2.3. Im Gesetzesprüfungsverfahren erstatteten sowohl die Bundesregierung als auch die beteiligten Beschwerdeführer zu B201/06 eine schriftliche Äußerung.

Die Bundesregierung hält in ihrer schriftlichen Äußerung dem Bedenken des Gerichtshofs im Wesentlichen entgegen, dass die mit VfSlg. 13.893/1994 eingeschlagene Rechtsprechung, wonach der Gerichtshof auch feststellende Erkenntnisse für zulässig und geboten erachtet hat, nicht vom Anwendungsbereich des Art 144 Abs 1 B-VG gedeckt wären, zumal sie keine Rechtsverletzungen, die "durch den [angefochtenen] Bescheid" verursacht worden seien, sondern Fälle der behördlichen Säumnis zum Gegenstand hätten. Weiters weist sie darauf hin, dass die Bestimmungen der Art 6 iVm Art 13 EMRK den Verfassungsgerichtshof nicht dazu verpflichten, das Verfahren gemäß Art 144 B-VG innerstaatlich in einer Weise auszugestalten, "die den kompetenzrechtlichen Rahmen dieser Bestimmung überschreitet" und stellt demgemäß den Antrag, die in Prüfung gezogene Gesetzesbestimmung nicht als verfassungswidrig aufzuheben.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. Zweifel an der Zulässigkeit der Anlassbeschwerde oder an der Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Vorschriften sind im Gesetzesprüfungsverfahren weder vorgebracht worden, noch beim Gerichtshofs entstanden.

Da auch die sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind, ist das Gesetzesprüfungsverfahren zulässig.

2. Im Gesetzesprüfungsverfahren ist kein Umstand hervorgekommen, der die im Prüfungsbeschluss geäußerten Bedenken des Verfassungsgerichtshofes ob der Verfassungsmäßigkeit der in Prüfung gezogenen Bestimmung zu zerstreuen vermochte:

2.1. Art 144 B-VG ist vor dem Hintergrund des dieser Bestimmung zu unterstellenden Zwecks eines möglichst effizienten Schutzes verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte auszulegen. Im Falle der Konstatierung einer (ohnehin schon) überlangen Verfahrensdauer im Sinne des Art 6 EMRK würde der Zweck des Verfahrens durch die Aufhebung eines im Übrigen nicht zu beanstandenden Bescheides angesichts der dadurch bewirkten zusätzlichen Verfahrensdauer geradezu konterkariert. Um seinen aus Art 144 B-VG erfließenden Rechtsschutzauftrag - auch mit Blick auf Art 13 EMRK - dennoch erfüllen zu können, hat der Verfassungsgerichtshof die Rechtsprechung entwickelt, wonach er sich in bestimmten Fällen mit der Feststellung der erfolgten (wenngleich mit der Zustellung der schriftlichen Bescheidausfertigung im allgemeinen beendeten) Rechtsverletzung zu begnügen hat (vgl. zB VfSlg. 13.893/1994, 14.193/1995, 14.225/1995 und 14.492/1996 betreffend das durch Art 6 Abs 1 PersFrSchG gewährleistete Recht auf eine Haftprüfungsentscheidung binnen einer Woche; zur Verletzung in dem durch Art 6 Abs 1 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist vgl. B1741/03 vom mit Verweis auf VfSlg. 17.307/2004).

2.2. Das Vorbringen der Bundesregierung ist daher schon im Ansatz nicht geeignet, das im Prüfungsbeschluss dargelegte Bedenken des Verfassungsgerichtshofes zu zerstreuen, weil es sich darin erschöpft darzulegen, dass diese mittlerweile ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, auf welcher der Prüfungsbeschluss beruht, unzutreffend sei.

2.3. Auf dem Boden dieser Rechtsprechung trägt die Bundesregierung hingegen kein Argument gegen die Bedenken des Verfassungsgerichtshofes vor. Sie räumt in ihrer schriftlichen Äußerung (unter Pkt. 4.1.) allerdings ein, dass § 82 Abs 2 Z 5 VfGG in allen Fällen, in denen der Beschwerdeführer "durch den angefochtenen Bescheid in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht oder wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung, einer gesetzwidrigen Kundmachung über die Wiederverlautbarung eines Gesetzes (Staatsvertrages), eines verfassungswidrigen Gesetzes oder eines rechtswidrigen Staatsvertrages in seinen Rechten verletzt worden ist," das Begehren, den angefochtenen Bescheid aufzuheben, verlangt.

Der Verfassungsgerichtshof sieht sich dadurch in seiner im Prüfungsbeschluss vorläufig vertretenen Auffassung bestätigt, dass § 82 Abs 2 Z 5 VfGG - gemessen an seinem Zweck - überschießend und vor dem Hintergrund seiner ständigen Rechtsprechung mit Art 144 Abs 1 B-VG und Art 6 iVm 13 EMRK nicht vereinbar ist.

3. Die in Prüfung gezogene Wortfolge des § 82 Abs 2 Z 5 Verfassungsgerichtshofgesetz 1953 - VfGG, BGBl. Nr. 85, in der Fassung des Kundmachungsreformgesetzes 2004, BGBl. I Nr. 100/2003, ", den angefochtenen Bescheid aufzuheben" war somit als verfassungswidrig aufzuheben.

Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.