VfGH vom 02.12.2014, G148/2014
Leitsatz
Aufhebung einer Bestimmung des SicherheitspolizeiG betr den generellen Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Beschwerden gegen die Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung mangels Erforderlichkeit einer vom VwGVG abweichenden Regelung
Spruch
I. § 77 Abs 2 erster Satz zweiter Halbsatz des Bundesgesetzes über die Organisation der Sicherheitsverwaltung und die Ausübung der Sicherheitspolizei (Sicherheitspolizeigesetz – SPG), BGBl Nr 566/1991 idF BGBl I Nr 161/2013, wird als verfassungswidrig aufgehoben.
II. Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Kraft.
III. Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Anlassverfahren, Antrag und Vorverfahren
1. Mit dem vorliegenden, auf Art 140 Abs 1 Z 1 lita B VG gestützten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Tirol, § 77 Abs 2 erster Satz zweiter Halbsatz SPG, BGBl 566/1991 idF BGBl I 161/2013, als verfassungswidrig aufzuheben.
Diesem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Die beim Landesverwaltungsgericht Tirol beschwerdeführende Partei wurde mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck vom aufgefordert, sich binnen zwei Wochen einer erkennungsdienstlichen Behandlung gemäß § 65 Abs 1 SPG zu unterziehen. In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde beantragt der Beschwerdeführer die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung.
2. Die Bedenken, die ihn zur Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof bestimmt haben, legt das Landesverwaltungsgericht Tirol wie folgt dar:
"Nach Art 136 Abs 2, erster Satz, B VG wird das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Verwaltungsgerichtes des Bundes für Finanzen durch ein besonderes Bundesgesetz einheitlich geregelt. In Ausführung zu dieser Verfassungsbestimmung ist mit das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz, BGBl I 2013/33 idF BGBl I 2013/122 (im Folgenden: VwGVG), in Kraft getreten.
Nach der Grundkonzeption des VwGVG kommt einer rechtzeitig eingebrachten und zulässigen Beschwerde gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit (Art130 Abs 1 Z 1 B VG) die aufschiebende Wirkung zu (vgl § 13 Abs 1 VwGVG). Der Gesetzgeber hat sich damit zur Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes klar bekannt.
Die Behörde kann allerdings nach § 13 Abs 2 VwGVG diese aufschiebende Wirkung mit Bescheid ausschließen, wenn nach Abwägung der berührten öffentlichen Interessen und Interessen anderer Parteien der vorzeitige Vollzug des angefochtenen Bescheides oder die Ausübung der durch den angefochtenen Bescheid eingeräumten Berechtigung wegen Gefahr im Verzug dringend geboten ist. Ein solcher Ausspruch ist tunlichst schon in den über die Hauptsache ergehenden Bescheid aufzunehmen. Im Falle des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung durch die Behörde hat der Gesetzgeber mit der Bestimmung des § 13 Abs 5 VwGVG einen raschen und effektiven Rechtsschutz sichergestellt: die Behörde hat die rechtzeitige und zulässige Beschwerde gegen diesen Ausspruch unter Anschluss der Akten unverzüglich dem Verwaltungsgericht vorzulegen. Das Verwaltungsgericht muss über diese Beschwerde ohne weiteres Verfahren unverzüglich entscheiden und der Behörde, wenn diese nicht von der Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung absieht, die Akten des Verfahrens zurückstellen.
In § 22 VwGVG ist sodann die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte zur Frage der Zu- oder Aberkennung der aufschiebenden Wirkung geregelt. Im Bescheidbeschwerdeverfahren kann das Verwaltungsgericht bei Vorliegen der angeführten gesetzlichen Bestimmungen die aufschiebende Wirkung durch Beschluss ausschließen (§22 Abs 2 leg cit) bzw Bescheide der Behörden nach § 13 VwGVG bzw eigene Beschlüsse gemäß § 22 Abs 2 leg cit auf Antrag einer Partei aufheben oder abändern, wenn es die Voraussetzungen der Zuerkennung bzw des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung anders beurteilt oder wenn sich die Voraussetzungen, die für die Entscheidung über den Ausschluss bzw. die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde maßgebend waren, wesentlich geändert haben.
Das Verwaltungsgericht kann demnach im Bescheidbeschwerdeverfahren nach Art 130 Abs 1 Z 1 B VG die aufschiebende Wirkung nur dann zuerkennen, wenn diese zuvor durch Bescheid der Behörde nach § 13 Abs 2 bzw Beschluss des Verwaltungsgerichtes nach § 22 Abs 1 und 2 VwGVG ausgeschlossen wurde. Eine originäre Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtes zur Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung besteht nach den Bestimmungen des VwGVG nicht, was insoweit konsequent erscheint, als nach § 13 Abs 1 VwGVG - wie oben dargestellt - ohnehin jeder rechtzeitig erhobenen und zulässigen Bescheidbeschwerde die aufschiebende Wirkung zukommt.
Von diesem Konzept weicht nun die Regelung des § 77 Abs 2 Sicherheitspolizeigesetz (im Folgenden: SPG), welche ebenfalls am in Kraft getreten ist (BGBl I Nr 2013/161) grundlegend ab: Kommt ein Betroffener der Aufforderung, sich einer erkennungsdienstlichen Behandlung zu unterziehen nicht nach, so ist Ihm die Verpflichtung gemäß § 65 Abs 4 bescheidmäßig aufzuerlegen; einer dagegen erhobenen Beschwerde kommt keine aufschiebende Wirkung zu.
Da in diesem Falle die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde ex lege ausgeschlossen ist, ist sohin eine Zuerkennung einer solchen durch das Verwaltungsgericht nicht zulässig.
[…]
Ausgehend von der vorläufigen Prämisse […], dass der Verfassungsgesetzgeber in Art 136 Abs 2 B VG vom VwGVG abweichende Regelungen zugelassen hat (vgl dazu die erläuternden Bemerkungen zu dieser Verfassungsbestimmung XXIV. GP, RV 1618: '...in Anlehnung an Art 11 Abs 2 letzter Halbsatz B VG soll es möglich sein, abweichende Regelungen zu treffen, wenn sie zur Regelung des Gegenstandes erforderlich sind.') ist zu prüfen, ob auch im gegenständlichen Fall die gesetzliche Voraussetzung der Erforderlichkeit zur Regelung des Gegenstandes gegeben ist.
[…]
Der Gesetzgeber hat im Wesentlichen den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung damit begründet, dass 'die umgehende Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit derartiger Bescheide aufgrund wesentlicher öffentlicher oder privater Interessen auch künftig gewährleistet sein muss.' Worin diese öffentlichen oder privaten Interessen beim Ausschluss der aufschiebenden Wirkung im Zusammenhang mit erkennungsdienstlichen Behandlungen gelegen sein sollen, geht aus den Erläuternden Bemerkungen nicht hervor.
Soweit in den Erläuterungen darauf Bezug genommen wird, dass auch bislang die Erhebung ordentlicher Rechtsmittel ausgeschlossen war und daher die diesbezüglichen Entscheidungen bereits im Zeitpunkt ihrer Zustellung rechtskräftig und damit vollstreckbar waren, ist dem entgegenzuhalten, dass im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof und dem Verwaltungsgerichtshof sehr wohl die aufschiebende Wirkung zuerkannt werden konnte und die Rechtsschutzlücke daher bislang zeitlich eng begrenzt war. Im Vergleich dazu wurde in § 77 Abs 2 SPG in der vorliegenden Fassung eine Rechtsschutzlücke im vorläufigen Rechtsschutz insofern eröffnet, als im Bescheidbeschwerdeverfahren vor dem Verwaltungsgericht die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung überhaupt nicht möglich ist. Welche Umstände diesen - im Vergleich zur bisherigen Rechtslage neuartigen - Effekt als zur 'Regelung des Gegenstandes unerlässlich' erscheinen lassen, wird in den Erläuterungen nicht dargelegt.
Es wird nicht in Abrede gestellt, dass in bestimmten Fällen die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung insbesonders aus öffentlichen Interessen geboten sein wird, doch sind nach Ansicht des Verwaltungsgerichts Tirol mit der Möglichkeit zur Aberkennung der aufschiebenden Wirkung durch die Behörde nach § 13 Abs 2 VwGVG bzw durch das Verwaltungsgericht nach § 22 Abs 2 VwGVG diese Interessen ausreichend gewahrt, zumal es sich hier nicht um 'Massenverfahren' handelt. Es kann nicht gesehen werden, dass § 77 Abs 2, erster Satz, zweiter Halbsatz, SPG unerlässlich für die Regelung des Gegenstandes ist, vielmehr gibt es zahlreiche Fallkonstellationen, in denen zwar öffentliche Interessen die Vorschreibung einer erkennungsdienstlichen Behandlung rechtfertigen, ohne dass jedoch automatisch deren sofortige Vollstreckbarkeit geboten erscheint. Das folgt bereits aus dem unterschiedlichen 'Grad der Dringlichkeit', der sich aus der Art und Weise der 'Tatbegehung' und aus den Lebensumständen des Betroffenen sowie dessen Persönlichkeit (zB Gefahr des Untertauchens, Wiederholungstäter) ableitet. Hinzu kommt, dass sich die Prüfung der Voraussetzungen für die erkennungsdienstliche Behandlung (zB: Erforderlichkeit wegen 'der Art oder Ausführung der Tat oder der Persönlichkeit des Betroffenen zur Vorbeugung gefährlicher Angriffe') in manchen Fällen diffizil gestaltet und damit das Risiko der Belastung durch eine rechtswidrige Vorschreibung der erkennungsdienstlichen Behandlung für den Betroffenen durchaus in einem gewissen Ausmaß gegeben ist.
In diesem Zusammenhang ist insbesonders zu berücksichtigen, dass durch die erkennungsdienstliche Behandlung ein Eingriff in das Grundrecht auf Datenschutz erfolgt und damit eng verbunden nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes für Menschenrechte das nach Art 8 EMRK geschützte Recht einer Person auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens steht. Darüber hinaus kann bei einem entsprechenden Unionsrechtsbezug auch ein Eingriff in Art 8 GRC gegeben sein (vgl den Prüfungsbeschluss des Verfassungsgerichtshofes vom , B1156/2012-13, sowie , G76/12).
In diesem grundrechtsnahen sensiblen Rechtsbereich erscheint die Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes insbesonders erforderlich. Die Möglichkeit der nachträglichen Löschung der Daten nach dem DSG ändert an dieser Beurteilung nach hg Ansicht nichts.
Gerade der Vorgang der erkennungsdienstlichen Behandlung an sich ist bereits belastend für den Betroffenen. Hinzu kommt, dass die erkennungsdienstliche Behandlung nach § 78 SPG, soweit es tatsächlich möglich ist und damit kein Eingriff in die körperliche Integrität verbunden ist, sogar durch Ausübung unmittelbarer Zwangsgewalt durchgesetzt werden kann, Die bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten (zB Beschwerde nach § 88 und § 90 SPG, Antrag auf Löschung nach § 27 DSG) sind lediglich nachträglicher Art. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass eine Löschung der erkennungsdienstlichen Daten durch den Betroffenen nicht tatsächlich überprüft werden kann, zumal lediglich ein Auskunftsrecht nach § 26 DSG, aber kein Recht auf Akteneinsicht besteht (§79 Abs 2 SPG), sodass aufgrund von Bedenken ob möglicher Fehler in der Datenverarbeitung, Missbrauch von Daten und Datenlecks allenfalls eine Ungewissheit für einen nach dem Ergebnis eines Rechtmitteiverfahrens zu Unrecht erkennungsdienstlich Behandelten verbleibt.
[…]
Das Landesverwaltungsgericht geht nicht davon aus, dass § 58 Abs 2 VwGVG als 'Ermächtigung' im Sinne des dritten Satzes des Art 136 Abs 2 B VG gedeutet werden kann. Abgesehen davon, dass eine solche Ermächtigung zur Wahrnehmung der Kompetenz 'Verwaltungsgerichtsbarkeit' wohl entsprechend determiniert sein müsste, scheitert eine solche Annahme auch daran, dass die an einen Gesetzgeber gerichtete Ermächtigung wohl nur auf den zukünftigen Gebrauch und nicht auf bereits in der Vergangenheit gesetzte Akte gerichtet ist. Dass der Verfassungsgesetzgeber dem einfachen Gesetzgeber in Art 136 Abs 2 B VG auch die Möglichkeit zur Einräumung rückwirkender 'Ermächtigungen' verschaffen wollte, ist schon aus dem Wortlaut des (erst mit in Kraft getretenen) Art 136 Abs 2 B VG nicht ableitbar, wonach 'durch Bundes- oder Landesgesetz Regelungen über das Verfahren der Verwaltungsgerichte getroffen werden können' (und nicht etwa 'konnten').
[…]
Nach hg Auffassung handelt es sich bei § 58 Abs 2 und 3 VwGVG um Regelungen, die klarstellen sollen, dass das VwGVG den (bereits kundgemachten) abweichenden Regelungen, die unmittelbar auf die verfassungsrechtliche Grundlage zur Erlassung abweichender Verfahrensvorschriften gestützt wurden, nicht materiell derogiert. Die Frage, ob der jeweilige Gesetzgeber bei Erlassung der abweichenden Regelungen die Grenzen der Erforderlichkeit nach Art 136 Abs 2 B VG eingehalten hat, bleibt von § 58 Abs 2 und 3 VwGVG dagegen unberührt […].
Nach Ansicht des Landesverwaltungsgerichts Tirol liegt sohin auch keine gesetzliche Ermächtigung des VwGVG zur Erlassung einer von § 13 Abs 1 VwGVG abweichenden Bestimmung vor und widerspricht [die] angefochtene Bestimmung daher Art 136 Abs 2 B VG.
[…]
Nachdem in Art 136 Abs 2, erster Satz, B VG eine einheitliche Regelung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens durch ein besonderes Bundesgesetz festgeschrieben ist (arg: 'Das Verfahren der Verwaltungsgerichte ... wird durch ein besonderes Bundesgesetz einheitlich geregelt.') könnte dieser dritte Satz in Art 136 Abs 2 B VG [auch] dahingehend verstanden werden, dass lediglich ergänzende verfahrensrechtliche Bestimmungen getroffen werden dürfen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen, dass aber eine Kompetenz zur Erlassung abweichender Regelungen fehlt.
[…]
Darüber hinaus erachtet das Landesverwaltungsgericht Tirol die angefochtene Bestimmung auch im Hinblick auf das rechtsstaatliche Prinzip als verfassungsrechtlich bedenklich.
Ausgehend vom Sinn des rechtsstaatlichen Prinzips vertrat der Verfassungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung die Auffassung, dass es unter dem Aspekt dieses Prinzips nicht angeht, den Rechtsschutzsuchenden generell einseitig mit allen Folgen einer potentiell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung so lange zu belasten, bis sein Rechtsschutzgesuch endgültig erledigt ist. […]
Wie bereits oben […] ausgeführt, scheint es, dass die angefochtene Regelung diesen Anforderungen nicht entspricht […]."
(Zitat ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen)
3. Die Bundesregierung verzichtete auf die Abgabe einer meritorischen Äußerung.
II. Rechtslage
4. Die im vorliegenden Fall maßgeblichen Bestimmungen des SPG, BGBl 566/1991 idF BGBl I 43/2014, lauten wie folgt:
"Erkennungsdienstliche Behandlung
§65. (1) Die Sicherheitsbehörden sind ermächtigt, einen Menschen, der im Verdacht steht, eine mit gerichtlicher Strafe bedrohte vorsätzliche Handlung begangen zu haben, erkennungsdienstlich zu behandeln, wenn er im Rahmen einer kriminellen Verbindung tätig wurde oder dies wegen der Art oder Ausführung der Tat oder der Persönlichkeit des Betroffenen zur Vorbeugung gefährlicher Angriffe erforderlich scheint.
(2), (3) […]
(4) Wer erkennungsdienstlich zu behandeln ist, hat an den dafür erforderlichen Handlungen mitzuwirken.
(5), (6) […]
[…]
Verfahren
§77. (1) Die Behörde hat einen Menschen, den sie einer erkennungsdienstlichen Behandlung zu unterziehen hat, unter Bekanntgabe des maßgeblichen Grundes formlos hiezu aufzufordern.
(2) Kommt der Betroffene der Aufforderung gemäß Abs 1 nicht nach, so ist ihm die Verpflichtung gemäß § 65 Abs 4 bescheidmäßig aufzuerlegen ; einer dagegen erhobenen Beschwerde kommt keine aufschiebende Wirkung zu . Eines Bescheides bedarf es dann nicht, wenn der Betroffene auch aus dem für die erkennungsdienstliche Behandlung maßgeblichen Grunde angehalten wird.
(3), (4) […]"
5. Die im vorliegenden Fall maßgeblichen Bestimmungen des Bundesgesetzes über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl I 33/2013 idF BGBl I 122/2013, lauten wie folgt:
" Aufschiebende Wirkung
§13. (1) Eine rechtzeitig eingebrachte und zulässige Beschwerde gemäß Art 130 Abs 1 Z 1 B VG hat aufschiebende Wirkung.
(2) Die Behörde kann die aufschiebende Wirkung mit Bescheid ausschließen, wenn nach Abwägung der berührten öffentlichen Interessen und Interessen anderer Parteien der vorzeitige Vollzug des angefochtenen Bescheides oder die Ausübung der durch den angefochtenen Bescheid eingeräumten Berechtigung wegen Gefahr im Verzug dringend geboten ist. Ein solcher Ausspruch ist tunlichst schon in den über die Hauptsache ergehenden Bescheid aufzunehmen.
(3) Beschwerden gemäß Art 130 Abs 1 Z 4 und Abs 2 Z 1 B VG haben keine aufschiebende Wirkung. Die Behörde hat jedoch auf Antrag des Beschwerdeführers die aufschiebende Wirkung mit Bescheid zuzuerkennen, wenn dem nicht zwingende öffentliche Interessen entgegenstehen und nach Abwägung der berührten öffentlichen Interessen und Interessen anderer Parteien mit der sofortigen Verbindlichkeit der Weisung oder mit dem Andauern des Verhaltens der Behörde für den Beschwerdeführer ein unverhältnismäßiger Nachteil verbunden wäre.
(4) Die Behörde kann Bescheide gemäß Abs 2 und 3 von Amts wegen oder auf Antrag einer Partei aufheben oder abändern, wenn sich der maßgebliche Sachverhalt so geändert hat, dass seine neuerliche Beurteilung einen im Hauptinhalt des Spruchs anderslautenden Bescheid zur Folge hätte.
(5) Die Beschwerde gegen einen Bescheid gemäß Abs 2 oder 3 hat keine aufschiebende Wirkung. Sofern die Beschwerde nicht als verspätet oder unzulässig zurückzuweisen ist, hat die Behörde dem Verwaltungsgericht die Beschwerde unter Anschluss der Akten des Verfahrens unverzüglich vorzulegen. Das Verwaltungsgericht hat über die Beschwerde ohne weiteres Verfahren unverzüglich zu entscheiden und der Behörde, wenn diese nicht von der Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung absieht, die Akten des Verfahrens zurückzustellen.
[…]
Aufschiebende Wirkung
§22. (1) Beschwerden gemäß Art 130 Abs 1 Z 2 B VG haben keine aufschiebende Wirkung. Das Verwaltungsgericht hat jedoch auf Antrag des Beschwerdeführers die aufschiebende Wirkung mit Beschluss zuzuerkennen, wenn dem nicht zwingende öffentliche Interessen entgegenstehen und nach Abwägung der berührten öffentlichen Interessen mit dem Andauern der Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt für den Beschwerdeführer ein unverhältnismäßiger Nachteil verbunden wäre.
(2) Im Verfahren über Beschwerden gemäß Art 130 Abs 1 Z 1 B VG kann das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung durch Beschluss ausschließen, wenn nach Abwägung der berührten öffentlichen Interessen und Interessen anderer Parteien der vorzeitige Vollzug des angefochtenen Bescheides oder die Ausübung der durch den angefochtenen Bescheid eingeräumten Berechtigung wegen Gefahr im Verzug dringend geboten ist.
(3) Das Verwaltungsgericht kann Bescheide gemäß § 13 und Beschlüsse gemäß Abs 1 und 2 auf Antrag einer Partei aufheben oder abändern, wenn es die Voraussetzungen der Zuerkennung bzw. des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung anders beurteilt oder wenn sich die Voraussetzungen, die für die Entscheidung über den Ausschluss bzw. die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde maßgebend waren, wesentlich geändert haben."
III. Erwägungen
1. Zur Zulässigkeit des Antrages
1.1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag auf Aufhebung einer generellen Norm nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl. etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).
1.2. Die Grenzen der Aufhebung einer auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu prüfenden Gesetzesbestimmung sind, wie der Verfassungsgerichtshof sowohl für von Amts wegen als auch für auf Antrag eingeleitete Gesetzesprüfungsverfahren schon wiederholt dargelegt hat (VfSlg 13.965/1994, 16.542/2002, 16.911/2003), notwendig so zu ziehen, dass einerseits der verbleibende Gesetzesteil nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und dass andererseits die mit der aufzuhebenden Gesetzesstelle untrennbar zusammenhängenden Bestimmungen auch erfasst werden.
1.3. Im Verfahren hat sich nichts ergeben, was am Vorliegen dieser Voraussetzungen zweifeln ließe. Die angefochtene Bestimmung ist vom Landesverwaltungsgericht Tirol bei der Entscheidung über den in der Beschwerde gestellten Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung denkmöglich anzuwenden. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich der Antrag insgesamt als zulässig.
2. In der Sache
Der Antrag ist begründet.
2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art 140 B VG auf die Erörterung der aufgeworfenen Fragen zu beschränken (vgl. VfSlg 12.691/1991, 13.471/1993, 14.895/1997, 16.824/2003). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen verfassungswidrig ist (VfSlg 15.193/1998, 16.374/2001, 16.538/2002, 16.929/2003).
2.2. Das Landesverwaltungsgericht Tirol äußert das Bedenken, dass der in § 77 Abs 2 erster Satz zweiter Halbsatz SPG vorgesehene, von den Regelungen der §§13 und 22 VwGVG abweichende generelle Ausschluss der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde gegen die Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung ex lege gegen Art 136 Abs 2 B VG verstoße, da dieser Ausschluss weder zur Regelung des Gegenstandes erforderlich sei noch zu einer solchen Regelung durch das das Verfahren der Verwaltungsgerichte regelnde besondere Bundesgesetz ermächtigt werde.
2.2.1. Der Materiengesetzgeber darf das Verfahren der Verwaltungsgerichte betreffende Regelungen nur vorsehen, wenn sie entweder zur Regelung des Gegenstandes im Sinne des Art 136 Abs 2 B VG erforderlich sind oder soweit das VwGVG als kodifizierendes Bundesgesetz im Sinne des Art 136 Abs 2 B VG dazu ermächtigt; eine solche Ermächtigung ist mangels einer vom Gesetzgeber beabsichtigten umfassenden Freistellung von der Prüfung am Erforderlichkeitsmaßstab nicht in § 58 Abs 2 und 3 VwGVG zu erblicken (vgl. ua.).
2.2.2. Ob die von den §§13 und 22 VwGVG abweichende Regelung des § 77 Abs 2 erster Satz zweiter Halbsatz SPG im Hinblick auf Art 136 Abs 2 B VG zulässig ist, hängt damit davon ab, ob sie zur Regelung des Gegenstandes "erforderlich" ist.
In den Erläuterungen zur RV der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, 1618 BlgNR 24. GP, 18 f., heißt es wörtlich:
"Nach dem vorgeschlagenen Art 136 Abs 1 ist die Zuständigkeit zur Regelung der Organisation der Verwaltungsgerichte zwischen Bund (Verwaltungsgerichte des Bundes und Verwaltungsgerichtshof) und Ländern (Verwaltungsgerichte der Länder) geteilt […].
Demgegenüber soll das Verfahren der Verwaltungsgerichte (mit Ausnahme des Verwaltungsgerichtes des Bundes für Finanzen) nach dem vorgeschlagenen Art 136 Abs 2 durch ein besonderes Bundesgesetz einheitlich geregelt werden können; in Anlehnung an Art 11 Abs 2 letzter Halbsatz B VG soll es jedoch möglich sein, abweichende Regelungen zu treffen, wenn sie zur Regelung des Gegenstandes erforderlich sind."
2.2.3. Nach dem in diesem Zitat deutlich werdenden Willen des Verfassungsgesetzgebers und dem Wortlaut des Art 136 Abs 2 B VG entspricht das Kriterium, dass durch Bundes- oder Landesgesetz Regelungen über das Verfahren der Verwaltungsgerichte getroffen werden können, wenn sie zur Regelung des Gegenstandes erforderlich sind, jenem des Art 11 Abs 2 letzter Halbsatz B VG ( Lienbacher, Agrarrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, FS Raschauer, 2013, 351 [362 f.]; Lukan, Die Abweichung von einheitlichen Verfahrensvorschriften im verwaltungsbehördlichen Verfahren und im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten erster Instanz, ZfV 2014, 12 [23]). Vom VwGVG abweichende Regelungen – wie die angefochtene – dürfen daher nur dann getroffen werden, wenn sie zur Regelung des Gegenstandes "unerlässlich" sind (vgl. zu Art 11 Abs 2 B VG die Rechtsprechung beginnend mit VfSlg 8945/1980).
2.2.4. Der in § 77 Abs 2 erster Satz zweiter Halbsatz SPG vorgesehene generelle Ausschluss der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde gegen die Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung erfüllt das Kriterium der Erforderlichkeit nicht:
2.2.4.1. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sind von den allgemeinen Bestimmungen der Verfahrensgesetze abweichende Regelungen überhaupt nur dann zulässig, wenn sie nicht anderen Verfassungsbestimmungen, etwa dem Rechtsstaatsprinzip und dem daraus abgeleiteten Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes widersprechen (vgl. VfSlg 15.218/1998, 17.340/2004); in dieser Hinsicht hat die durch Art 136 Abs 2 letzter Satz B VG geschaffene Rechtslage auch nichts geändert.
2.2.4.2. Dieser Anforderung wird der in § 77 Abs 2 erster Satz zweiter Halbsatz SPG enthaltene generelle Ausschluss der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde gegen die Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung nicht gerecht:
Da das Landesverwaltungsgericht nicht befugt ist, im Verfahren gegen die bescheidmäßige Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, muss der von der Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung Betroffene – anders als nach der alten Rechtslage – die erkennungsdienstliche Behandlung vorerst jedenfalls hinnehmen, selbst dann, wenn im Einzelfall – wie das antragstellende Gericht zutreffend dartut – der damit verbundene Eingriff in seine Rechte potentiell auf einer rechtswidrigen behördlichen Entscheidung beruht. Durch diese angefochtene Regelung wird der Rechtsschutzsuchende mit dem Rechtsschutzrisiko in einem besonders grundrechtssensiblen Bereich (vgl. ) bis zur endgültigen Rechtsschutzgewährung einseitig belastet.
Der Verfassungsgerichtshof übersieht dabei nicht, dass es Fälle gibt, bei denen das öffentliche Interesse an einer effektiven Gefahrenabwehr die sofortige Vollstreckung einer erkennungsdienstlichen Behandlung rechtfertigt. Diesem öffentlichen Interesse wird jedoch bereits mit der Möglichkeit des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung durch die anordnende Behörde unter den Voraussetzungen des § 13 Abs 2 VwGVG entsprochen, sodass bei entsprechender Gefahrenprognose auch die mögliche Entstehung oder Fortsetzung eines rechtswidrigen Zustandes (siehe hiezu VfSlg 17.346/2004) etwa in Form der Begehung schwerer Straftaten nicht hingenommen werden muss und es somit einer abweichenden Regelung nicht bedarf (vgl. im Übrigen die Ermächtigung des § 77 Abs 2 letzter Satz SPG). Da diese rechtliche Möglichkeit hinreicht, ist der generelle Ausschluss der aufschiebenden Wirkung nicht erforderlich (vgl. auch VfSlg 15.218/1998).
IV. Ergebnis
6. § 77 Abs 2 erster Satz zweiter Halbsatz SPG, BGBl 566/1991 idF BGBl I 161/2013, ist daher bereits aus diesen Gründen als verfassungswidrig aufzuheben.
7. Der Ausspruch, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten, beruht auf Art 140 Abs 6 erster Satz B VG.
8. Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung und der damit im Zusammenhang stehenden sonstigen Aussprüche erfließt aus Art 140 Abs 5 erster Satz B VG und § 64 Abs 2 VfGG iVm § 3 Z 3 BGBlG.
9. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
European Case Law Identifier
ECLI:AT:VFGH:2014:G148.2014