VfGH vom 19.06.2000, g16/00
Sammlungsnummer
15836
Leitsatz
Aufhebung einer Wortfolge des FremdenG 1997 betreffend die Beschränkung des Familiennachzugs Drittstaatsangehöriger auf Kinder vor Vollendung des 14. Lebensjahres wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung von Fremden untereinander im Hinblick auf die schul- und beschäftigungsrechtliche Gesetzeslage
Spruch
Die in § 21 Abs 3 Fremdengesetz 1997, BGBl. I Nr. 75, enthaltene Wortfolge "vor Vollendung des 14. Lebensjahres" wird als verfassungswidrig aufgehoben.
Die Aufhebung tritt mit Ablauf des in Kraft.
Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.
Der Bundeskanzler ist verpflichtet, diese Aussprüche unverzüglich im Bundesgesetzblatt I kundzumachen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Beim Verfassungsgerichtshof ist das Verfahren über eine zu B2269/98 protokollierte Beschwerde gemäß Art 144 B-VG gegen einen im zweiten Rechtsgang ergangenen Bescheid des Bundesministers für Inneres vom anhängig, mit dem der am 24. Feber 1995 eingebrachte und in weiterer Folge als Antrag auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung gewertete Antrag des minderjährigen Beschwerdeführers abgewiesen wurde. Die Abweisung wurde unter Bezugnahme auf § 21 Abs 3 Fremdengesetz 1997 (im folgenden kurz: FrG 1997) einerseits damit begründet, daß der Beschwerdeführer bereits über 14 Jahre alt sei, und andererseits mit einer Interessenabwägung, in welcher der Umstand als ausschlaggebend erachtet wurde, daß der Beschwerdeführer seinen Unterhalt offensichtlich nicht eigenständig sichern könne.
Der Beschwerdeführer erachtet sich durch den angefochtenen Bescheid (insbesondere) wegen Anwendung einer verfassungswidrigen generellen Norm, nämlich des § 21 Abs 3 FrG 1997, in seinen Rechten verletzt und regt die Einleitung eines Gesetzesprüfungsverfahrens an.
2. Der Verfassungsgerichtshof ging in seinem Beschluß vom , B2269/98, von der Präjudizialität der Wortfolge "vor Vollendung des 14. Lebensjahres" im § 21 Abs 3 FrG 1997 aus und beschloß, diese Wortfolge gemäß Art 140 Abs 1 B-VG von Amts wegen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen.
3. Die im vorliegenden Fall maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen des FrG 1997 (unter Hervorhebung der gemäß Art 140 Abs 1 B-VG in Prüfung gezogenen Wortfolge) lauten:
"Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung
§19. (1) Fremden, die sich auf Dauer niederlassen wollen, kann auf Antrag eine Erstniederlassungsbewilligung erteilt werden, wenn die Voraussetzungen des 2. Abschnittes über die Erteilung von Aufenthaltstiteln bis auf weiteres gesichert scheinen. Sie darf - außer in den Fällen des Abs 2 - nur im Rahmen der Niederlassungsverordnung erteilt werden (Quotenpflicht).
(2) Keiner Quotenpflicht unterliegt die Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung an Drittstaatsangehörige, die
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1. | Bedienstete ausländischer Informationsmedien sind, sofern ihr Unterhalt durch das Einkommen gedeckt wird, das sie als Bedienstete dieser Medien beziehen und sie in Österreich keine andere Erwerbstätigkeit ausüben; | |||||||||
2. | Künstler sind, deren Tätigkeit überwiegend durch Aufgaben der künstlerischen Gestaltung bestimmt ist, sofern ihr Unterhalt durch das Einkommen gedeckt wird, das sie aus ihrer künstlerischen Tätigkeit beziehen; | |||||||||
3. | zwar unselbständig erwerbstätig aber vom sachlichen Geltungsbereich des Ausländerbeschäftigungsgesetzes ausgenommen sind (§1 Abs 2 und 4 AuslBG); | |||||||||
4. | in Österreich sichtvermerkspflichtig sind aber Niederlassungsfreiheit genießen (§§46, 47 und 49); | |||||||||
5. | Ehegatten oder minderjährige unverheiratete Kinder der in Z 1 bis 4 genannten Fremden sind, sofern sie nicht erwerbstätig sein wollen. |
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(5) Niederlassungsbewilligungen gemäß Abs 2 sind an den Aufenthaltszweck zu binden. Drittstaatsangehörigen, die sich ohne Erwerbsabsicht auf Dauer in Österreich niederlassen, wird eine Niederlassungsbewilligung für Private erteilt; sie gilt für jeglichen Aufenthaltszweck außer für Erwerbstätigkeit.
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Familiennachzug für auf Dauer niedergelassene Fremde
§20. (1) Ehegatten und minderjährigen unverheirateten Kindern solcher Fremder, die rechtmäßig in Österreich auf Dauer niedergelassen sind, ist auf deren Antrag eine Erstniederlassungsbewilligung zu erteilen, sofern sie ein gültiges Reisedokument besitzen und kein Versagungsgrund wirksam wird (§§10 bis 12). Das Recht, weiterhin niedergelassen zu sein, bleibt Ehegatten erhalten, wenn die Voraussetzungen für den Familiennachzug später als vier Jahre nach der Erteilung der Erstniederlassungsbewilligung wegfallen.
(2) Für das Ende der Minderjährigkeit gemäß Abs 1 ist ungeachtet der Staatsangehörigkeit des Kindes österreichisches Recht maßgeblich (§21 ABGB).
Familiennachzug im Rahmen der Quotenpflicht
§21. (1) Bei Einbringung eines Antrages auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung haben quotenpflichtige Fremde anzugeben, ob sie Anspruch auf Familiennachzug des Ehegatten sowie der minderjährigen unverheirateten Kinder erheben. Ist dies der Fall, so sind sie aufzufordern, die Identitätsdaten dieser Angehörigen bekanntzugeben. Sie haben außerdem einen Rechtsanspruch auf eine für Inländer ortsübliche Unterkunft für sich und diese Angehörigen nachzuweisen.
(2) Sofern Fremde ihren Anspruch nach Abs 1 geltend gemacht haben und ihnen eine Erstniederlassungsbewilligung erteilt wurde, ist ihrem Ehegatten sowie den minderjährigen unverheirateten Kindern eine Erstniederlassungsbewilligung zu erteilen, sofern diese Angehörigen dies spätestens im folgenden Kalenderjahr beantragen.
(3) Der Familiennachzug Drittstaatsangehöriger, die sich vor dem auf Dauer niedergelassen haben, ist auf die Ehegatten und die Kinder vor Vollendung des 14. Lebensjahres beschränkt. Dasselbe gilt für den Familiennachzug quotenpflichtiger Drittstaatsangehöriger, der nicht gemäß Abs 2 erfolgte.
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Übergangsbestimmungen für Dokumente, Sichtvermerke und
Aufenthaltsbewilligungen
§ 113. ...
(10) Bei Erlassung der Niederlassungsverordnung für die Jahre 1998 bis 2000 kann die Bundesregierung zusätzlich eine Anzahl an Niederlassungsbewilligungen festlegen, die minderjährigen unverheirateten Kindern Drittstaatsangehöriger im Rahmen des Familiennachzuges zusätzlich erteilt werden dürfen, sofern diese Drittstaatsangehörigen sich vor dem auf Dauer in Österreich niedergelassen haben, die Kinder das 14. Lebensjahr vollendet haben und erwiesen ist, daß der Nachzug bislang bloß deshalb unterblieben ist, weil eine Bewilligung gemäß der Verordnung nach § 2 des Aufenthaltsgesetzes nicht zur Verfügung stand. Für den Familiennachzug solcher Jugendlicher gilt im übrigen § 21."
4. Der Verfassungsgerichtshof hegte gegen die in Prüfung genommene Vorschrift das Bedenken, daß sie mit dem durch das BVG BGBl. 390/1973 verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander, welches auch den Gesetzgeber bindet, nicht im Einklang stehe. Diese Bedenken ergaben sich (auch unter Bedachtnahme auf die Änderung der Gesetzeslage gegenüber jener vor dem ) daraus, daß Abs 3 des § 21 FrG 1997 den Familiennachzug Drittstaatsangehöriger, die sich vor dem auf Dauer (in Österreich) niedergelassen haben, auf unmündige Minderjährige beschränke und somit unter und über 14-jährige minderjährige Kinder in einer anscheinend sachlich nicht zu rechtfertigenden Weise ungleich behandle, sowie überdies deshalb, weil diese Bestimmung im Vergleich zu § 21 Abs 1 (iZm Abs 2) FrG 1997, wonach Fremde, die sich erst nach dem (in Österreich) auf Dauer niederlassen, einen Anspruch auf Familiennachzug in gleicher Weise für unmündige wie auch für mündige Minderjährige geltend machen können, wohl ebenfalls unsachlich differenziere.
5. Die Bundesregierung erstattete eine Äußerung, in welcher sie den Antrag stellt, die in Prüfung gezogene Vorschrift nicht als verfassungswidrig aufzuheben, für den Fall der Aufhebung jedoch für das Außerkrafttreten eine 18-monatige Frist für erforderliche legistische Vorkehrungen zu bestimmen.
Zur Frage nach der sachlichen Rechtfertigung der Altersgrenze von 14 Jahren bringt die Bundesregierung der Sache nach im wesentlichen vor, es könne aufgrund einer Durchschnittsbetrachtung davon ausgegangen werden, daß nachziehende mündige Minderjährige - im Gegensatz zu unmündigen - unmittelbar eine Erwerbstätigkeit in Österreich anstreben. Diese Erwerbstätigkeit setze Eigenständigkeit des Minderjährigen voraus, die sowohl eine geminderte Abhängigkeit von den Eltern als auch eine weniger enge Einbindung in den Familienverband als bei einem wirtschaftlich völlig unselbständigen unmündigen Minderjährigen zur Folge habe. Die von § 21 Abs 3 FrG 1997 getroffene Zäsur setze deshalb bei einer Altersgrenze an, die sowohl beschäftigungspolitisch von Bedeutung, als auch unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Familie zu rechtfertigen sei. Dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom , Zl. 99/19/0044, folgend führt die Bundesregierung aus, "dass die Bindung Minderjähriger an ihre Eltern mit dem Alter und insbesondere mit der Erreichung der Altersgrenze von 14 Jahren, also mit dem Enden der allgemeinen Schulpflicht und dem Erlangen der Möglichkeit, ein Lehr- oder Beschäftigungsverhältnis einzugehen, abnimmt". Der Annahme, daß auch mündige Minderjährige des elterlichen Beistands bedürfen und im Regelfall noch nicht selbsterhaltungsfähig sind, wird im wesentlichen entgegengehalten, daß, der allgemeinen Lebenserfahrung zufolge, ein erheblicher Anteil der nach Österreich ziehenden mündigen Minderjährigen unmittelbar eine Erwerbstätigkeit anstrebe.
Weiters sei der Gesetzgeber von der Annahme ausgegangen, daß die Eltern eines minderjährigen Fremden, denen an der Einheit in der Familie gelegen ist, ihr Kind so rasch wie möglich und nicht erst nach Erreichung der Mündigkeit nach Österreich nachholen. Werde erst nach Überschreiten der Altersgrenze von 14 Jahren dieser Versuch unternommen, so sei davon auszugehen, daß der Möglichkeit der Erwerbstätigkeit ein höherer Stellenwert eingeräumt werde als der Familieneinheit. Auch werde auf die Regelung des § 113 Abs 10 FrG 1997 verwiesen, der für jene Fälle ein Ventil schaffe, in denen bereits vor der Erreichung der Mündigkeitsgrenze Bestrebungen zu einer Familienzusammenführung unternommen worden sind. Es werde jedoch nicht verkannt, daß im gegenständlichen Fall der Behörde im zweiten Rechtsgang eine Anwendung des § 113 Abs 10 FrG 1997 verwehrt war. Das Sachgemäße dieser Entscheidung wäre jedoch im Kontext des § 113 Abs 10 FrG 1997 und nicht des § 21 zu relevieren.
Des weiteren setzt sich die Bundesregierung mit jenen verfassungsrechtlichen Bedenken auseinander, die sich für den Verfassungsgerichtshof aus einem Vergleich mit Abs 1 des § 21 FrG 1997 ergaben.
II. Das eingeleitete Gesetzesprüfungsverfahren ist, da Prozeßhindernisse weder geltend gemacht worden noch sonst hervorgekommen sind, zulässig. Auch die Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der in Prüfung gezogenen Gesetzesvorschrift erweisen sich im Ergebnis als gerechtfertigt.
1. Zunächst hält der Verfassungsgerichtshof - um einem allfälligen Mißverständnis vorzubeugen - fest, daß weder im Prüfungsbeschluß noch im Rahmen der hier zu treffenden Entscheidung Zweifel an der Befugnis des einfachen Gesetzgebers geäußert wurden bzw. bestehen, bei der Regelung des Familiennachzugs Drittstaatsangehöriger im Sinne des § 21 Abs 3 FrG 1997 in bezug auf deren Kinder eine Altersgrenze festzulegen, die unter dem Volljährigkeitsalter liegt. Als sachfremd und daher gegen den verfassungsrechtlich festgelegten Grundsatz der Gleichbehandlung von Fremden untereinander verstoßend erscheint - und hierin hält der Gerichtshof an seinem Einleitungsbeschluß fest - die Festlegung einer Altersgrenze mit dem vollendeten 14. Lebensjahr. Der Verfassungsgerichtshof bleibt bei seiner - auf der allgemeinen Lebenserfahrung und bei gebotener Durchschnittsbetrachtung gewiß auch für Kinder Fremder zutreffenden - Auffassung, daß zwischen Kindern und Eltern auch nach Vollendung des 14. Lebensjahres durchaus ein Abhängigkeitsverhältnis bestehen kann; sie bedürfen - wie im Prüfungsbeschluß dargelegt wurde - vielfach - vor allem wenn sie nicht wesentlich älter als 14 Jahre sind - des elterlichen Beistandes und sind im Regelfall nicht selbsterhaltungsfähig. Wenn die Bundesregierung diesen Erwägungen im wesentlichen entgegenhält, daß nachziehende Minderjährige über der erwähnten Altersgrenze als Hauptziel unmittelbar eine Erwerbstätigkeit in Österreich anstreben (die eine Eigenständigkeit des Minderjährigen voraussetze und eine geminderte Abhängigkeit von den Eltern zur Folge habe), so ist dieser Einwand in Ansehung jener Minderjährigen (und damit aber im Ergebnis insgesamt) verfehlt, die sich im 15. Lebensjahr befinden; er trägt nämlich weder der schulrechtlichen noch der beschäftigungsrechtlichen Lage in Ansehung dieser Altersstufe entsprechend Rechnung.
Daß die allgemeine Schulpflicht nicht an die Staatsangehörigkeit der Kinder, sondern ausschließlich an deren dauernden Aufenthalt in Österreich anknüpft, bedarf im Hinblick auf § 1 Abs 1 des Bundesgesetzes über die Schulpflicht (Schulpflichtgesetz 1985) idgF (s. dazu und im folgenden: Jisa ua. (Hrsg.), Die österreichischen Schulgesetze, Loseblattausgabe, IV. Teil:
Schulpflichtrecht (22. Lieferung)) keiner besonderen Hervorhebung; sie beginnt mit dem auf die Vollendung des 6. Lebensjahres folgenden 1. September (§2 Schulpflichtgesetz 1985) und dauert neun Schuljahre (§3 leg.cit.). Beschäftigungsrechtlich dürfen Kinder (abgesehen von hier nicht in Betracht zu ziehenden Sonderfällen) gemäß § 5 des Bundesgesetzes über die Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen 1987 (KJBG) idgF zu Arbeiten irgendwelcher Art nicht herangezogen werden, wobei unter Kindern im Sinne des bezogenen Gesetzes (§2 Abs 1) Minderjährige bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres oder bis zur späteren Beendigung der Schulpflicht zu verstehen sind (s. dazu Floretta-Spielbüchler-Strasser, Arbeitsrecht, Bd. I4, 473f). Mit diesen Hinweisen auf die schulrechtliche und beschäftigungsrechtliche Gesetzeslage ist nach Auffassung des Gerichtshofs bereits dargetan, daß die Festlegung einer Altersgrenze von 14 Jahren dem erwähnten Verfassungsgebot widerspricht. Hiezu ist bloß noch anzumerken, daß die in der geprüften Regelung enthaltene Einschränkung weder durch § 113 Abs 10 FrG 1997 (der - wie die Bundesregierung für den Anlaßbeschwerdefall selbst ausdrücklich einräumt - in gewissen Fallgruppen überhaupt nicht anwendbar ist) noch durch § 19 Abs 5 leg.cit. ausgeglichen wird, der eine sehr beschränkt handhabbare Ermessensbestimmung enthält.
Die in Prüfung gezogene Wortfolge ist sohin als verfassungswidrig aufzuheben, weshalb es sich erübrigt, auf die im Einleitungsbeschluß dargelegten weiteren Bedenken einzugehen.
III. Die übrigen Entscheidungen stützen sich auf Art 140 Abs 5 und Abs 6 B-VG. Die Setzung einer Frist für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Vorschrift soll legistische Vorkehrungen ermöglichen.
IV. Diese Entscheidung wurde gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG ohne vorangegangene mündliche Verhandlung getroffen.