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VfGH vom 30.06.2012, G155/10

VfGH vom 30.06.2012, G155/10

19662

Leitsatz

Aufhebung des im Sbg Landessicherheitsgesetz normierten absoluten Bettelverbotes in Salzburg als sachlich nicht gerechtfertigt und wegen Verstoßes gegen die Meinungsäußerungsfreiheit; Zulässigkeit des Individualantrags

Spruch

I. 1. § 29 des Salzburger Landessicherheitsgesetzes, LGBl. Nr. 57/2009, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

2. Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht

wieder in Kraft.

3. Die Landeshauptfrau von Salzburg ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Landesgesetzblatt verpflichtet.

II. Das Land Salzburg ist schuldig, dem Antragsteller zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.620,- bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Antragsvorbringen

1. Der Antragsteller begehrt mit dem auf Art 140 Abs 1 B-VG gestützten Individualantrag, der Verfassungsgerichtshof möge "§29 des Salzburger Landessicherheitsgesetzes, LGBl 57/2009, mit dem ein absolutes Bettelverbot erlassen wird, als verfassungswidrig" aufheben.

2. Der Antragsteller wohnt - seinem Vorbringen

zufolge - mit seiner Ehegattin und seinen minderjährigen Kindern in einer kleinen Zweizimmerwohnung mit Küche eines baufälligen und feuchten Hauses in der Slowakei. Bis 1997 habe er bei einem Bauunternehmen gearbeitet, seine seitherigen Bemühungen Arbeit zu finden, seien ergebnislos geblieben. Als Rom habe er keine Chance. Mit dem erbettelten Geld versorge er sich und seine Familie. Bislang sei der Antragsteller ungehindert der Betteltätigkeit nachgegangen und habe allein aus Angst vor Bestrafung auf Grund des Bettelverbotes in Salzburg nicht mehr gebettelt. Dieses - bislang nicht verbotene - Verhalten möchte der Antragsteller den Umständen des Falles und dem Vorbringen nach fortsetzen.

2.1. Zur Zulässigkeit des Antrages führt der Antragsteller aus, dass die angefochtene Gesetzesbestimmung in rechtswidriger Weise in seine Rechtssphäre eingreife. Die unmittelbare und aktuelle Betroffenheit beruhe darauf, dass das Verbot jeglichen Bettelns, auch das Betteln in nicht aufdringlicher Weise, durch das Gesetz selbst bestimmt sei. Würde der Antragsteller das Verbot missachten und im Land Salzburg in nicht aufdringlicher Weise betteln, würde er eine Verwaltungsübertretung begehen und gemäß § 29 des Salzburger Landessicherheitsgesetzes bestraft werden. Es bestehe auch kein anderer Weg, die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der angefochtenen Regelung an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen. Der - an sich gegebene - Weg, ein Straferkenntnis zu erwirken, um dann im Wege einer auf Art 144 B-VG gestützten Beschwerde ein Gesetzesprüfungsverfahren anzuregen, wäre nicht zumutbar.

2.2. Inhaltlich bringt der Antragsteller vor, der rechtswidrige Eingriff sei zum einen in der Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens gemäß Art 8 EMRK, zum anderen in einer Verletzung des Rechts auf Freiheit der Meinungsäußerung gemäß Art 13 Abs 1 StGG und Art 10 EMRK zu sehen. Zudem seien die Bestimmungen unsachlich. Wörtlich heißt es dazu im Antrag auszugsweise:

"Im gegebenen Zusammenhang geht es um die Frage, ob Betteln vom Schutzbereich des Art 8 EMRK umfasst ist. Die Frage ist zu bejahen, insbesondere das stille Betteln betreffend.

BettlerInnen treten aus dem Kreis ihrer jeweiligen Privatsphäre hinaus in die Öffentlichkeit, wenn sie auf öffentlichen Strassen und Plätzen um Almosen bitten, dies in einer beim stillen Betteln üblichen Art und Weise, nämlich in einer spezifischen Haltung (durch Stehen, Sitzen, Knien), mit Behältnissen (dazu zählt auch die aufgehaltene Hand), mit einem Bild der Kinder bzw der Familie oder einem Text, der auf ihre persönliche Situation hinweist, und mit bittenden Augen oder einem still gesprochenen 'Bitte'. Sie zeigen (in passiver Weise) vorbeigehenden Passant[...]lnnen, dass sie ein Bettler/eine Bettlerin sind und um [...] Almosen bitten. Es ist - wie oben beschrieben - ihre Art und Weise, wie sie sich der Öffentlichkeit darstellen und wie sie wahrgenommen werden wollen. Betteln ist in vielen Fällen, jedenfalls im Fall des Antragstellers der einzige Weg, in dem man für sich und seine Familie das für die Bestreitung des Lebensunterhaltes Notwendige bekommt, was eine unabdingbare materielle Voraussetzung dafür ist, das eigene und das Familienleben frei zu gestalten.

[...]

Die Lebenssituation des Antragstellers sich vor Augen haltend muss davon ausgegangen werden, dass dieser das im Recht der freien Gestaltung der persönlichen Lebensführung inkludierte Recht darauf, sich den für sich und seine Familie notwendigen Lebensunterhalt und zwar durch Betteln zu beschaffen in Anspruch nimmt, dies deshalb, weil es ihm nicht möglich ist, den notwendigen Lebensunterhalt auf andere Weise zu erwerben.

Das in der angefochtenen Gesetzesbestimmung

enthaltene absolute Verbot des Bettelns, das einen sanktionierten Straftatbestand darstellt - da das Verbot keine Ausnahmen vorsieht, muss es als absolutes Bettelverbot angesehen werden - , greift in die gemäß Art 8 EMRK dem Antragsteller gewährten Rechte ein und verhindert insbesondere, dass der Antragsteller für sich und seine Familie den Lebensunterhalt bzw jedenfalls einen Teil seines Lebensunterhaltes erwirbt, einen Lebensunterhalt, ohne den die Lebensführung nicht frei gestaltet werden kann.

Der EGMR hat judiziert, dass ein Eingriff in das Privatleben dann vorliegt, wenn der Staat die Möglichkeit, im privaten Sektor eine Beschäftigung aufzunehmen, weitreichenden Beschränkungen unterwirft (Urteil vom Sidrabas und Dziautas Nr. 55.480/00, Z 47f). Im gegebenen Zusammenhang geht es zwar nicht um die Aufnahme einer Beschäftigung, aber jedenfalls um den Zweck, um dessen willen die Aufnahme einer Beschäftigung erfolgt, nämlich durch Betteln für seinen Unterhalt zu sorgen. Ein absolutes Bettelverbot beschränkt diese Möglichkeit absolut.

[...]

Festzuhalten ist, dass das gegenständliche Grundrecht ein Jedermannsrecht und kein Staatsbürgerrecht ist. Träger des Rechtes ist daher auch der Antragsteller.

[...]

Bei der Frage, ob der Eingriff einem zwingenden

sozialen Bedürfnis entspricht, muss hinsichtlich der Art des Bettelns differenziert werden. Die Frage muss für das stille (passive) Betteln verneint werden; für das 'aggressive' Betteln (z. B. Betteln durch Begrapschen, Berühren, Verfolgen von Passanten) und für das Betteln mit Kindern, kann die Frage bejaht werden.

Ad stilles Betteln

Stilles Betteln ist ein Zeichen persönlicher Armut. Es ist eine unaufdringliche Bitte, durch eine Spende diese persönliche Armut zu lindern. Stilles Betteln ist ein Zeichen, dass der Bettler/die Bettlerin seinen/ihren Unterhalt und den Unterhalt der jeweiligen Familie nicht anders sichern kann. Stilles Betteln ist ein (stiller) Appell an die Hilfsbereitschaft und die Solidarität von Menschen, deren Freiheit, sich hilfsbereit und solidarisch zu verhalten oder nicht zu verhalten, in keinerlei Weise beeinträchtigt wird. Stilles Betteln zeigt, dass so und nicht anders die Notlage gelindert werden kann. Stilles Betteln entbehrt somit jeglicher Sozialschädlichkeit.

Indem stilles Betteln eine individuelle Notlage

aufzeigt, ist [es] auch ein Zeichen dafür, dass sozialstaatliche Maßnahmen nicht in jedem Fall vor Notlage und Armut schützen (können). Wie eine jüngste Analyse der Statistik Austria zeigt, leben rund 420.000 Österreicher/Innen in 'verfestigter' Armut, in der sie erhebliche Einschränkungen ihres Alltagslebens hinnehmen müssen (vgl. zu dieser Analyse z. B. den Bericht im Standard vom , Seite 6). Daher ist auch die Aussage verfehlt, dass, anstatt das stille Betteln zu erlauben, Armut durch sozialstaatliche Maßnahmen an der 'Wurzel' bekämpft werden sollte. Sozialstaatliche Maßnahmen greifen offensichtlich nicht immer bzw. zu kurz.

Daher ist beides erforderlich: Stilles Betteln zu erlauben und gleichzeitig sozialstaatliche und zivilgesellschaftlich-solidarische Maßnahmen zu setzen bzw. auszuweiten.

Staat und Gesellschaft entfalten zahlreiche

Aktivitäten, damit durch sozialstaatliche Maßnahmen, durch zivilgesellschaftliche Aktivitäten, durch Spendenaufrufe und Sammlungen, durch Appelle zur Mitmenschlichkeit und solidarischem Verhalten, die Armut gelindert wird, wenn sie schon nicht verhindert werden kann. An 'helfende Hände', Armut linderndes Aktivsein und solidarisches Verhalten wird auch rechtlich (z. B. durch Rechtsvorschriften, deren Gegenstand das Sammeln von Geld- und Sachspenden ist) und politisch appelliert. Solidarität wird immer auch als ein (gefährdeter) Grundwert unserer Gesellschaft angesprochen.

Betrachtet man die kurz skizzierten Aspekte des Sachverhaltes stillen Bettelns und den staatlich-gesellschaftlichen, auch rechtlich fundierten Wertungskontext, so muss die Bewertung des stillen Bettelns als sozial schädliches Verhalten verneint werden.

Stilles Betteln stört auch nicht das Zusammenleben. Es mag sich zwar jemand, der an einem/einer unaufdringlich bittenden Bettler/in vorbeigeht, also durch die bloße Anwesenheit eines Bettlers/einer Bettlerin 'gestört' fühlen, weil er mit Armut und mit einer Bitte um ein Almosen konfrontiert wird. Auch kann es sein, dass das schlechte Gewissen, nichts zu geben bzw. das schlechte Gewissen vielleicht auch deshalb, weil es einem selbst besser geht, ein 'seelisches' Unbehagen verursacht. Wegen dieses Gefühls bzw. dieses Unbehagens heraus kann jedoch stilles Betteln nicht als das Zusammenleben störend dargestellt werden.

Schließlich können noch folgende Erwägungen im Zusammenhang mit der Frage gestellt werden, ob stilles Betteln [als] ein das Zusammenleben störender Missstand gilt.

Das Sammeln von Spenden durch zivilgesellschaftliche Organisationen zwecks Verteilung der Spenden an Bedürftige im In- und im Ausland ist ein mitunter zwar regulierter, aber kein absolut verbotener Sachverhalt, weil er offenbar nicht als störend für das Zusammenleben empfunden wird. Dabei kann manchmal beobachtet werden, dass solche Sammeltätigkeit sehr wohl 'aktiv', mitunter auch in aufdringlicher Weise durchgeführt wird. Ein sachlicher Grund, warum demgegenüber die stille Bitte eines Bettlers/einer Bettlerin um ein Almosen ein das Zusammenleben störender Missstand sein soll, kann nicht gefunden werden. Insoweit ist die Bestimmung auch dem Sachlichkeitsgebot widersprechend.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass ein Verbot

stillen Bettelns keinem zwingenden sozialen Bedürfnis entspricht.

[...]

Nimmt man eine Abwägung zwischen dem Verbot stillen Bettelns, also zwischen einem massiven Grundrechtseingriff einerseits, und den im öffentlichen Interesse liegenden Zielen des Art 8 Abs 2 EMRK bzw. deren etwaiger Beeinträchtigung durch stilles Betteln andererseits vor (einmal ganz abgesehen davon, dass diese Ziele - wie oben ausgeführt - zum Eingriff nicht legitimieren), zeigt sich, dass der Eingriff in die Grundrechtsposition unverhältnismäßig ist und daher das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Antragstellers verletzt. Festzuhalten ist, dass ein gelinderes Mittel, nämlich das Verbot aggressiven Bettelns zur Verfügung steht, um einem etwaigen sozialen Bedürfnis zu dienen.

Merkmale einer demokratischen Gesellschaft sind insbesondere Pluralismus und Toleranz (vgl. z. B. EGMR Urteil vom , Handyside, Serie A 24, Z 49). Pluralismus und Toleranz gebieten es, stilles Betteln als Zeichen individueller Armut, als stille Bitte um ein Almosen, als eine bestimmte Form der Lebensführung hinzunehmen. Es ist - wie oben ausgeführt - kein sozial schädliches Verhalten.

3.2.4. Zusammenfassung der rechtlichen Erwägungen zu Art 8 EMRK

§29 des Salzburger Landessicherheitsgesetzes stellt Betteln unter Strafe. Die Bestimmung normiert ein absolutes Bettelverbot und differenziert nicht zwischen sozial unschädlichem und etwaigem sozial schädlichem Betteln. Die Bestimmung greift in die Rechtssphäre des Antragstellers, nämlich in sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 Abs 1 EMRK) ein. Da jedenfalls für stilles Betteln die Voraussetzungen für einen gerechtfertigten Eingriff im Sinne des Art 8 Abs 2 EMRK nicht gegeben sind, ist das absolute Bettelverbot in § 29 des Salzburger Landessicherheitsgesetzes verfassungswidrig. Mangels Differenzierung zwischen sozial unschädlichem und sozial schädlichem Betteln widerspricht es auch dem Sachlichkeitsgebot." (Zitat ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen)

In Bezug auf eine Verletzung des Rechts der Freiheit der Meinungsäußerung nach Art 13 Abs 1 StGG und Art 10 EMRK wird im Antrag ua. Folgendes vorgebracht:

"(Stilles) passives Betteln [...] kann jedenfalls als Äußerung einer Tatsache, nämlich bedürftig und damit auf ein Almosen angewiesen zu sein, gewertet werden. Da die Meinungsfreiheit für alle Ausdrucksmittel gilt, unterliegt ihr auch die meist körpersprachlich artikulierte Äußerung eines Bettlers/einer Bettlerin. Meinungsfreiheit schützt [...] auch die Kommunikation mit anderen. Daraus folgt, dass dem/der die Meinung Äußernden Rezipient[...]lnnen gegenüber stehen, wie das auch im Falle des passiven Bettelns gegeben ist.

Auch kommerzielle Werbung fällt gemäß der Rechtsprechung des VfGH (vgl zB VfSlg 10.948/1986 etc) unter den Begriff der Meinungsfreiheit. Kommerzieller Werbung stehen ebenfalls Rezipient[...]lnnen gegenüber. Wie gerade der Fall kommerzieller Werbung zeigt, ist dieses einander Gegenüberstehen kein absichtsloses. Kommerzielle Werbung (wie auch andere Fälle von Werbung, zB politische Werbung) ist darauf gerichtet, die Rezipient[...]lnnen nicht nur über das Beworbene zu informieren, sondern sie auch zu animieren, das Beworbene durch Kauf- oder anderes Verhalten zu unterstützen.

Auch dem stillen (passiven) Betteln liegt die Intention zugrunde, die Passant[...]lnnen dazu zu bewegen, ein Almosen zu geben. Wenn schon Werbemaßnahmen, die auf die Anbahnung einer Angebots- und Nachfragebeziehung gerichtet sind, vom Recht der Meinungsfreiheit umfasst sind, dann auch - wenn nicht umso mehr - ein Verhalten, das nicht auf die Herstellung einer Marktbeziehung gerichtet ist, sondern auf ein helfendes, Solidarität zum Ausdruck bringendes Verhalten, dem von Seiten des 'Werbenden' keine materielle Leistung, sondern - wie im Falle des passiven Bettelns - eine immaterielle Leistung, nämlich Dankbarkeit für dieses Verhalten gegenüber steht.

[...]

Als Ergebnis der Prüfung anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bzw im Zusammenhang mit den Rechtfertigkeitsbedingungen des Art 10 Abs 2 EMRK (gesetzliche Fundierung des Eingriffs, legitime Ziele, Unentbehrlichkeit in einer demokratischen Gesellschaft) ist Folgendes festzuhalten:

Das Verbot stillen (passiven) Bettelns in der angefochtenen Gesetzesbestimmung ist mangels Rechtfertigbarkeit im Sinne der Grundrechtsbestimmungen des Art 13 Abs 1 StGG und des Art 10 EMRK ein verfassungswidriger Eingriff in das Grundrecht der Freiheit der Meinungsäußerung."

3. Die Salzburger Landesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der sie zunächst den Ausführungen des Antragstellers hinsichtlich seiner Antragslegitimation entgegentritt, für den Fall, dass der Verfassungsgerichtshof die Zulässigkeit des Antrages jedoch bejahen sollte, den dargelegten Bedenken entgegentritt und die Abweisung des Individualantrages begehrt.

Hiezu wird wörtlich - auszugsweise - wie folgt

begründet:

"1.2. Den Ausführungen im Antrag zufolge ist der Antragsteller in einem in der Südostslowakei gelegenen Ort wohnhaft. Zwar weist der Antragsteller darauf hin, dass er früher einmal in Salzburg gebettelt habe, dies dann aber aus Angst vor Bestrafung wegen Übertretung des Bettelverbots, gegen das er sich nunmehr wendet, aufgegeben habe. Er verabsäumt es aber darzutun, dass er gegenwärtig - für den Fall der Aufhebung des § 29 S.LSG - in Salzburg betteln wolle. Ebenso wenig wird im Antrag behauptet, geschweige denn bescheinigt oder gar nachgewiesen, dass es für ihn gerade auf die Bettelmöglichkeit in Salzburg (und nicht anderswo) ankomme, um seinen Lebensunterhalt und die damit seinen Behauptungen zufolge einhergehenden sozialen Kontakte und privaten Beziehungen, die vom Schutzbereich des Grundrechts gemäß Art 8 EMRK erfasst seien, zu sichern. Die Aktualität der Betroffenheit in der Rechtssphäre durch die inkriminierte Norm wird daher nicht einmal behauptet, wobei für die Zulässigkeit des Antrags darüber hinaus sogar ein entsprechender Nachweis erforderlich wäre (vgl VfSlg 8448/1978, 13.631/1993, 15.419/1999). Dies entspricht dem bewusst nicht als Popularklage, sondern als streng subsidiär bzw ausnahmehaft konzipierten Instrument des Individualantrags (vgl dazu Rohregger in Korinek/Holoubek [Hrsg], Österreichisches Bundesverfassungsrecht [2003] Art 140 B-VG Rz 162 ff), hätte es doch sonst jeder am anderen Ende der Welt Ansässige ohne konkrete Bindungen bzw Interessen in Österreich in der Hand, hierzulande gegen eine strafbew[e]hrte Verbotsvorschrift bei Fehlen einer Umwegmöglichkeit über eine Bescheiderlassung eine Normenkontrolle beim VfGH zu initiieren.

[...]

2.1. Die Möglichkeit zum rein passiven Betteln im öffentlichen Raum ist nicht vom Schutzbereich des Grundrechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art 8 EMRK umfasst. Zwar trifft es zu, dass dieses Grundrecht neben dem Schutz der Privatsphäre im engeren Sinn und dem Selbstbestimmungsrecht über den Körper die freie Gestaltung der persönlichen Lebensführung gewährleistet (vgl Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention4 [2009] 202 ff), wozu nach der jüngeren Judikatur des EGMR auch die Möglichkeit zählt, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Dies deshalb, weil damit eine Chance verbunden sei, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen und den Lebensunterhalt zu verdienen, um das Privatleben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten (vgl zuletzt EGMR , Özpinar, 20999/04, 45 f; EGMR , Bigaeva, 26713/05, 22). Ausschlaggebend für die Subsumtion unter den Schutzbereich des Art 8 EMRK erscheint dabei immer die mit dem Berufsleben verbundene Möglichkeit des Zugehens auf andere und des Knüpfens privater Kontakte [...].

Nun ist zum einen fraglich, ob Betteln grundsätzlich als Erwerbstätigkeit oder Beruf angesehen werden kann, wie es der EGMR bei seiner einschlägigen Judikatur vor Augen hat. Zum anderen ist aber klar, dass es insbesondere beim rein passiven Betteln im Sinn des Antragstellers gerade nicht um das Knüpfen von sozialen Kontakten geht und schon gar nicht um das Zugehen auf andere gehen kann, denn genau dies würde der vom Antragsteller umschriebenen und von ihm ausschließlich beabsichtigten Passivität seiner Betteltätigkeit widersprechen. Private Beziehungen werden jedoch auch losgelöst von der Art der vom Antragsteller geübten Betteltätigkeit aus dieser kaum entstehen, sodass die wesentliche Voraussetzung für eine Erfassung durch den Schutzbereich des Art 8 EMRK nicht gegeben ist.

Greift aber das Bettelverbot nicht einmal in den Schutzbereich des Art 8 EMRK ein, kann dieses Grundrecht nicht verletzt sein.

2.2. Auch die vom Antragsteller behauptete Verletzung des Grundrechts auf Kommunikationsfreiheit gemäß Art 10 EMRK liegt nicht vor. Wiewohl Äußerungen durch rein faktisches Handeln vom Schutzbereich des Art 10 EMRK erfasst sein können, endet dieser aber dort, wo es nicht mehr primär um Kommunikation, sondern bloß um soziale Interaktion geht. Für die Abgrenzung kommt es auf den symbolischen Bedeutungsgehalt der Handlung an (so Grabenwarter, aa0 268 f). Verneint wurde der Grundrechtsschutz etwa bei Sexualkontakten

(EKMR , 7215/75), bejaht dagegen bei physischen Behinderungen einer Gänsejagd durch langsames Gehen (EGMR , Steel ua, 24838/94) oder beim Blasen eines Jagdhorns mit dem Ziel der Störung einer Jagd

(EGMR , Hashman und Harrup, 25594/94) oder in Bezug auf das Tragen eines fünfzackigen roten Sterns (EGMR , Vajnai, 33629/06).

Nach Auffassung der Salzburger Landesregierung steht beim Betteln, obwohl damit auch die Armut und Bedürftigkeit des Bettlers zum Ausdruck gebracht werden soll, die Interaktion der Geldübergabe an den Bettler im Vordergrund bzw ist dessen faktisches Handeln darauf gerichtet, sodass es nicht in den Schutzbereich des Art 10 EMRK fällt."

II. Rechtslage

Die angefochtene Bestimmung des § 29 des Salzburger Landessicherheitsgesetzes, LGBl. 57/2009, (im Folgenden: S-LSG) lautet:

"Bettel

§29

(1) Wer an einem öffentlichen Ort oder von Haus zu Haus von fremden Personen unter Berufung auf wirkliche oder angebliche Bedürftigkeit zu eigennützigen Zwecken Geld oder geldwerte Sachen für sich oder andere erbittet, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe bis zu 500 €

und für den Fall der Uneinbringlichkeit mit Ersatzfreiheitsstrafe bis zu einer Woche zu bestrafen.

(2) Bei Vorliegen von Erschwerungsgründen kann auch der Verfall des Erbettelten oder daraus Erlösten ausgesprochen werden."

III. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit:

1.1. Gemäß Art 140 B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auch auf Antrag einer Person, die unmittelbar durch diese Verfassungswidrigkeit in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, sofern das Gesetz ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides für diese Person wirksam geworden ist. Wie der Verfassungsgerichtshof in seiner mit VfSlg. 8009/1977 beginnenden ständigen Rechtsprechung ausgeführt hat, ist daher grundlegende Voraussetzung für die Antragslegitimation, dass das Gesetz in die Rechtssphäre der betroffenen Person unmittelbar eingreift und sie - im Falle seiner Verfassungswidrigkeit - verletzt. Hiebei hat der Verfassungsgerichtshof vom Antragsvorbringen auszugehen und lediglich zu prüfen, ob die vom Antragsteller ins Treffen geführten Wirkungen solche sind, wie sie Art 140 Abs 1 letzter Satz B-VG als Voraussetzung für die Antragslegitimation fordern (vgl. zB VfSlg. 11.730/1988, 15.863/2000, 16.088/2001, 16.120/2001).

Voraussetzung der Antragslegitimation ist einerseits, dass der Antragsteller behauptet, unmittelbar durch das angefochtene Gesetz - im Hinblick auf dessen Verfassungswidrigkeit - in seinen Rechten verletzt worden zu sein, dann aber auch, dass das Gesetz für den Antragsteller tatsächlich, und zwar ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides wirksam geworden ist. Grundlegende Voraussetzung der Antragslegitimation ist, dass das Gesetz in die Rechtssphäre des Antragstellers nachteilig eingreift und diese - im Falle seiner Verfassungswidrigkeit - verletzt.

Nicht jedem Normadressaten aber kommt die Anfechtungsbefugnis zu. Es ist darüber hinaus erforderlich, dass das Gesetz selbst tatsächlich in die Rechtssphäre des Antragstellers unmittelbar eingreift. Ein derartiger Eingriff ist jedenfalls nur dann anzunehmen, wenn dieser nach Art und Ausmaß durch das Gesetz selbst eindeutig bestimmt ist, wenn er die (rechtlich geschützten) Interessen des Antragstellers nicht bloß potenziell, sondern aktuell beeinträchtigt und wenn dem Antragsteller kein anderer zumutbarer Weg zur Abwehr des - behaupteterweise - rechtswidrigen Eingriffes zur Verfügung steht (VfSlg. 11.868/1988, 15.632/1999, 16.616/2002, 16.891/2003).

1.2. Die bekämpfte Bestimmung normiert ein Verbot in Salzburg, an einem öffentlichen Ort oder von Haus zu Haus unter Berufung auf wirkliche oder angebliche Bedürftigkeit zu eigennützigen Zwecken Geld oder geldwerte Sachen für sich oder andere zu erbitten. Dieses allgemeine Verbot trifft den Antragsteller, der bisher ungehindert der Betteltätigkeit zunächst in Graz, später in Salzburg nachgegangen ist und dieses bislang nicht verbotene Verhalten seinem - vom Verfassungsgerichtshof als plausibel erachteten - Vorbringen nach fortsetzen möchte, unmittelbar und aktuell in seiner Rechtssphäre (vgl. VfSlg. 18.305/2007 mwN). § 29 S-LSG normiert ein nicht auf bestimmte Erscheinungsformen der Bettelei beschränktes, also ein ausnahmsloses, Verbot der Bettelei, und sieht für diese Verwaltungsübertretung eine Geldstrafe und für den Fall der Uneinbringlichkeit eine Freiheitsstrafe bis zu einer Woche vor.

Dem Antragsteller steht und stand daher kein anderer zumutbarer Weg zur Verfügung, um die Frage der Verfassungsmäßigkeit der angefochtenen Gesetzesbestimmung an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen, zumal es einem Normunterworfenen nicht zumutbar ist, ein verwaltungsbehördliches Strafverfahren zu provozieren und in diesem die Rechtswidrigkeit der Verbotsnorm einzuwenden (vgl. etwa VfSlg. 14.260/1995).

1.3. Auch die übrigen Prozessvoraussetzungen liegen vor, weshalb sich der Antrag als zulässig erweist.

2. In der Sache:

Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf

Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art 140 B-VG auf die Erörterung der aufgeworfenen Fragen zu beschränken (vgl. VfSlg. 12.691/1991, 13.471/1993, 14.895/1997, 16.824/2003). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen verfassungswidrig ist (VfSlg. 15.193/1998, 16.374/2001, 16.538/2002, 16.929/2003).

Der Verfassungsgerichtshof sieht sich im Hinblick auf das (generelle) Bettelverbot zu der Klarstellung veranlasst, dass er sich aus vorliegendem Anlass nur mit der Frage zu beschäftigen hat, ob die angefochtenen Bestimmungen gegen die im Antrag genannten verfassungsgesetzlich gewährleisten Rechte verstoßen, ohne auf die Frage der Kompetenzmäßigkeit von das Bettelwesen regelnden Bestimmungen einzugehen. In diesem Zusammenhang kann auf das Erkenntnis , verwiesen werden.

2.1. Der Antragsteller bringt zunächst vor, § 29 S-LSG normiere ein absolutes Bettelverbot und greife in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ein. Da jedenfalls für Betteln in stiller Form die Voraussetzungen für einen gerechtfertigten Eingriff iSd Art 8 Abs 2 EMRK nicht vorlägen, sei § 29 S-LSG verfassungswidrig und widerspreche auch - mangels Differenzierung zwischen sozial unschädlichem und etwaigem sozial schädlichen Betteln - dem Sachlichkeitsgebot. Außerdem stelle diese Bettelmodalität mangels Rechtfertigbarkeit iSd Art 10 Abs 2 EMRK einen verfassungswidrigen Eingriff in das Grundrecht der Freiheit der Meinungsäußerung dar.

2.2. Die Landesregierung vertritt in ihrer

Stellungnahme im Wesentlichen die Auffassung, dass die Möglichkeit zum rein stillen Betteln im öffentlichen Raum nicht vom Schutzbereich des Grundrechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art 8 EMRK umfasst sei, da ausschlaggebend für die Subsumtion unter den Schutzbereich des Art 8 EMRK immer die mit dem Berufsleben verbundene Möglichkeit des "Zugehens auf andere und des Knüpfens privater Kontakte" sei und diese Voraussetzung - ungeachtet der Frage, ob Betteln grundsätzlich als Erwerbstätigkeit oder Beruf angesehen werden kann - nicht gegeben sei. Somit greife das Bettelverbot nicht in den Schutzbereich des Art 8 EMRK ein und dieses Grundrecht sei nicht verletzt. Auch eine Subsumtion unter den Schutzbereich des Art 10 EMRK scheide aus, da beim Betteln, obwohl damit auch die Armut und Bedürftigkeit des Bettlers zum Ausdruck gebracht werden soll, die Interaktion der Geldübergabe an Bettler im Vordergrund stehe bzw. dessen faktisches Handeln darauf gerichtet sei. In eventu wird vorgebracht, dass § 29 S-LSG einer verfassungskonformen Interpretation zugänglich sei: Nach dieser Bestimmung sei das "Erbitten" von Geld oder geldwerten Sachen tatbestandsmäßig, womit ein aktives Tun gefordert sei. Das bloße Hinsetzen an einem öffentlichen Ort mit einem Korb oä. reiche nicht aus.

2.3. Zum Bedenken des Widerspruchs zu Art 8 EMRK:

Nach Auffassung des Verfassungsgerichthofes lässt

sich nach der Rechtsprechung des EGMR aus Art 8 EMRK kein Recht darauf ableiten, die Bettelei als Beruf oder Erwerbszweig zu wählen. Bei der vom EGMR entwickelten Judikatur zu beruflichen Beziehungen und dem Recht auf Privatleben nach Art 8 EMRK (EGMR , Fall Sidabras und Dziautas, Appl. 55.480/00 und 59.330/00, Z 47, und EGMR , Fall Niemietz, Appl. 13.710/88) handelt es sich nämlich keineswegs um ein (mit Art 18 StGG vergleichbares) Grundrecht auf Berufsfreiheit. Selbst wenn in bestimmten Konstellationen das Ergreifen eines Berufes als Bestandteil des durch Art 8 EMRK geschützten Rechtes auf Privatleben angesehen wird (EGMR , Fall Sidabras und Dziautas, Appl. 55.480/00 und 59.330/00, Z 47f.), stellt die Bettelei keine Form der Teilhabe am Wirtschaftsleben dar, wie sie den bisherigen Entscheidungen des EGMR im Zusammenhang mit der Aufnahme beruflicher Tätigkeiten vor dem Hintergrund des Art 8 EMRK zugrunde lag.

Der Schutzbereich des Art 8 EMRK beinhaltet zwar nach ständiger Rechtsprechung des EGMR auch das Recht auf freie Gestaltung der Lebensführung (EGMR , Fall Bigaeva, Appl. 26.713/05, Z 22). Geschützt ist demnach das Recht, das Leben nach eigenen Vorstellungen ohne staatliche Einwirkung auf den individuellen Entscheidungsprozess einzurichten und zu führen (vgl. auch Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention5, 2012, § 22 Rz 12).

In seiner Entscheidung "Chapman" setzte sich der EGMR mit der Reichweite des Art 8 EMRK auseinander und erkannte, dass in diesem Fall zwar eine Berücksichtigungspflicht des besonderen Lebensstils einer Minderheit bestünde, eine positive Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu treffen, um einem Angehörigen einer Minderheit seinen Lebensstil zu ermöglichen, sei aber aus Art 8 EMRK nicht abzuleiten (sog. "Gypsy Cases": EGMR [GK], Fall Chapman, Appl. 27.238/95). Dass die freie Lebensführung auch in die Öffentlichkeit ausstrahlt, schadet vor diesem Hintergrund grundsätzlich nicht (EKMR , Nr. 9278/81, DR 35/30). Art 8 EMRK stellt auch die menschliche Persönlichkeit selbst in ihrer Identität, Individualität und Integrität unter Schutz. Die Selbstverwirklichung umfasst auch das Recht, einen individuellen Lebensstil zu pflegen. Art 8 EMRK ist dabei auf den Schutz der unterschiedlichen Ausdrucksformen der menschlichen Persönlichkeit gerichtet.

Nicht umfasst ist allerdings eine allgemeine Handlungsfreiheit (Grabenwarter/Pabel, aaO, Rz 12). Nicht jedes menschliche Handeln stellt also zugleich eine von Art 8 EMRK geschützte Ausdrucksform der Persönlichkeit dar (EGMR , Fälle Friend u. Countryside Alliance, Appl. 16.072/06 und 27.809/08).

Für den Verfassungsgerichtshof folgt aus dieser Rechtslage, dass Bettelei, die im Kern die Behebung oder Linderung einer persönlichen Notlage bezweckt, nicht als Ausdrucksform eines individuellen Lebensstils iSd Art 8 EMRK angesehen werden kann und daher auch nicht in den Schutzbereich dieses Grundrechts fällt.

3. Mit der Auffassung, dass es im Ergebnis unsachlich sei, die Bettelei schlechthin ohne jegliche Differenzierung zu verbieten, ist der Antragsteller im Recht:

Wie der Verfassungsgerichtshof in dem Erkenntnis vom , G132/11, dargetan hat, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden, dass der Landesgesetzgeber bestimmte Formen der Bettelei verbietet, insbesondere, wenn diese Formen in besonderem Maße das Gemeinschaftsleben stören und bzw. oder dies zum Schutz bestimmter Personengruppen (wie etwa Kindern) geboten ist. In diesem Sinne hat der Verfassungsgerichtshof jedenfalls keine Bedenken gegen ein Verbot aggressiven und organisierten Bettelns, ist dies doch zur Hintanhaltung von bestimmten unerwünschten Erscheinungsformen der Bettelei ein geeignetes und auch sonst sachlich zu rechtfertigendes Mittel.

§29 S-LSG geht nun aber über ein solches Verbot der Bettelei hinaus und verbietet diese schlechthin. Denn wenn § 29 Abs 1 S-LSG jedermann untersagt, unter anderem auch an einem öffentlichen Ort andere Menschen um finanzielle Hilfe zur Linderung der eigenen Bedürftigkeit zu bitten, dann sind von diesem Verbot nicht nur bestimmte qualifizierte Formen der Bettelei, sondern jedes, auch das stille Betteln, erfasst. Für eine solche Gleichbehandlung dieser wesentlich unterschiedlichen Formen der Bettelei bedürfte es jedoch einer sachlichen Rechtfertigung.

Eine solche sachliche Rechtfertigung vermag der Verfassungsgerichtshof nicht zu erkennen. Wenn die Salzburger Landesregierung zur Rechtfertigung darauf verweist, dass ein Verbot auch des schlichten "Erbittens" andere Benutzer von öffentlichen Orten vor der Belästigung schützen soll und daher ein solches Verbot auch zur Sicherstellung der öffentlichen Ordnung notwendig sei, ist ihr Folgendes entgegenzuhalten:

Das umfassende, nicht zwischen bestimmten Formen der Bettelei differenzierende Verbot des § 29 Abs 1 S-LSG erfasst auch jene Formen der Bettelei, in denen ein einzelner Bettler unaufdringlich und nicht aggressiv oder überhaupt "still", nur durch schriftlichen ("Taferl") oder symbolischen ("Hut") Hinweis an einem öffentlichen Ort einen anderen Menschen um finanzielle Hilfe bittet. Öffentlichen Orten ist jedoch die Begegnung mit anderen Menschen immanent. Eine Störung der öffentlichen Ordnung kann - sieht man etwa von einer Situation ab, in der die Anzahl der Bettler die Benützung des öffentlichen Orts derart erschwert, dass ein Missstand vorliegt - von der bloßen Anwesenheit einzelner Menschen an öffentlichen Orten, die um finanzielle Unterstützung werben, ohne qualifizierte, etwa aufdringliche oder aggressive Verhaltensweisen an den Tag zu legen, nicht ausgehen. Ein ausnahmsloses Verbot, als "stiller" Bettler den öffentlichen Ort zu nutzen, grenzt ohne sachliche Rechtfertigung bestimmte Menschen davon aus, öffentliche Orte wie andere zu ihrem selbstgewählten Zweck zu nutzen und verstößt daher gegen den Gleichheitsgrundsatz. Die Unsachlichkeit des ausnahmslosen Verbots zeigt sich auch darin, dass der Gesetzgeber an öffentlichen Orten eine Reihe anderer Nutzungsformen toleriert, bei denen Menschen etwa mit dem Ziel angesprochen werden, eine Spende für gemeinnützige Zwecke zu geben, Zeitungen oder Zeitschriften zu erwerben oder bestimmte Vergnügungs- oder Gastgewerbebetriebe zu besuchen. Der Ausschluss des "stillen" Bettelns an öffentlichen Orten entbehrt im Lichte des Art 7 Abs 1 B-VG daher einer sachlichen Rechtfertigung.

4. Das umfassende Verbot jeglichen Bettelns an öffentlichen Orten verstößt auch gegen Art 10 EMRK:

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes garantiert Art 10 EMRK jedermann Kommunikationsfreiheit. Vom Schutzumfang dieser Bestimmung, die das Recht der Freiheit der Meinung und der Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten und Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden einschließt, werden sowohl reine Meinungskundgaben als auch Tatsachenäußerungen, aber auch Werbemaßnahmen erfasst. Auch die Mitteilung von Tatsachen unterfällt daher dem Schutzbereich des Art 10 EMRK (vgl. VfSlg. 19.091/2010 mwH). Die "Mitteilung von Nachrichten oder Ideen" im Sinne des Art 10 Abs 1 EMRK kann dabei nicht nur sprachlich (auch durch Plakate - VfSlg. 18.652/2008 - oder Aufdrucke - VfSlg. 19.159/2010), sondern auch durch andere Formen der Kommunikation wie beispielsweise Symbole (vgl. etwa EGMR , Fall Vajnai, Appl. 33.629/06; , Fall Fratanoló, Appl. 29.459/10, sowie bereits VfSlg. 1207/1929), künstlerische Ausdrucksformen (VfSlg. 18.893/2009) oder sonstige Verhaltensweisen erfolgen, wenn und insoweit diesen gegenüber Dritten ein kommunikativer Gehalt zukommt (vgl. zu Akten nonverbaler Kommunikation beispielsweise EGMR , Fall Steel, Appl. 24.838/94, Z 92). Dass derartige Mitteilungen als belästigend, ja unter Umständen auch als störend oder schockierend empfunden werden, ändert ebenso wenig etwas am grundsätzlichen Schutz derartiger kommunikativer Verhaltensweisen durch Art 10 EMRK (EGMR , Fall Handyside, Appl. 5493/72, Z 43 ff; , Fall Müller, Appl. 10.737/84, Z 27 ff; VfSlg. 10.700/1985) wie der Umstand, dass diese primär aus finanziellen Antrieben gesetzt werden (EGMR , Fall Casado Coca, Appl. 15.450/89, Z 35).

§29 Abs 1 S-LSG verbietet, wie oben dargetan, unter anderem auch, an öffentlichen Orten von fremden Personen finanzielle Zuwendungen zu erbitten. Damit untersagt es diese Bestimmung jedermann ausnahmslos, an öffentlichen Orten andere Menschen auf seine individuelle Notlage aufmerksam zu machen (etwa indem der Bettler auf der Straße steht oder sitzt und mittels eines Schildes an die Hilfsbereitschaft vorübergehender Passanten appelliert) oder sie in unaufdringlicher und nicht aggressiver Weise verbal um Hilfe zu bitten. Auch ein solcher Appell an die Solidarität und finanzielle Hilfsbereitschaft anderer ist, wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, von der Kommunikationsfreiheit des Art 10 Abs 1 EMRK geschützt. Eine gesetzliche Bestimmung, die auch solches verbietet, greift in die durch Art 10 Abs 1 EMRK geschützte Kommunikationsfreiheit derjenigen ein, die an öffentlichen Orten anderen Menschen ihre Bitte auf die dargestellte Weise unterbreiten wollen (siehe Bezemek, Einen

Schilling zum Telefonieren ... Bettelverbote im Lichte freier

Meinungsäußerung, JRP 2011, 279 [282]).

Eingriffe in die Freiheit der Meinungsäußerung müssen nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs wie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gesetzlich vorgesehen sein, einen oder mehrere der in Art 10 Abs 2 EMRK genannten rechtfertigenden Zwecke verfolgen und zur Erreichung dieses Zweckes oder dieser Zwecke "in einer demokratischen Gesellschaft" notwendig sein (vgl. nur EGMR , Fall Sunday Times, Appl. 6538/74, EuGRZ 1979, 386 [390]; , Fall Casado Coca, Appl. 15.450/89; VfSlg. 10.948/1986; 12.886/1991, 14.218/1995, 14.899/1997 und 16.555/2002).

Die Salzburger Landesregierung beruft sich zur Rechtfertigung des § 29 Abs 1 S-LSG auf die Aufrechterhaltung der Ordnung und auf den Schutz der Rechte anderer. Wie oben bereits dargelegt, vermögen aber diese Gründe das Verbot auch stiller Formen der Bettelei, also des dargestellten "Erbittens" von Hilfe, nicht zu rechtfertigen. Dieses an öffentlichen Orten ausnahmslos zu verbieten, ist in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig (anders, als dies bei qualifizierten Formen des Bettelns, auch wenn sie mit kommunikativem Verhalten verbunden sind, der Fall ist, siehe , und oben Punkt 4). § 29 Abs 1 S-LSG verstößt daher aus diesem Grund auch gegen Art 10 EMRK.

IV. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen

1. § 29 des Salzburger Landessicherheitsgesetzes, LGBl. 57/2009, ist als verfassungswidrig aufzuheben.

Da § 29 Abs 2 S-LSG in einem untrennbaren Zusammenhang mit dem das absolute Verbot normierenden § 29 Abs 1 S-LSG steht, erweist sich die angefochtene Bestimmung zur Gänze als verfassungswidrig.

2. Der Ausspruch, dass frühere gesetzliche

Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten, beruht auf Art 140 Abs 6 erster Satz B-VG.

3. Die Verpflichtung der Landeshauptfrau zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung und der damit im Zusammenhang stehenden sonstigen Aussprüche erfließt aus Art 140 Abs 5 erster Satz B-VG und § 64 Abs 2 VfGG.

4. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 65a VfGG. In dem zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,- sowie die Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in Höhe von € 220,- enthalten.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.