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VfGH vom 19.06.1995, g183/94

VfGH vom 19.06.1995, g183/94

Sammlungsnummer

14164

Leitsatz

Keine Verfassungswidrigkeit der Befugnis der Berufungsbehörde zur Abänderung des angefochtenen Bescheides in jeder Richtung; kein Verstoß dieser Bestimmung gegen das Gewaltentrennungsprinzip aufgrund der Zuordnung der unabhängigen Verwaltungssenate zu den Verwaltungsbehörden im Sinne der Bundesverfassung; keine Gleichschaltung der unabhängigen Verwaltungssenate und des Verwaltungsgerichtshofs durch Art 129 B-VG

Spruch

Die Anträge werden abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. Der Verwaltungsgerichtshof hob mit Erkenntnis vom , Z 93/09/0383, über Beschwerde des M K den Bescheid des unabhängigen Verwaltungssenats des Landes Oberösterreich vom , ZVwSen-250042/31/Gf/La, womit über den Beschwerdeführer wegen Übertretung nach § 3 Abs 1 iVm § 4 Abs 3 und § 28 Abs 1 Z 1 lita Ausländerbeschäftigungsgesetz - AuslBG, BGBl. 218/1975, eine Geldstrafe (und für den Fall der Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe) verhängt worden war, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf.

1.2.1. Im fortgesetzten Verfahren stellte der Verwaltungssenat durch sein nach der Geschäftsverteilung zuständiges Mitglied gemäß Art 129 a Abs 3 iVm Art 89 Abs 2 und Art 140 Abs 1 B-VG sowie iZm § 62 VerfGG 1953 den (zum AZ G183/94 protokollierten) Antrag

"auf Aufhebung der Wortfolge 'nach jeder Richtung' in § 66 Abs 4 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes - AVG, BGBl. Nr. 51/1991, zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 866/1992, als verfassungswidrig; in eventu auf Aufhebung des § 24 des Verwaltungsstrafgesetzes - VStG, BGBl. Nr. 52/1991, zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 867/1992, als verfassungswidrig; in eventu auf Aufhebung des § 28 Abs 1 Z 1 des Ausländerbeschäftigungsgesetzes, BGBl. Nr. 218/1975, zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 314/1994, als verfassungswidrig."

1.2.2. Begründend führte der Verwaltungssenat ua. aus:

"... Der Verwaltungssenat (ist) gemäß § 63 Abs 1 VwGG an die im zitierten Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes zum Ausdruck gebrachte Rechtsansicht gebunden. Diese geht dahin, Ermittlungen darüber anzustellen, ob im Zuge der Strafbemessung die Bestimmung des § 20 VStG (Außerordentliche Milderung der Strafe) zur Anwendung gelangen kann.

Die Prüfung dieser Frage setzt wiederum voraus, daß es dem Verwaltungssenat grundsätzlich zukommt, erforderlichenfalls gemäß § 24 VStG iVm § 66 Abs 4 AVG den angefochtenen Bescheid 'nach jeder Richtung' abzuändern.

Die angefochtene Wortfolge ist somit präjudiziell und stellt ... den (primären) Sitz der Verfassungswidrigkeit dar.

Gemäß § 66 Abs 4 zweiter Satz AVG, der nach § 24 VStG iVm ArtII Abs 2 litA Z. 2 EGVG auch in auf Art 129a Abs 1 Z. 1 B-VG gegründeten Verfahren vor den unabhängigen Verwaltungssenaten anzuwenden ist, ist der Verwaltungssenat berechtigt bzw. nach der Ausprägung, die diese Bestimmung in der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes erfahren hat, sogar verpflichtet (vgl. zB VwSlg. 11237 A/1983 - verst. Sen.; Zl. 92/09/0054; v. , Zl. 92/09/0150; v. , Zl. 92/09/0178; u.v.a.), sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung (seine) Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern.

Dies bedeutet, daß der Senat - der von den Verwaltungsverfahrensgesetzen (AVG, VStG, EGVG) aus systematischer Sicht (von gewissen verfahrensrechtlichen Besonderheiten abgesehen) in gleicher Weise wie die sonstigen Berufungsbehörden der allgemeinen staatlichen Verwaltung kategorisiert wird - nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet ist, auch eigenes Ermessen anstelle jenes der Unterbehörden zu setzen. Dies wird auch aus dem angeführten Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom deutlich, mit dem dem Verwaltungssenat im Ergebnis aufgetragen wird, nach Klärung der Frage, ob § 20 VStG zum Tragen kommt, aus eigenem und anstelle der Unterbehörde gemäß § 19 VStG innerhalb des - im Hinblick auf § 20 VStG möglicherweise neu zu bestimmenden - gesetzlichen Strafrahmens die Strafbemessung vorzunehmen, wobei die Strafbemessung nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Ermessensentscheidung darstellt (vgl. zB VwGH v. 28.ll.1966, Zl. 1846/65; VwSlg. 10007 A/1980 - verst. Sen.).

Insoweit scheint jedoch die Wortfolge 'nach jeder Richtung' im zweiten Satz des § 66 Abs 4 AVG im Widerspruch zu den verfassungsmäßigen Grundlagen für die Verwaltungssenate, denen auch die für die Verwaltungssenate maßgeblichen und auf Art 129b Abs 5 B-VG gegründeten Verfahrensgesetze zu entsprechen haben, zu stehen, und zwar aus folgenden Gründen:

Art 129 B-VG ordnet, wie sich aus dessen Stellung im Gesamtsystem des B-VG ('Sechstes Hauptstück. Garantien der Verfassung und Verwaltung.') ergibt, die Verwaltungssenate weder den Behörden der allgemeinen staatlichen Verwaltung des Bundes ('Drittes Hauptstück. Vollziehung des Bundes./A. Verwaltung/B. Gerichtsbarkeit') oder der Länder ('Viertes Hauptstück. Gesetzgebung und Vollziehung der Länder.') noch sonstigen verfassungsmäßig vorgesehenen speziellen Vollzugsorganen ('Fünftes Hauptstück. Rechnungs- und Gebarungskontrolle'; 'Siebentes Hauptstück. Volksanwaltschaft') zu.

Hinsichtlich Art 129 B-VG hat der Verfassungsgerichtshof zudem etwa im Erkenntnis VfSlg. 8202/1977 (S. 416) ausgesprochen, daß diese Verfassungsbestimmung den darin genannten Organen (damals nur der Verwaltungsgerichtshof) zwar keine konkreten Kompetenzen überträgt und den einfachen Gesetzgeber auch nicht dazu ermächtigt, ihnen (ihm) solche einzuräumen; 'sie legt indes das Ziel der folgenden Artikel dar und ist insoweit als Auslegungsregel von Bedeutung'.

Hatte daher die Bestimmung des Art 129 B-VG bereits vor Erlassung der B-VG-Novelle 1988, mit der erst die Verwaltungssenate in die Verfassung aufgenommen wurden, die Bedeutung und Funktion einer Zielvorgabe und Auslegungsregel für die Art 130 bis 136 B-VG, so folgt daraus aus systematischer Sicht zwingend, daß diese Zielvorgabe erst recht auch für nachfolgend dem Kreis dieser Norm - ohne gleichzeitige inhaltliche Modifikation derselben - hinzugefügte Organe gilt.

Anders gewendet bedeutet dies, daß die Bestimmungen der Art 130 bis 136 B-VG, die als konkretisierender Ausdruck jener in Art 129 (B-VG) enthaltenen Zielvorgabe anzusehen sind, für dem Art 129 B-VG nachträglich hinzugefügte Organtypen nur insoweit als modifiziert angesehen werden können, als dies durch entsprechend begleitende Bestimmungen auf Verfassungsebene auch explizit zum Ausdruck gebracht wird bzw. umgekehrt: Soweit in den Art 129a und 129b B-VG keine spezialgesetzlichen Regelungen vorgesehen sind, gelten kraft Art 129 B-VG die Bestimmungen der Art 130 bis 136 B-VG auch für die Verwaltungssenate.

Nun sehen die Bestimmungen der Art 129a und 129b B-VG tatsächlich eine Reihe spezialgesetzlicher Regelungen, jedoch vornehmlich bloß kompetenz- und organisationsrechtlicher Natur vor; in verfahrensrechtlicher Hinsicht findet sich hingegen im besonderen keine Vorschrift, die die Maßgeblichkeit des Art 130 Abs 2 B-VG auch für die Verwaltungssenate ausschließen würde.

Im Gegenteil: Es entspricht geradezu dem das B-VG tragenden Gewaltenteilungsprinzip, wie es beispielsweise in Art 94 B-VG explizit für die ordentliche Gerichtsbarkeit zum Ausdruck kommt, daß es jeder außerhalb des Instanzenzuges der Behörden der allgemeinen staatlichen Verwaltung stehenden Institution - so ausdrücklich Art 129a Abs 1 B-VG ('nach Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges') - verwehrt sein muß, ihr eigenes Ermessen anstelle jenes der Verwaltung zu setzen und damit im Ergebnis 'anstelle der Verwaltung zu verwalten'. Dies bringen eben hinsichtlich jener im Sechsten Hauptstück des B-VG geregelten Organe der Art 130 Abs 2 B-VG einerseits für den Verwaltungsgerichtshof und für die Verwaltungssenate sowie andererseits Art 144 Abs 1 B-VG, der auf die Verletzung 'in Rechten' und nicht etwa auch auf eine bloße Zweckwidrigkeit des Bescheides abstellt, für den Verfassungsgerichtshof zum Ausdruck. Im anderen Fall käme dies vielmehr geradezu einer Preisgabe der Eigenständigkeit der Staatsfunktion 'Verwaltung' gleich, wenn diese gleichsam bloß zu einer die Entscheidung der Kontrollorgane ... vorbereitenden Institution degradiert würde. ...

Mithin führt auch eine grundprinzipienkonforme Interpretation zu dem Ergebnis, daß es den Verwaltungssenaten schon von Verfassungs wegen verwehrt ist, eigenes Ermessen anstelle jenes der Unterbehörde zu setzen.

Indem ihnen dies aber von § 66 Abs 4 zweiter Satz AVG zur

Pflicht gemacht zu werden scheint, erweist sich die in dieser

Bestimmung enthaltene Wendung 'nach jeder Richtung' ... insoweit

als verfassungswidrig. Diese Bestimmung ist ... auch als der

primäre Sitz der Verfassungswidrigkeit anzusehen.

Der Verfassungsgerichtshof hat allerdings zuletzt in seinem Beschluß vom , Zl. G11/93, deutlich gemacht, daß bei Gesetzesprüfungsverfahren, die auf Antrag eingeleitet werden, bereits der Antragsteller eine Abwägung dahingehend vornehmen muß, 'daß einerseits nicht mehr aus dem Rechtsbestand ausgeschieden wird, als Voraussetzung für den Anlaßfall bildet, daß aber andererseits der verbleibende Normteil keine Veränderung seiner Bedeutung erfährt. Da beide Ziele gleichzeitig niemals vollständig erreicht werden können, ist in jedem Einzelfall abzuwägen, ob und wieweit diesem oder jenem Ziel der Vorrang vor dem anderen gebührt'. Sieht sich daher ein Verwaltungssenat vor die Frage gestellt, ob er eine Verfahrensbestimmung oder eine materiellrechtliche Bestimmung anfechten soll, um seinen verfassungsrechtlichen Bedenken zum Durchbruch zu verhelfen, so ist grundsätzlich wohl der zweitangesprochene Weg einzuschlagen, weil die Aufhebung 'einer einzelnen Strafnorm hinreicht, um die Rechtslage für den Anlaßfall soweit zu bereinigen, daß die geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken nicht mehr bestehen'.

Eine Aufhebung der Wortfolge 'nach jeder Richtung' in § 66 Abs 4 AVG würde bedeuten, daß damit nicht nur den Verwaltungssenaten, sondern speziell auch den Oberbehörden der allgemeinen staatlichen Verwaltung im Administrativverfahren eine Ermessensausübung anstelle der Unterbehörde verwehrt wäre.

Diese Konsequenz könnte scheinbar dadurch vermieden werden, daß anstelle der Wortfolge 'nach jeder Richtung' bloß die Bestimmung des zweiten Satzes des § 24 VStG als verfassungswidrig aufgehoben wird, und zwar eben deshalb, weil darin eine dahingehende Anordnung, daß § 66 Abs 4 AVG bloß mit der Maßgabe im Verwaltungsstrafverfahren gilt, daß die Wortfolge 'nach jeder Richtung' nicht anzuwenden ist, fehlt.

Eine Aufhebung des gesamten zweiten Satzes des § 24 VStG würde jedoch dazu führen, daß nach § 24 erster Satz VStG, der mit dem zweiten Satz des § 24 VStG in einem unlösbaren Zusammenhang steht, wiederum das AVG insgesamt - und damit auch die Wortfolge 'nach jeder Richtung' in § 66 Abs 4 AVG - anzuwenden wäre und damit im Ergebnis die Verfassungswidrigkeit nicht beseitigen.

Daher müßte die Bestimmung des § 24 VStG insgesamt aufgehoben werden.

Dies würde jedoch im Ergebnis bedeuten, daß das AVG im Verwaltungsstrafverfahren überhaupt nicht anzuwenden ist. Das Verwaltungsstrafverfahren baut jedoch auf einer subsidiären Heranziehbarkeit des AVG auf und ist ohne diese Ergänzung schlechthin nicht vollziehbar.

Um diese Konsequenz zu vermeiden, müßte daher die Bestimmung des § 28 Abs 1 Z. 1 (lita) AuslBG als verfassungswidrig aufgehoben werden, und zwar deshalb, weil sich darin keine Anordnung dahingehend, daß § 66 Abs 4 AVG mit der Maßgabe gilt, daß dessen Wortfolge 'nach jeder Richtung' im Verwaltungsstrafverfahren nach dem AuslBG nicht anzuwenden ist, findet.

Die Prüfung bzw. Entscheidung der Frage, ob bzw. inwieweit es der Aspekt der rechtspolitischen Tragweite der Aufhebung entweder der Wortfolge 'nach jeder Richtung' in § 66 Abs 4 AVG oder des § 24 VStG oder des § 28 Abs 1 Z. 1 lita AuslBG rechtfertigt, sich demgegenüber gleichsam immer weiter vom primären Sitz der Verfassungswidrigkeit zu entfernen, scheint dem Verwaltungssenat bereits auf der Ebene der Antragstellung jedoch nicht zuzukommen.

..."

1.3.1. Beim unabhängigen Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich sind weiters zu ZVwSen-230331/3/Gf/Km u.a. Verfahren über - ausschließlich die Strafhöhe betreffende - Berufungen gegen drei Straferkenntnisse der Bundespolizeidirektion Linz vom anhängig, womit über W S wegen Übertretung des § 12 Abs 2 Geschlechtskrankheitengesetz, StGBl. 152/1945, iVm § 1 der Verordnung des Bundesministers für Gesundheit und Umweltschutz über die gesundheitliche Überwachung von Personen, die der Prostitution nachgehen, BGBl. 314/1974 idF 591/1993, primäre Freiheitsstrafen verhängt wurden.

Auch in diesen Berufungsverfahren stellte der Verwaltungssenat durch die nach seiner Geschäftsverteilung zuständige Kammer (§51 c VStG) den (zum AZ G212/94 protokollierten) Antrag auf Aufhebung der Wortfolge "nach jeder Richtung" im zweiten Satz des § 66 Abs 4 AVG, in eventu

"auf Aufhebung des § 24 des Verwaltungsstrafgesetzes - VStG, BGBl. Nr. 52/1991, zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 799/1993, als verfassungswidrig; in eventu auf Aufhebung des § 12 Abs 2 des Geschlechtskrankheitengesetzes, StGBl. Nr. 152/1945, zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 345/1993, als verfassungswidrig; in eventu auf Aufhebung des § 1 der Verordnung des Bundesministers für Gesundheit und Umweltschutz über die gesundheitliche Überwachung von Personen, die der Prostitution nachgehen, BGBl. Nr. 314/1974, zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 591/1993, als gesetzwidrig; in eventu auf Aufhebung des § 12 Abs 2 des Geschlechtskrankheitengesetzes, StGBl. Nr. 152/1945, zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 345/1993, iVm § 1 der Verordnung des Bundesministers für Gesundheit und Umweltschutz über die gesundheitliche Überwachung von Personen, die der Prostitution nachgehen, BGBl. Nr. 314/1974, zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 591/1993, als verfassungswidrig."

1.3.2. Der Antrag wurde im wesentlichen gleichlautend begründet wie der im Verfahren G183/94 gestellte (s. Punkt 1.2.2.).

1.4. Die Bundesregierung trat den Anträgen des Verwaltungssenats in (gleichlautenden) schriftlichen Stellungnahmen entgegen und brachte zur Begründung ua. wörtlich vor:

"Aufgrund der ... bekämpften Vorschriften ist der Verwaltungssenat berechtigt bzw. nach seiner Auffassung auch verpflichtet, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung seine Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und demgemäß einen angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern, was auch dazu führen müsse, daß der Senat eigenes 'Ermessen' anstelle jenes der Unterbehörden zu setzen habe.

Die verfassungsrechtlichen Bedenken ... gehen dahin, daß es die Einordnung der Verwaltungssenate in das 6. Hauptstück der Bundesverfassung (Art129ff B-VG) mit sich bringe, daß die Art 130 bis 136 B-VG auch für die Verwaltungssenate einschlägig seien, soweit in den Art 129a und 129b B-VG keine 'spezialgesetzlichen' Regelungen vorgesehen sind. Da derartige 'spezialgesetzliche' Regelungen, die die Maßgeblichkeit des Art 130 Abs 2 B-VG auch für die Verwaltungssenate ausschließen würden, nicht vorhanden seien, seien einfachgesetzliche Bestimmungen, die die Senate zur eigenen 'Ermessensübung' ermächtigen bzw. sogar verpflichten, mit den Art 129ff B-VG nicht vereinbar.

Nach Auffassung der Bundesregierung sind die wiedergegebenen Bedenken des Verwaltungssenates aus folgenden Gründen nicht stichhaltig:

Art 129 B-VG beruft zwar neben dem Verwaltungsgerichtshof in Wien die Verwaltungssenate zur Sicherung der Gesetzmäßigkeit der gesamten öffentlichen Verwaltung, doch läßt bereits die vor Art 129a B-VG eingefügte Überschrift 'A. Unabhängige Verwaltungssenate in den Ländern' erkennen, daß der Rechtsschutz durch die Verwaltungssenate von demjenigen durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts (vgl. 'B. Verwaltungsgerichtshof', Art 130 bis 136, 'C. Verfassungsgerichtshof', Art 137 bis 148) zu unterscheiden ist. Entgegen der Behauptung des Verwaltungssenates bietet der Wortlaut des 6. Hauptstückes des B-VG keinen Hinweis darauf, daß Bestimmungen, die sich - wie Art 130 Abs 2 B-VG - ausdrücklich nur auf den Rechtsschutz durch den Verwaltungsgerichtshof beziehen, auch für die Verwaltungssenate einschlägig sein sollen.

Hinzu kommt, daß die Argumentation des Senates der Entstehungsgeschichte der Art 129, 129a und 129b in der Fassung der B-VG-Novelle 1988, BGBl. 685, in keiner Weise Rechnung trägt.

Schon das Vorblatt zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Regierungsvorlage eines Bundesverfassungsgesetzes, mit dem das Bundes-Verfassungsgesetz durch Bestimmungen über unabhängige Verwaltungsstrafbehörden ergänzt wird, (132) BlgNR XVII. GP, 3, weist ausdrücklich darauf hin, daß Ziel des beabsichtigten Gesetzes die Schaffung der verfassungsgesetzlichen Grundlagen für die Errichtung unabhängiger Verwaltungsstrafbehörden war, die 'Tribunale' iS der EMRK sein würden. Diese Zielrichtung der Regierungsvorlage kommt auch im Allgemeinen Teil der Erläuterungen zum Ausdruck, wenn darauf hingewiesen wird, daß eine dem Art 6 Abs 1 EMRK im Hinblick auf das Verwaltungsstrafverfahren angemessene Regelung nicht darauf verzichten könne, unabhängige Verwaltungsstrafbehörden zur Entscheidung in Verwaltungsstrafsachen zu berufen.

Im Besonderen Teil der Erläuterungen wird weiters hervorgehoben, daß es um die Schaffung von Verwaltungsbehörden der Länder gehe, die als 'Berufungsinstanz' in Erscheinung treten würden. Dabei wird auch auf die Rechtsprechung der Straßburger Instanzen hingewiesen, derzufolge es genüge, daß die Kontrolle der in Rede stehenden Entscheidungen unabhängigen und unparteiischen Behörden überwiesen wird, vorausgesetzt, daß in diesen Fällen eine Entscheidung dieser Behörden innerhalb einer angemessenen Zeit erfolgen kann und sich die Kontrollbefugnis sowohl auf die Rechts- als auch auf die Tatfragen bezieht.

Der Ausschußbericht, 817 BlgNR XVII. GP, 4ff, hebt einerseits die Stellung der Verwaltungssenate als Verwaltungsbehörden der Länder hervor und begründet andererseits die gegenüber der Regierungsvorlage ausgeweitete Zuständigkeit damit, daß die Möglichkeit geschaffen werden sollte, die Zuständigkeit der unabhängigen Verwaltungssenate auch in Fällen zu begründen, bei denen es um die Entscheidung über 'civil rights and obligations' im Verwaltungswege geht.

Aus den Gesetzesmaterialien zur B-VG-Novelle 1988, BGBl. 685, ergibt sich somit eindeutig, daß der Verfassungsgesetzgeber die Verwaltungssenate als Tribunale iS der EMRK einrichten wollte und ihnen daher die Entscheidung in der Sache selbst in den in Art 129a Abs 1 (B-VG) umschriebenen Angelegenheiten einräumen wollte.

Der Verwaltungssenat vertritt ergänzend die Auffassung, daß es

dem das B-VG tragenden Gewaltenteilungsprinzip, wie es zB in

Art94 B-VG explizit für die ordentliche Gerichtsbarkeit zum

Ausdruck komme, widersprechen würde, wenn eine außerhalb des

Instanzenzuges der Behörden der allgemeinen staatlichen

Verwaltung stehende Institution ihr eigenes Ermessen anstelle

jenes der Verwaltung setzen dürfte und damit im Ergebnis

'anstelle der Verwaltung zu verwalten' hätte, weil es ansonsten

zu einer Preisgabe der Eigenständigkeit der Staatsfunktion

'Verwaltung' kommen würde. Aus diesem Grund hält es der Senat für

geboten, die Bestimmungen des 6. Hauptstückes

'grundprinzipienkonform' in der ... dargelegten Weise auszulegen.

Unbeschadet der (obigen) Ausführungen ... sind nach Auffassung

der Bundesregierung auch die Bedenken des Verwaltungssenates hinsichtlich des gewaltenteilenden Grundprinzips der österreichischen Bundesverfassung nicht begründet, und zwar selbst dann, wenn man die Tatsache vernachlässigt, daß die Verwaltungssenate als Verwaltungsbehörden eingerichtet sind. Die Verfassungsentwicklung seit 1876, insbesondere aber seit 1920, zeigt nämlich, daß dem Verfassungsgesetzgeber durchaus bestimmte Formen meritorischer Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes bekannt waren und daß er diese auch im B-VG verankert hat. Dabei darf vor allem auch nicht übersehen werden, daß kassatorische und meritorische Verwaltungsgerichtsbarkeit in keinem absoluten Gegensatz stehen, sondern gewisse fließende Übergänge zulassen (vgl. grundlegend Ress, Die Entscheidungsbefugnis in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1968, 153ff; Walter, Kassatorische oder reformatorische Entscheidung?, in: Lehne - Loebenstein - Schimetschek (Hrsg.), Die Entwicklung der österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1976, 394ff).

Art 15 StGG über die richterliche Gewalt verhieß einen Rechtsschutz gegen rechtswidrige Entscheidungen oder Verfügungen durch einen Verwaltungsgerichtshof, überließ es aber einem besonderen Gesetz, die Kompetenz, die Zusammensetzung und das Verfahren des Verwaltungsgerichtshofes zu regeln. Aufgrund dieser Verfassungsvorschrift, die bis 1918 maßgeblich blieb, erging das Gesetz betreffend die Errichtung eines Verwaltungsgerichtshofes, RGBl. 36/1876, das die bloß kassatorische Entscheidungsbefugnis des Verwaltungsgerichtshofes festlegte. Diese Festlegung war jedoch nicht verfassungsrechtlich vorgegeben, sondern sie entsprang einer - äußerst umstrittenen - rechtspolitischen Entscheidung des Gesetzgebers (vgl. dazu zB Winkler, Die Entscheidungsbefugnis des österreichischen Verwaltungsgerichtshofes im Lichte der Gewaltentrennung, in: Külz - Naumann (Hrsg.), Staatsbürger und Staatsgewalt, I, 1963, 283ff; Walter, aa0, 391, FN 2).

Nachdem das Gesetz über die Einrichtung eines deutsch-österreichischen Verwaltungsgerichtshofes, StGBl. 88/1919, die Vorschriften in der Monarchie im hier maßgeblichen Zusammenhang übernommen hatte, kam es mit dem Inkrafttreten des B-VG 1920 auf Verfassungsstufe zu einer wesentlichen Veränderung in Richtung auf eine (auch) meritorische Verwaltungsgerichtsbarkeit.

Gemäß Art 133 Abs 3 B-VG 1920 konnte der Verwaltungsgerichtshof in der Sache selbst entscheiden, soweit nicht die Behörde nach den Bestimmungen des Gesetzes zur Entscheidung oder Verfügung nach freiem Ermessen befugt war. (Diese Regelung wird von Ringhofer, Der Verwaltungsgerichtshof, 1955, 89, und Oberndorfer, Die österreichische Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1983, 29, als 'bedeutendste Neuerung' gegenüber der früheren Rechtslage bezeichnet). Noch der vorläufige Verfassungstext des Verfassungsunterausschusses enthielt in Art 143 Abs 3 eine unbeschränkte Ermächtigung für den Verwaltungsgerichtshof, in der Sache selbst zu entscheiden. Erst in der 18. Sitzung des Unterausschusses des Verfassungsausschusses wurde der sich auf das freie Ermessen beziehende Halbsatz angefügt (vgl. Ermacora, Quellen zum Österreichischen Verfassungsrecht (1920), 1967, 410 und 494; vgl. zur Bedeutung der Einschränkung Kelsen - Froehlich - Merkl, Die Bundesverfassung vom , 1922, 245). Aus den Beratungen des Unterausschusses ist zwar erkennbar, daß der Problematik des freien Ermessens ein besonderes Augenmerk gewidmet wurde (insb. im Hinblick auf die in Art 129 Abs 3 B-VG 1920 aufgenommene Wortgruppe 'im Sinne des Gesetzes'), die Einführung einer meritorischen Verwaltungsgerichtsbarkeit, wie sie bereits im sogenannten Mayr-Privatentwurf, in dessen zweiter Fassung, im sogenannten Danneberg-Entwurf sowie im sogenannten 'Evidenz-Exemplar' (vgl. die Synopse der Entwürfe bei Ermacora, Die Entstehung der Bundesverfassung 1920, 1990, 404ff) vorgesehen war, kann aber aufgrund der vorhandenen Verfassungsmaterialien nicht im Widerspruch zum gewaltenteilenden Grundprinzip des B-VG stehend verstanden werden. Der Inhalt dieses Grundprinzips darf nämlich nicht aus Überlegungen im Rahmen der allgemeinen Staatslehre über die Gewaltentrennung abgeleitet werden, er kann vielmehr nur aus dem Normenmaterial der Stammfassung des B-VG 1920 gewonnen werden. Da jedoch, wie gezeigt, das B-VG 1920 in Art 133 Abs 3 in einem relativ weiten Umfang und damit in Abkehr vom Gesetz RGBl. 36/1876 eine meritorische Verwaltungsgerichtsbarkeit ermöglichte, muß die Annahme unbegründet erscheinen, daß damit ein Widerspruch zu einem Grundprinzip des B-VG 1920 vorlag.

In dieselbe Richtung weist die B-VG-Novelle 1925, durch die zwar die in Art 133 Abs 3 B-VG 1920 enthaltene meritorische Verwaltungsgerichtsbarkeit beseitigt wurde, für Verwaltungsstrafsachen jedoch in Art 132 Abs 3 für den Fall einer Beschwerde gegen die Strafhöhe der Verwaltungsgerichtshof ermächtigt wurde, in seinem stattgebenden (Erkenntnis) die Strafe innerhalb des gesetzlichen Ausmaßes festzusetzen. (Diese Fassung des Art 132 B-VG wurde freilich niemals wirksam; vgl. Adamovich,

Die Bundesverfassungsgesetze, 7. Auflage, 1948, FN zu Art 129 B-VG; Ringhofer, aa0, 92; Oberndorfer, aa0, 29). Weder die Regierungsvorlage, 327 BlgNR II. GP, noch der Ausschußbericht, 422 BlgNR II. GP, geben einen Hinweis darauf, daß die Schaffung dieser speziellen meritorischen Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes, die durchaus der nunmehr bestehenden Kompetenz der Verwaltungssenate ähnlich ist, in einem Spannungsverhältnis zum gewaltenteilenden Grundprinzip des B-VG 1920 stehend gewertet wurde. Die Regierungsvorlage weist sogar ausdrücklich darauf hin, daß die an die Ausweitung der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes auf Verwaltungsstrafsachen geknüpften Erwartungen schwer enttäuscht worden wären, wenn auch in solchen Fällen die Tätigkeit des Verwaltungsgerichtshofes sich in der Kassation wegen Rechtswidrigkeit erschöpfen würde.

Durch die B-VG-Novelle 1929 wurden die Bestimmungen über den Verwaltungsgerichtshof neuerlich abgeändert, die Ermächtigung zur meritorischen Entscheidung bei Beschwerden über die Strafhöhe in Verwaltungsstrafsachen in Art 132 Abs 3 blieb jedoch bestehen.

Nach 1945 wurden die nähere Einrichtung, der Aufgabenkreis und das Verfahren des Verwaltungsgerichtshofes gemäß § 48 der Vorläufigen Verfassung, StGBl. 5/1945, durch einfaches Gesetz, das Verwaltungsgerichtshofgesetz (VwGG), StGBl. 208/1945, neu geregelt. § 42 VwGG beschränkte die Entscheidungsbefugnis des Verwaltungsgerichtshofes wieder generell auf die Kassation des angefochtenen Bescheides oder die Abweisung der Beschwerde. Da diese Beschränkung (neben anderen Bestimmungen des VwGG, wie derjenigen über die Säumnisbeschwerde) mit dem wieder in Kraft getretenen B-VG in der Fassung von 1929 nicht vereinbar war (vgl. Ringhofer, aa0 103; RV 208 BlgNR V. GP, 3) wurde das

6. Hauptstück des B-VG mit der Novelle BGBl. 211/1946 so geändert, daß es die im wesentlichen noch heute geltende Form erhielt, in der eine ausdrückliche Ermächtigung zur meritorischen Entscheidung, von der Erwähnung der nunmehr auch auf Verfassungsstufe eingeführten Säumnisbeschwerde abgesehen, nicht enthalten ist. Das B-VG überläßt es vielmehr dem einfachen Gesetzgeber, inwieweit dem Verwaltungsgerichtshof auch meritorische Entscheidungsbefugnisse zukommen. Dies ergibt sich schon aus der in der Regierungsvorlage, 208 BlgNR V. GP, 4, enthaltenen Bemerkung, daß wie seinerzeit bei Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Österreich und dann 'neuerdings' in der (V)orläufigen Verfassung 'nur Leitgrundsätze' in die Verfassung aufgenommen werden sollten.

Im Hinblick auf die genannten Beispiele meritorischer Verwaltungsgerichtsbarkeit, die auch die Übung von 'Ermessen' in dem hier maßgeblichen Sinn (vgl. Adamovich, Grundriß des österreichischen Staatsrechtes, 2. Auflage, 1932, 343) beinhalteten, sowie die Neuregelung des 6. Hauptstückes des B-VG durch die Novelle BGBl. 211/1946 kann dem gewaltenteilenden Grundprinzip der österreichischen Bundesverfassung somit nicht die vom Verwaltungssenat unterstellte Bedeutung beigemessen werden. Da aber eine 'grundprinzipienkonforme' Interpretation der Bestimmungen über das 6. Hauptstück des B-VG gar nicht erforderlich ist, ist auch der auf dem Erfordernis einer solchen Interpretation aufbauenden Argumentation des Verwaltungssenates die Grundlage entzogen. ..."

1.5.1. Der am Verfahren G183/94 beteiligte M K sprach sich in einer Stellungnahme gegen den Antrag des unabhängigen Verwaltungssenats des Landes Oberösterreich aus. Die übrigen verfahrensbeteiligten Parteien gaben keine Äußerungen ab.

1.5.2. Im Verfahren G183/94 replizierte der Verwaltungssenat auf die abgegebenen Äußerungen der Bundesregierung sowie der genannten beteiligten Partei.

1.6. § 66 Abs 4 AVG hat folgenden Wortlaut:

"Außer dem in Abs 2 erwähnten Fall hat die Berufungsbehörde, sofern die Berufung nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Sie ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung (§60) ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern."

(Die zur Aufhebung begehrte Gesetzesstelle ist hervorgehoben.)

2. Über die - zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen - Anträge (G183/94, G212/94) wurde erwogen:

2.1.1.1. Der anfechtende Verwaltungssenat hängt der Auffassung an, daß er die primär bekämpfte Wortfolge der Vorschrift des § 66 Abs 4 AVG bei den Entscheidungen über die Berufungen in den bei ihm anhängigen Verwaltungsstrafsachen (s. Abschnitte 1.1. und 1.3.) - im Hinblick auf § 24 VStG iVm ArtII Abs 2 Pkt. A Z 2 EGVG - anzuwenden habe. Diese Rechtsansicht ist jedenfalls denkmöglich.

2.1.1.2. § 51 Abs 7 erster Satz VStG bestimmt, daß ein beim unabhängigen Verwaltungssenat angefochtener Bescheid als aufgehoben gilt und das Verfahren einzustellen ist, wenn eine Berufungsentscheidung nicht innerhalb von fünfzehn Monaten ab der Einbringung der Berufung erlassen wird. Nach dem zweiten Satz des § 51 Abs 7 VStG gilt dies nicht in Sachen, in denen nicht nur der Beschuldigte das Recht der Berufung hat.

Im Fall G183/94 kommt jedenfalls die Regelung des zweiten Satzes des § 51 Abs 7 VStG zum Tragen, weil nicht nur dem Beschuldigten ein Berufungsrecht zustand (die Berufung an den Verwaltungssenat wurde vom Landesarbeitsamt Oberösterreich (vgl. § 28 a AuslBG idF BGBl. 450/1990; , G186-223/93) erhoben).

Im Fall G212/94 langte die mit datierte Berufung gegen die drei Straferkenntnisse vom am bei der Bundespolizeidirektion Linz ein. Die 15-Monatefrist ist daher noch nicht abgelaufen.

2.1.2. Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, sind die Primäranträge des Verwaltungssenats zulässig; sie sind jedoch nicht begründet.

2.1.3. Beizufügen bleibt, daß der Verwaltungssenat sich zur Stützung seiner (ersichtlich für den Fall der Unzulässigkeit der Primäranträge gestellten) Eventualanträge zu Unrecht auf den Beschluß des Verfassungsgerichtshofs vom , GZ G11/93-7, beruft. Denn der zitierte Fall betraf einen Antrag auf Aufhebung einer Bestimmung des VStG (§5 Abs 1, 2. Satz) wegen eines vermeintlichen Widerspruchs zur EMRK (Art6), den ein unabhängiger Verwaltungssenat in einer Verwaltungsstrafsache gestellt hatte, die vom österreichischen Vorbehalt zu Art 5 EMRK nicht erfaßt war. Der Verfassungsgerichtshof vertrat dazu, sinngemäß zusammengefaßt, die Meinung, daß die Aufhebung der im Antrag in Beziehung auf das konkrete Strafverfahren als verfassungswidrig bezeichneten, doch für das gesamte Verwaltungsstrafverfahren geltenden Vorschrift die einfachgesetzliche Rechtslage einschneidender verändern würde als die Behebung einer einzelnen Verwaltungsstrafnorm (eines einzelnen Verwaltungsstraftatbestands); dies von der Überlegung ausgehend, daß die Aufhebung der bekämpften Norm auch in jene weiten Bereiche des Verwaltungsstrafrechts eingriffe, die angesichts des österreichischen Vorbehalts zur Vorschrift des Art 5 EMRK gar nicht konventionswidrig seien. Der Verfassungsgerichtshof gelangte demgemäß zum Ergebnis, daß die Beseitigung der Strafnorm selbst hinreiche, um die Rechtslage für den Anlaßfall soweit zu bereinigen, daß die geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken nicht mehr bestehen (s. insbesondere auch ua. Zlen.). Eine derartige Konstellation ist im vorliegenden Fall aber allein schon deswegen nicht gegeben, weil die vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken ausschließlich aus dem B-VG - nicht hingegen aus der EMRK - abgeleitet wurden.

2.2.1. Die vom anfechtenden Verwaltungssenat in der Sache selbst entwickelte Rechtsauffassung ist vom Ansatz her verfehlt. Die unabhängigen Verwaltungssenate (in den Ländern) sind nicht "Gerichte", sondern - bei Besorgung der ihnen verfassungsgesetzlich zukommenden Aufgaben weisungsfreie (vgl. Art 129 b Abs 2 B-VG) - "Verwaltungsbehörden" iSd B-VG. Dies ergibt sich aus den Vorschriften des Art 130 Abs 1 und des Art 144 Abs 1 B-VG, die von "Verwaltungsbehörden einschließlich der unabhängigen Verwaltungssenate" sprechen (VfSlg. 13422/1993; KI-5/94-5; s. auch Walter/Mayer, Bundesverfassungsrecht, 7. Auflage, RN 927/3). Allein schon deshalb brauchte der Verfassungsgerichtshof auf die Argumentation des sich offenbar als "(Verwaltungs-)Gericht" iSd B-VG verstehenden Verwaltungssenats, daß die bekämpfte Wortfolge des § 66 AVG dem Gewaltentrennungsprinzip widerspreche, gar nicht näher einzugehen. Gesagt sei hier nur, daß die Anführung (auch) der unabhängigen Verwaltungssenate in der nunmehr geltenden Fassung des Art 129 B-VG (vgl. ArtI Z 25 B-VG-Nov. 1988, BGBl. 685) keinesfalls den Schluß zuläßt (S 5, 6 und 7 der Anfechtungsschriften), die Bestimmungen der Art 130 bis 136 B-VG (über den Verwaltungsgerichtshof) fänden auch auf die unabhängigen Verwaltungssenate Anwendung. Vielmehr kann im Hinblick auf die dem Art 129 B-VG unmittelbar nachfolgenden Abschnitte "A. Unabhängige Verwaltungssenate in den Ländern" (Art129 a und Art 129 b B-VG) und "B. Verwaltungsgerichtshof" (Art130 bis 136 B-VG) aufgrund des unmißverständlichen Verfassungswortlauts kein Zweifel bestehen, daß sich Art 129 B-VG, soweit dort die unabhängigen Verwaltungssenate (nach Mayer, B-VG, S 299 f. angesichts der Anrufbarkeit des Verwaltungsgerichtshofs systematisch unzutreffend) genannt sind, nur auf Abschnitt A. (über eben diese Verwaltungssenate), keinesfalls aber auf die eigenständigen Vorschriften über den Verwaltungsgerichtshof (Art130 bis 136 B-VG) bezieht. Doch auch die Berufung des anfechtenden Verwaltungssenats auf das Erk. des Verfassungsgerichtshofs VfSlg. 8202/1977 verfängt hier nicht; denn es kann keine Rede davon sein, daß dieses Erkenntnis für die Auffassung des Verwaltungssenats spreche: Abgesehen davon, daß Art 129 B-VG in der damals geltenden Fassung - anders als Art 129 B-VG idF BGBl. 685/1988 - nur des Verwaltungsgerichtshofs gedachte und deswegen als Auslegungsregel für die Art 130 bis 136 B-VG (über den Verwaltungsgerichtshof) bedeutsam war, sprach der Verfassungsgerichtshof damals aus, aus Art 129 B-VG ergebe sich keine Beschränkung der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofs auf die Kassation eines als rechtswidrig erkannten Bescheids, worüber sich der Verwaltungssenat in seiner Anfechtungsschrift stillschweigend hinwegsetzt.

2.2.2. Die vom unabhängigen Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich (primär) bekämpfte Wortfolge im zweiten Satz des § 66 Abs 4 AVG war daher nicht als verfassungswidrig aufzuheben, sodaß der Verfassungsgerichtshof spruchgemäß zu entscheiden hatte und auf die (ersichtlich nur für den Fall der Unzulässigkeit der Primäranträge gestellten) Eventualanträge nicht mehr eingehen mußte.

2.3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung ergehen.