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VfGH vom 02.12.1992, g190/92

VfGH vom 02.12.1992, g190/92

Sammlungsnummer

13275

Leitsatz

Verfassungswidrigkeit der Regelung über das unterschiedliche Pensionsalter von Mann und Frau nach dem GSVG idF des Sozialrechts-ÄnderungsG 1991 bis zum Inkrafttreten der Verfassungsbestimmung über die Zulässigkeit unterschiedlicher Altersgrenzen

Spruch

Die Wortfolge "nach Vollendung des 65. Lebensjahres, die Versicherte" im § 130 Abs 1 des Bundesgesetzes vom , BGBl. Nr. 560/1978, über die Sozialversicherung der in der gewerblichen Wirtschaft selbständig Erwerbstätigen (Gewerbliches Sozialversicherungsgesetz - GSVG) idF des ArtII Z 6 lita des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991, BGBl. Nr. 157/1991, war bis zum Ablauf des verfassungswidrig.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Feststellung im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1. Der Oberste Gerichtshof beantragte anläßlich bei ihm anhängiger Revisionen mit Beschlüssen vom , und , die Wortfolge "nach Vollendung des 65. Lebensjahres, die Versicherte" im § 130 Abs 1 des Gewerblichen Sozialversicherungsgesetzes (GSVG), BGBl. Nr. 560/1978, idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991, BGBl. Nr. 157/1991, als verfassungswidrig aufzuheben oder auszusprechen, daß in der angeführten Bestimmung diese Wortfolge in der Zeit vom 1. April bis verfassungswidrig war.

Diese Anträge sind hg. zu G132/92, G133/92, G156/92, G158/92, G188/92, G189/92, G190/92, G195/92 und G205/92 protokolliert.

Der Oberste Gerichtshof hegt gegen die im § 130 Abs 1 GSVG vorgesehene unterschiedliche Altersregelung für männliche und weibliche Versicherte verfassungsrechtliche Bedenken wegen Verstoßes gegen das Gleichheitsgebot.

2.1. Den Anträgen des Obersten Gerichtshofes liegen - auf das Wesentliche zusammengefaßt - folgende Sachverhalte zugrunde:

Die (männlichen) Revisionswerber sind alle vor dem Juni 1931 geboren; sie waren bei dem beklagten Versicherungsträger, der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, in der Pensionsversicherung nach dem GSVG pflichtversichert. Ihre zwischen März 1991 und September 1991 gestellten Anträge auf Gewährung der Alterpension gemäß § 130 Abs 1 GSVG lehnte die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft mit der Begründung ab, daß die Antragsteller das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Die in der Folge von den Pensionswerbern erhobenen Klagen wurden abgewiesen; ihren daraufhin erhobenen Berufungen wurde keine Folge gegeben.

2.2. Zur Präjudizialität führt der Oberste Gerichtshof im Antrag G132/92 (sowie in allen anderen Anträgen nahezu wortgleich) im wesentlichen aus:

"... Da der Anspruch des Klägers davon abhängt, ob die im § 130 GSVG festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind, hat der Oberste Gerichtshof diese Bestimmung anzuwenden. ...

Der gemäß § 113 Abs 2 GSVG für den Anspruch des Klägers maßgebende Stichtag liegt jedenfalls nach dem . Es ist daher § 130 idF des am in Kraft getretenen Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 BGBl 157 anzuwenden (ArtV Abs 6 dieses Gesetzes)."

2.3. Unter Berufung auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , G223/88 ua., begründet der Oberste Gerichtshof seine Anträge wie folgt:

"Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs bestehen gegen § 130 Abs 1 GSVG diesselben Bedenken, die zur teilweisen Aufhebung der (§§236 Abs 1 Z 1 lita, 236 Abs 1 Z 1 litb, 236 Abs 2 Z 1

und 253b Abs 1 ASVG, mit Erkenntnis vom , G223/88 ua.) geführt haben. Es verstößt auch die hiedurch getroffene Regelung gegen den Gleichheitsgrundsatz, weil sie bloß nach dem Geschlecht unterscheidet und Frauen als einheitliche Gruppe Männern gegenüberstellt und damit in Wahrheit nicht jene Besonderheiten berücksichtigt, die zu ihrer Rechtfertigung dienen sollen. Die Regelung kommt vorwiegend jenen Frauen zugute, deren Rollenbild sich von jenem der Männer nicht unterscheidet, während jene Frauen, die durch Haushaltsführung und Obsorge für Angehörige besonders belastet sind, von ihr in wesentlich geringerem Maß Gebrauch machen können. Das unterschiedliche Maß der Belastung von Frauen und die tatsächliche körperliche Beanspruchung findet darin keinen Niederschlag. Bei weiblichen selbständig Erwerbstätigen, die kleinere Unternehmen führen, wird die Doppelbelastung besonders ausgeprägt sein, während bei größeren Unternehmen Frauen Beruf, Haushalt und Kindererziehung leichter koordinieren können und damit auch keine Versicherungszeiten verlieren. Überdies ist an die Fälle der Wanderversicherung (§129 GSVG) zu denken, in denen ein Versicherter auch Versicherungsmonate nach dem ASVG erworben hat. In diesen Fällen kommen die für die Aufhebung einzelner Bestimmungen des ASVG maßgebenden Gründe unmittelbar zum Tragen. Wie der Verfassungsgerichtshof in dem angeführten Erkenntnis vom schon andeutete, ist die unterschiedliche Regelung des Pensionsalters für Männer und Frauen schließlich auch deshalb bedenklich, weil sie mit Regelungen betreffend Pensionssysteme, welche die gesetzliche Pensionsversicherung ergänzen (wie etwa das BPG), nicht im Einklang stehen.

Von den von der Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof betroffenen Bestimmungen ist vor allem § 253b ASVG mit dem hier anzuwendenden § 130 GSVG vergleichbar, weil er die Voraussetzungen für die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer regelt. Der Unterschied, der zwischen der vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer (die im Bereich des GSVG im § 131 geregelt ist) und der Alterspension nach § 130 GSVG und zwischen einer Pension nach dem ASVG und einer solchen nach dem GSVG besteht, vermag die bloß nach dem Geschlecht differenzierende Regelung im § 130 Abs 1 GSVG nicht zu rechtfertigen. Daß für selbständig und unselbständig Erwerbstätige in dem hier erörterten Zusammenhang der gleiche Maßstab anzulegen ist, geht auch aus dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , G22/90, hervor, mit dem vergleichbare Bestimmungen des BSVG teilweise als verfassungswidrig aufgehoben wurden. Es ist daher die im § 130 Abs 1 GSVG enthaltene Wortfolge 'nach Vollendung des 65. Lebensjahres, die Versicherte' verfassungsrechtlich bedenklich.

Ohne Einfluß auf die Verfassungsmäßigkeit der angeführten Bestimmung ist für die Zeit des hier als Stichtag in Betracht kommenden ((G132/92, G189/92, G190/92); (G133/92, G156/92); (G188/92); (G158/92, G195/92); (G205/92)) das Bundesgesetz über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten BGBl 1991/627. Nach dessen im Rang einer Verfassungsbestimmung stehenden ArtI sind zwar gesetzliche Regelungen, die unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Versicherten der gesetzlichen Sozialversicherung vorsehen, zulässig. Diese Bestimmung trat aber gemäß dem ArtIV des Gesetzes erst mit in Kraft. Da die Rückwirkung nicht angeordnet ist und nach der Begründung des dem Gesetz zugrundeliegenden Initiativantrags im übrigen auch nicht beabsichtigt war (vgl die Worte 'für den erwähnten Zeitraum' in 251 BlgNR 18.GP 2), kann das Gesetz die Verfassungsmäßigkeit einer Bestimmung für einen vor seinem Inkrafttreten liegenden Zeitraum nicht bewirken. Hätte der Gesetzgeber das gewollt, hätte er ausdrücklich die Rückwirkung anordnen müssen.

Der Oberste Gerichtshof ist schließlich der Meinung, daß die Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 130 Abs 1 GSVG durch die in der Revisionsbeantwortung ins Treffen geführten Argumente nicht hinreichend beseitigt werden können. Es ist ohne Bedeutung, daß diese Bestimmung in einer Fassung anzuwenden ist, die vom Gesetzgeber erst nach dem schon wiederholt angeführten Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom beschlossen wurde. Der Verfassungsgerichtshof hat in diesem Erkenntnis schon darauf hingewiesen, daß die verfassungswidrige Regelung nicht deshalb beibehalten werden darf, weil erworbene Anwartschaften unberührt bleiben müssen. Es trifft zwar zu, daß es dem Gesetzgeber wegen des Schutzes des Vertrauens verwehrt war, das Pensionsalter für Männer und Frauen sofort schematisch gleichzusetzen. Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis aber noch ausgeführt, daß auch für jene Personen, die dem Pensionsalter nahe sind, im Sinne des Vertrauensschutzes auf der Grundlage des geltenden Verfassungsrechtes die bisherigen Unterschiede im Pensionsalter nur dann aufrecht erhalten werden dürfen, 'wenn - und nur wenn -' gleichzeitig Regelungen geschaffen werden, die einen allmählichen Abbau der bloß geschlechtsspezifischen Unterscheidungen bewirken. Dies ist hier jedoch nicht geschehen.

Daß der Gesetzgeber im Hinblick auf die Schwierigkeiten der zu regelnden Materie nicht in der Lage war, schon früher eine verfassungskonforme Lösung herbeizuführen, kann die Verfassungswidrigkeit einer Bestimmung nicht beseitigen. Es wäre ihm im übrigen freigestanden, die Rückwirkung des Bundesgesetzes über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten anzuordnen. Der Umstand, daß der Verfassungsgerichtshof für das Inkrafttreten der Aufhebung der im ASVG enthaltenen Bestimmungen eine Frist setzte, kann im Bereich anderer Gesetze, also auch im Bereich des GSVG, keine Bedeutung haben. Das Argument, daß ein Pensionswerber, dessen Anspruch sich nach einem vor dem liegenden Stichtag richtet, bessergestellt wäre als ein Pensionswerber mit einem späteren Stichtag, geht schon deshalb fehl, weil dies nur auf Pensionswerber zutrifft, denen die Begünstigung der Regelung über den Anlaßfall im Art 140 Abs 7 B-VG zugutekommt.

Zusammenfassend ist der Oberste Gerichtshof der Meinung, daß gegen den von ihm anzuwendenden § 130 Abs 1 GSVG idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 dieselben Bedenken bestehen, die dazu geführt haben, daß der Verfassungsgerichtshof mit dem Erkenntnis vom , G223/88 ua, verschiedene Bestimmungen des ASVG teilweise aufgehoben hat, oder die er in diesem Erkenntnis andeutete. Dies verpflichtet ihn gemäß Art 89 Abs 2 B-VG, beim Verfassungsgerichtshof den Antrag auf Aufhebung der verfassungsrechtlich bedenklichen Wortfolge zu stellen. Ginge man davon aus, daß die Verfassungswidrigkeit durch das Bundesgesetz über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten ab beseitigt wurde, so käme in Betracht, daß die bezogene Wortfolge nicht mehr aufgehoben werden, sondern daß gemäß dem sinngemäß anzuwendenden Art 140 Abs 4 B-VG nur mehr ausgesprochen werden könnte, daß die Wortfolge in der Zeit vom 1.4. bis verfassungswidrig war. Der Oberste Gerichtshof hat daher auch in diesem Sinne einen Antrag an den Verfassungsgerichtshof gestellt ..."

3. Die Bundesregierung hat von der Erstattung einer meritorischen Äußerung Abstand genommen. Für den Fall der Aufhebung stellt sie den Antrag, der Verfassungsgerichtshof wolle gemäß Art 140 Abs 5 B-VG für das Außerkrafttreten eine Frist von einem Jahr bestimmen, um die allenfalls erforderlichen legistischen Vorkehrungen zu ermöglichen.

4.1.1. Der unter der Überschrift "Alterspension" stehende § 130 Abs 1 GSVG idF des ArtII Z 6 lita des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991, BGBl. Nr. 157/1991, - die vom Obersten Gerichtshof angefochtene Wortfolge ist hervorgehoben - lautet:

"(1) Anspruch auf Alterspension hat der Versicherte nach Vollendung des 65. Lebensjahres, die Versicherte nach Vollendung des 60. Lebensjahres, wenn die Wartezeit (§120) erfüllt ist,

1. wenn der (die) Versicherte am Stichtag (§113 Abs 2) weder in der Pensionsversicherung nach diesem noch nach einem anderen Bundesgesetz pflichtversichert ist und die für den Versicherten (die Versicherte) in Betracht kommende weitere Anspruchsvoraussetzung gemäß Abs 2 zutrifft;

2. solange der (die) Versicherte innerhalb von sechs Kalendermonaten ab dem Stichtag (§113 Abs 2) weder eine die Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung nach diesem noch nach einem anderen Bundesgesetz begründende selbständige oder unselbständige Erwerbstätigkeit ausübt. Außer Betracht bleibt jedoch eine solche Erwerbstätigkeit, die

a) als betriebliche Tätigkeit bzw. selbständige Tätigkeit im Sinne der §§2 und 3 ausgeübt wird, sofern sie der (die) Versicherte nicht während der letzten sechs Monate vor dem Stichtag (§113 Abs 2) überwiegend ausgeübt hat,

b) nicht bei dem Dienstgeber ausgeübt wird - oder bei einem anderen Unternehmen, das sich im wirtschaftlichen Entscheidungsbereich dieses Dienstgebers befindet oder mit diesem in einer konzernartigen Verbindung steht -, bei dem sie während der letzten sechs Monate vor dem Stichtag (§113 Abs 2) überwiegend ausgeübt worden ist,

c) nicht auf der Fortführung des unmittelbar vor dem Stichtag (§113 Abs 2) geführten land(forst)wirtschaftlichen Betriebes (§2 Abs 1 Z 1 des Bauern-Sozialversicherungsgesetzes) beruht bzw. die nicht auf einer Beschäftigung im Sinne des § 2 Abs 1 Z 2 des Bauern-Sozialversicherungsgesetzes beruht, die während der letzten sechs Monate vor dem Stichtag (§113 Abs 2) ausgeübt worden ist.

Eine Pflichtversicherung auf Grund einer Beschäftigung als Hausbesorger im Sinne des Hausbesorgergesetzes und eine Pflichtversicherung auf Grund eines am Stichtag bereits beendeten Beschäftigungsverhältnisses, aus dem dem (der) Versicherten noch ein Anspruch auf Kündigungsentschädigung oder ein Anspruch auf Insolvenz-Ausfallgeld anstelle von Kündigungsentschädigung zusteht, haben hiebei außer Betracht zu bleiben."

4.1.2. ArtV Abs 6 des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 bestimmt:

"(6) Die §§130 Abs 1, 131 Abs 1 und 132 Abs 1 des Gewerblichen Sozialversicherungsgesetzes in der Fassung des ArtII Z 6 lita, 7 und 8 sind nur auf Versicherungsfälle anzuwenden, in denen der Stichtag nach dem liegt."

Das Sozialrechts-Änderungsgesetz 1991 ist (mit Ausnahme des ArtIX) mit in Kraft getreten (ArtXI Abs 1 dieses Gesetzes).

4.2. Die für die vorliegenden Anträge bedeutsamen Bestimmungen des Bundesgesetzes über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten, BGBl. Nr. 627/1991, lauten:

"Artikel I

(Verfassungsbestimmung)

Gesetzliche Regelungen, die unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Versicherten der gesetzlichen Sozialversicherung vorsehen, sind zulässig."

"Artikel IV

(1) (Verfassungsbestimmung) ArtI tritt mit in Kraft und mit Ablauf des außer Kraft.

(2) ArtII und III treten mit in Kraft."

5. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

5.1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iS des Art 140 B-VG bzw. des Art 139 B-VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig ausgeschlossen (denkunmöglich) ist, daß die - angefochtene - generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlaßfall bildet (zB VfSlg. 7999/1977, 9811/1983, 10296/1984, 11565/1987). Da dies nicht der Fall ist und auch im Verfahren keine Prozeßhindernisse hervorgekommen sind, sind die Gesetzesprüfungsanträge zulässig.

5.2. Die Bedenken treffen zu:

5.2.1. Mit Erkenntnis vom , G223/88 ua., hat der Verfassungsgerichtshof (auch) die Wortfolge "bei männlichen, nach Vollendung des 50. Lebensjahres bei weiblichen Versicherten" im § 236 Abs 1 Z 1 litb ASVG, die Wortfolge "bei männlichen Versicherten bzw. nach Vollendung des 50. Lebensjahres bei weiblichen Versicherten" im § 236 Abs 2 Z 1 ASVG und die Wortfolge "nach Vollendung des 60. Lebensjahres, die Versicherte" im § 253b Abs 1 ASVG wegen Verstoßes gegen den auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitsgrundsatz als verfassungswidrig aufgehoben. In der Begründung zu dieser Entscheidung hat der Verfassungsgerichtshof insbesondere ausgeführt:

"Der Verfassungsgerichtshof geht ... davon aus, daß viele Frauen aufgrund ihrer traditionellen gesellschaftlichen Rolle besonderen Belastungen durch die Haushaltsführung und Obsorge für Kinder ausgesetzt waren und noch ausgesetzt sind. In Übereinstimmung mit den antragstellenden Gerichten ist aber der Verfassungsgerichtshof der Auffassung, daß auch bei der gebotenen Durchschnittsbetrachtung die Festlegung eines unterschiedlichen Pensionsalters für Frauen und Männer kein geeignetes Mittel ist, um den Unterschieden in der gesellschaftlichen Rolle der Frauen und Männer angemessen Rechnung zu tragen.

... Zu Recht wies der Oberste Gerichtshof darauf hin, daß eine nicht unerhebliche und daher nicht zu vernachlässigende Anzahl berufstätiger Frauen gar nicht der erwähnten Doppelbelastung ausgesetzt sei und daß die derzeitige Regelung auch nicht berücksichtige, in welchem Maße Frauen tatsächlich durch die Haushaltsführung und Kindererziehung besonders belastet sind.

Daß es keinen adäquaten Ausgleich für die bei einer bestimmten Anzahl der Frauen bestehende Doppelbelastung durch Beruf und Familie darstellt, wenn für sozialversicherte Frauen generell ein niedrigeres Pensionsanfallsalter festgesetzt wird als für Männer, zeigt sich besonders deutlich in jenen Fällen, in denen Frauen wegen der Obsorge für Kinder ihre Berufslaufbahn später beginnen oder unterbrechen mußten: Sie haben dadurch gegenüber Männern und Frauen, die ihre Berufslaufbahn unmittelbar nach der Ausbildung begonnen haben und ununterbrochen fortsetzen konnten, in ihrer pensionsrechtlichen Stellung bedeutende Nachteile. Entweder kommen sie überhaupt nicht in den Genuß der vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer (Frühpension) oder sie müssen aufgrund der geringeren Versicherungszeiten (Beitragszeiten und Ersatzzeiten) eine niedrigere Pension in Kauf nehmen. ...

...

Was immer der Grund dafür gewesen sein mag, daß der Unterschied im tatsächlichen Pensionszugangsalter zwischen Männern und Frauen weit unter fünf Jahren liegt, das Verfahren hat jedenfalls keinen Anhaltspunkt dafür ergeben, daß die besondere Belastung durch die Haushaltsführung und Obsorge für Kinder tatsächlich durch das niedrigere Pensionszugangsalter von Frauen abgegolten wird. Das niedrigere Pensionsanfallsalter für Frauen kommt eher jener Gruppe von Frauen zugute, deren Berufslaufbahn nicht durch Haushaltsführung und Obsorge für Kinder unterbrochen war, die also mehr Versicherungszeiten erwerben konnten als jene Frauen, deren Belastung abgegolten werden soll.

Die von der Bundesregierung vorgelegten Statistiken bestätigen, daß die Belastung von Frauen zunimmt, je mehr Kinder zu betreuen sind. Je größer diese Belastung jedoch ist, umso weniger ist eine Frau in der Regel in der Lage, die für einen frühen Pensionsantritt erforderlichen Versicherungszeiten zu erwerben.

Die angefochtenen Bestimmungen begünstigen somit vorwiegend jene Frauen, die der Belastung, die das niedrigere Pensionsalter ausgleichen soll, gar nicht oder wesentlich weniger ausgesetzt waren als Frauen, die infolge Haushaltsführung und Obsorge für Kinder ihre Berufslaufbahn unterbrechen mußten, und deren tatsächliches Pensionsanfallsalter daher in Wahrheit jenem der Männer in der Regel gleichkommt. ...

...

Auch die Behauptung der Bundesregierung, daß bei Frauen früher als bei Männern die Arbeitskraft unter das für den Verbleib im Arbeitsprozeß notwendige Ausmaß sinke, gilt keineswegs allgemein. Der Verfassungsgerichtshof verkennt dabei nicht, daß es noch immer Berufe gibt, die vorwiegend von Frauen ausgeübt werden und die erhöhte körperliche Beanspruchung mit sich bringen. Selbst eine Durchschnittsbetrachtung rechtfertigt aber nicht eine (scheinbare oder wirkliche) Begünstigung aller Frauen in gleicher Weise, also eine rein geschlechtsspezifische Differenzierung, wohl aber würde sie eine nach der Art der Tätigkeit differenzierende Regelung rechtfertigen (vgl. zB ArtVII des Nachtschicht-Schwerarbeitsgesetzes).

Auch der statistische Vergleich des Pensionszugangsalters bei Männern und Frauen wegen geminderter Arbeitsfähigkeit stützt die Argumente der Bundesregierung nicht. Er zeigt vielmehr folgendes Bild:

Bei selbständig Erwerbstätigen und Bauern bestand im langjährigen Durchschnitt überhaupt kein Unterschied im Pensionszugangsalter von Männern und Frauen. ...

...

Auch mit anderen Fakten konnte die Bundesregierung nicht belegen, daß die für die berufliche Tätigkeit erforderliche Leistungsfähigkeit generell bei Frauen in einem niedrigeren Lebensalter wegfällt als bei Männern. Die dem Verfassungsgerichtshof von den Parteien vorgelegten und von ihm eingeholten weiteren Unterlagen belegen die Behauptungen der Bundesregierung ebenfalls nicht. Im Verfahren haben sich auch sonst keine Anhaltspunkte für deren Zutreffen ergeben.

Die bestehenden Unterschiede im gesetzlich festgelegten Pensionsalter lassen sich daher auch nicht durch biologische Gründe rechtfertigen.

... Der Verfassungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht, daß der Gesetzgeber den Gleichheitssatz verletzt, wenn er bei Änderung der Rechtslage plötzlich und intensiv in erworbene Rechtspositionen eingreift. Dieser aus dem Gleichheitssatz erfließende Vertrauensschutz bedarf dann besonderer Beachtung, wenn Personen schon während ihrer aktiven Berufstätigkeit ihre Lebensführung auf den Bezug einer später anfallenden Pension eingerichtet haben (vgl. VfSlg. 11288/1987 und 11665/1988). Der Verfassungsgerichtshof hatte daher zu prüfen, ob eine Beseitigung der derzeitigen Regelung nicht zu einem so intensiven Eingriff in erworbene Rechtspositionen führt, daß dadurch eine andere Unsachlichkeit und somit Gleichheitswidrigkeit bewirkt würde.

Der Verfassungsgerichtshof ist der Ansicht, daß der Vertrauensschutz zwar eine Beibehaltung der bisherigen Regelung für jene Frauen rechtfertigt, die nahe dem Pensionsalter sind und die daher ihre Lebensführung bereits auf den herannahenden Ruhestand eingerichtet haben. Die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Regelung für alle Frauen, also auch für jene, die dem Pensionsalter fern sind, würde aber für den überwiegenden Teil berufstätiger Frauen ein Vertrauen in die ständige Aufrechterhaltung einer an sich gleichheitswidrigen Regelung schaffen. Der Verfassungsgerichtshof verweist in diesem Zusammenhang auf seine Ausführungen im Erkenntnis VfSlg. 8871/1980 (Witwerpension), die in gleicher Weise auch für den Abbau von Unterschieden im Pensionsalter gelten. In diesem Erkenntnis führte der Verfassungsgerichtshof aus:

'Ein Grund für die zumindest vorläufige Beibehaltung der gegenwärtigen Regelung könnte allerdings im Bestreben gefunden werden, erworbene Anwartschaften unberührt zu lassen und die Hinterbliebenenversorgung zugunsten des Mannes allmählich auszubauen; die erheblichen Kosten der Verwirklichung dieses Zieles und die technischen Schwierigkeiten einer sofortigen Angleichung auf niedrigerem Niveau könnten dann die vorübergehende Hinnahme einer ungleichen Behandlung nahelegen.

Solche Überlegungen führen aber im vorliegenden Fall nicht zum

Ergebnis, daß der gegenwärtige Rechtszustand völlig unverändert

beibehalten werden darf. ... Es können indessen nur solche

Ungleichbehandlungen (vorübergehend) sachlich sein, die wenigstens in der Richtung eines Abbaues der Unterschiede wirken würden.'

... Zusammenfassend ergibt sich aus diesen Überlegungen:

Es fällt in den rechtspolitischen Gestaltungsfreiraum des Gesetzgebers, unterschiedliche Belastungen von Personen oder Personengruppen im Arbeitsleben bei der Gestaltung des Leistungsrechtes der Pensionsversicherung entsprechend zu berücksichtigen.

Die angefochtenen Regelungen, die allgemein bloß nach dem Geschlecht unterscheiden und Frauen als eine einheitliche Gruppe Männern gegenüberstellen, berücksichtigen in Wahrheit nicht jene Besonderheiten, die zu ihrer Rechtfertigung dienen sollen. Sie kommen vorwiegend jenen Frauen zugute, deren Rollenbild sich von jenem der Männer nicht unterscheidet, während jene Frauen, die durch Haushaltsführung und Obsorge für Angehörige besonders belastet sind, von solchen Regelungen in wesentlich geringerem Maße Gebrauch machen können. Das unterschiedliche Maß der Belastung von Frauen und die tatsächliche körperliche Beanspruchung findet in derart undifferenzierten Regelungen keinen Niederschlag. Solche Regelungen sind daher ungeeignet, den aufgezeigten faktischen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Der Gesetzgeber kann allerdings, ohne gegen den Gleichheitsgrundsatz zu verstoßen, von einer Durchschnittsbetrachtung ausgehend Nachteile, die Gruppen von Personen im Arbeitsleben etwa durch erhöhte physische oder psychische Belastung typischerweise erleiden, durch eine entsprechende Gestaltung des Leistungsrechtes und dabei etwa auch durch Festlegung eines niedrigeren Pensionsanfallsalters abgelten.

Den angefochtenen - bloß nach dem Geschlecht differenzierenden - Regelungen fehlt jedoch die sachliche Rechtfertigung. Sie verletzen den Gleichheitsgrundsatz und waren daher aufzuheben."

5.2.2. Da die hier angefochtene Bestimmung des § 130 Abs 1 GSVG idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 ebenso wie jene Regelungen, die aufgrund der Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes vom , G223/88 ua., und vom , G22/90, der Aufhebung verfallen waren, bloß allgemein nach dem Geschlecht unterscheidet und Frauen als eine einheitliche Gruppe Männern gegenüberstellt, treffen die eben wiedergegebenen Überlegungen des Verfassungsgerichtshofes - da Kriterien, die eine andere Beurteilung zuließen, weder behauptet wurden noch dem Verfassungsgerichtshof erkennbar sind - in gleicher Weise auch für die im vorliegenden Gesetzesprüfungsverfahren angefochtene Regelung des § 130 Abs 1 GSVG zu.

5.2.3. § 130 Abs 1 GSVG idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 ist mit in Kraft getreten (ArtXI Abs 1 des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991) und nur auf Versicherungsfälle anzuwenden, in denen der Stichtag nach dem liegt (ArtV Abs 6 leg.cit.).

Mit ist gemäß dem im Verfassungsrang stehenden ArtIV Abs 1 des Bundesgesetzes über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten, BGBl. Nr. 627/1991, die Verfassungsbestimmung des ArtI dieses Gesetzes in Kraft getreten, die bestimmt, daß gesetzliche Regelungen, die unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Versicherten der gesetzlichen Sozialversicherung vorsehen, zulässig sind. Die hier angefochtene Wortfolge des § 130 Abs 1 GSVG findet daher ab diesem Zeitpunkt (bis zum , das ist der Tag, an dem ArtI des BG BGBl. Nr. 627/1991 gemäß ArtIV Abs 1 leg.cit. wieder außer Kraft tritt) ihre Deckung in dieser Bestimmung. Im vorliegenden Gesetzesprüfungsverfahren kommt es entscheidend auf die für die Anlaßfälle maßgebliche Rechtslage vor Inkrafttreten des ArtI des BG BGBl. Nr. 627/1991 an (da der gemäß § 113 Abs 2 GSVG maßgebliche Stichtag in allen Anlaßfällen nach dem und vor dem liegt). Der Umstand, daß die Ungleichbehandlung ab verfassungsrechtlich gedeckt ist, kann eine vorher bestandene Verfassungswidrigkeit nicht rückwirkend beseitigen, sondern nur eine Aufhebung der angefochtenen Norm durch den Verfassungsgerichtshof verhindern und bewirken, daß sich dieser mit der Feststellung begnügen muß, daß die angefochtene Wortfolge bis zum Inkrafttreten der Verfassungsbestimmung des ArtI des BG BGBl. Nr. 627/1991 verfassungswidrig war.

Es war daher auszusprechen, daß die Wortfolge "nach Vollendung des 65. Lebensjahres, die Versicherte" im § 130 Abs 1 GSVG idF des ArtII Z 6 lita des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 wegen Verstoßes gegen das auch den Gesetzgeber bindende Gleichheitsgebot bis zum Ablauf des verfassungswidrig war.

Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung dieser Feststellung erfließt aus Art 140 Abs 5 zweiter Satz B-VG.

Eine Fristsetzung für das Außerkrafttreten der Aufhebung kommt bei einem Ausspruch gemäß Art 140 Abs 4 B-VG nicht in Betracht (vgl. VfSlg. 9814/1983); ohne gleichzeitigen Ausspruch, daß die Gesetzesstelle auch auf die vor der Feststellung verwirklichten Tatbestände nicht mehr anzuwenden ist (Art140 Abs 7 B-VG), wirkt sich eine solche Feststellung allerdings nur auf die Anlaßfälle aus (VfSlg. 8726/1980, 10834/1986).

Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG vom Verfassungsgerichtshof ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.