VfGH vom 08.06.2020, G140/2020, G15/2020 (G140/2020-9, G15/2020-10)
Leitsatz
Verfassungswidrigkeit einer Bestimmung des Wr MindestsicherungsG betreffend den Ausschluss von Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung; Unsachlichkeit des Ausschlusses der Bedarfsgemeinschaft von minderjährigen österreichischen Staatsbürgern und deren Obsorgeberechtigte auf Grund des Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt - EU" der Obsorgeberechtigten
Spruch
I.Das Wort "Daueraufenthalt - EU" in § 5 Abs 2 Z 3 Wiener Mindestsicherungsgesetz, LGBl für Wien 38/2010, idF LGBl für Wien 2/2018 war bis zum Ablauf des verfassungswidrig.
II.Der Landeshauptmann von Wien ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Landesgesetzblatt verpflichtet.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Anträge
Mit den vorliegenden, auf Art 140 Abs 1 Z 1 lita B-VG gestützten Anträgen begehrt das Verwaltungsgericht Wien, das Wort "Daueraufenthalt - EU" in § 5 Abs 2 Z 3 Wiener Mindestsicherungsgesetz (WMG), LGBl 2/2018, in eventu das Wort "Daueraufenthalt - EU" und die Wortfolge ", sowie Personen mit einem vor dem ausgestellten Aufenthaltstitel 'Daueraufenthalt - Familienangehöriger' oder 'Daueraufenthalt - EG', welche gemäß § 81 Abs 29 NAG als Aufenthaltstitel 'Daueraufenthalt - EU' weiter gelten" in § 5 Abs 2 Z 3 WMG, LGBl 2/2018, als verfassungswidrig aufzuheben.
II. Rechtslage
§5 WMG idF LGBl 2/2018 lautet wie folgt (die angefochtene Wortfolge ist unterstrichen):
"Personenkreis
§5. (1) Leistungen nach diesem Gesetz stehen grundsätzlich nur volljährigen österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern zu.
(2) Den österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern sind folgende Personen gleichgestellt, wenn sie volljährig sind, sich rechtmäßig im Inland aufhalten und die Einreise nicht zum Zweck des Sozialhilfebezuges erfolgt ist:
1. Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtige, denen dieser Status nach den Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 – AsylG 2005) zuerkannt wurde sowie Personen, die Staatsangehörige eines EU- oder EWR-Staates oder der Schweiz und Opfer von Menschenhandel, grenzüberschreitenden Prostitutionshandel oder Opfer von Gewalt sind oder die über eine Aufenthaltsberechtigung als Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder als Opfer von Gewalt verfügen (§57 Abs 1 Z 2 und 3 AsylG 2005);
2. Staatsangehörige eines EU- oder EWR-Staates oder der Schweiz, wenn sie erwerbstätig sind oder die Erwerbstätigeneigenschaft nach § 51 Abs 2 Bundesgesetz über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz – NAG) erhalten bleibt oder sie das Recht auf Daueraufenthalt nach § 53a NAG erworben haben und deren Familienangehörige;
3. Personen mit einem Aufenthaltstitel 'Daueraufenthalt - EU' oder deren vor Inkrafttreten des NAG erteilte Aufenthalts- und Niederlassungsberechtigung als solche gemäß § 81 Abs 2 NAG in Verbindung mit der NAG-DV weiter gilt, sowie Personen mit einem vor dem ausgestellten Aufenthaltstitel 'Daueraufenthalt – Familienangehöriger' oder 'Daueraufenthalt – EG', welche gemäß § 81 Abs 29 NAG als Aufenthaltstitel 'Daueraufenthalt – EU' weiter gelten;
4. Personen mit einem Aufenthaltstitel 'Daueraufenthalt – EU' eines anderen Mitgliedstaates, denen ein Aufenthaltstitel nach § 49 Abs 1, Abs 2 oder Abs 4 NAG erteilt wurde,
5. Ehegattinnen und Ehegatten, eingetragene Partnerinnen und eingetragene Partner von Personen gemäß Abs 1 oder Abs 2 Z 1 bis 4, die mit diesen in einem gemeinsamen Haushalt leben und sich rechtmäßig in Österreich aufhalten.
(3) Personen, die nach den Bestimmungen des AsylG 2005 einen Asylantrag gestellt haben, steht bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens kein Anspruch auf Leistungen der Wiener Mindestsicherung zu."
III. Anlassverfahren, Vorbringen und Vorverfahren
1. Dem zu G15/2020 protokollierten Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Die vor dem Verwaltungsgericht Wien beschwerdeführende Partei ist nordmazedonische Staatsangehörige und verfügt über einen Aufenthaltstitel als Familienangehörige. Sie lebt mit ihren drei minderjährigen Kindern, die österreichische Staatsbürger bzw Staatsbürgerinnen sind, im gemeinsamen Haushalt. Am beantragte die vor dem Verwaltungsgericht Wien beschwerdeführende Partei Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Magistrates der Stadt Wien vom abgewiesen. Dagegen richtet sich die nunmehr vom Verwaltungsgericht Wien zu behandelnde Beschwerde.
2. Der zu G140/2020 protokollierte Antrag betrifft dieselbe beschwerdeführende Partei, die am einen weiteren Antrag auf Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung gestellt hat. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Magistrates der Stadt Wien vom abgewiesen. Dagegen richtet sich die nunmehr vom Verwaltungsgericht Wien zu behandelnde Beschwerde.
3. Das Verwaltungsgericht Wien führt zur Zulässigkeit der Anträge aus, dass es nach § 5 Abs 2 Z 3 WMG zu prüfen habe, ob die Bedarfsgemeinschaft bestehend aus einer Drittstaatsangehörigen mit dem Aufenthaltstitel "Familienangehörige" und drei minderjährigen Kindern mit österreichischer Staatsbürgerschaft, Anspruch auf Leistungen nach dem WMG hätte. Der Anfechtungsumfang orientiere sich an VfSlg 20.270/2018 und sei so gewählt, dass einerseits Haushaltskonstellationen wie die vorliegende nicht von Leistungen der Mindestsicherung ausgeschlossen würden und andererseits die nach Aufhebung verbleibenden Teile des Gesetzes weiterhin angewendet werden könnten.
3.1. In der Sache führt das Verwaltungsgericht aus, dass die angefochtene Bestimmung und die Regelung, die VfSlg 20.270/2018 zugrunde gelegen sei, offenkundig gleichgelagert seien:
3.2. Der Bedarf von minderjährigen Personen erfolge durch Zuerkennung des maßgeblichen Mindeststandards an die anspruchsberechtigten volljährigen Personen derselben Bedarfsgemeinschaft. Dies setze aber voraus, dass die erwachsene Person, mit der die Minderjährigen eine Bedarfsgemeinschaft bildeten, Anspruch auf Bedarfsorientierte Mindestsicherung nach dem WMG habe. Die vor dem Verwaltungsgericht Wien beschwerdeführende Partei sei Drittstaatsangehörige und müsse den Gleichstellungstatbestand nach § 5 Abs 2 Z 3 WMG erfüllen, um zum anspruchsberechtigten Personenkreis zu gehören. Dazu sei es erforderlich, dass einer der in § 5 Abs 2 Z 3 WMG aufgezählten Aufenthaltstitel zuerkannt worden sei. Die vor dem Verwaltungsgericht Wien beschwerdeführende Partei verfüge aber über einen Aufenthaltstitel "Familienangehöriger", der in § 5 Abs 2 Z 3 WMG nicht angeführt werde und sohin nicht geeignet sei, eine Gleichstellung mit österreichischen Staatsbürgern für den Bezug von bedarfsorientierter Mindestsicherung herbeizuführen. Somit würden bei geltender Rechtslage auch die minderjährigen Kinder, die österreichische Staatsbürger seien und sich in einer Notlage befänden, keine Leistungen aus der Bedarfsorientierten Mindestsicherung im Rahmen der Bedarfsgemeinschaft erhalten. Das WMG habe zum Ziel, Armut und soziale Ausschließung zu bekämpfen und diene der Beseitigung einer bestehenden Notlage. Indem der Wiener Landesgesetzgeber einerseits Personen mit dem Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" gemäß § 47 Abs 2 NAG vom Kreis der Anspruchsberechtigten nach dem WMG ausschließe und andererseits vorsehe, dass minderjährige österreichische Staatsbürger nur mittelbar über ihre nach dem WMG anspruchsberechtigten Obsorgeberechtigten versorgt werden könnten, habe er eine unsachliche Regelung geschaffen, die insofern ihren eigentlichen Zweck, nämlich die Beseitigung bestehender Notlagen, verfehle.
4. Die Landesregierung hat folgende Äußerung erstattet:
"Die gegenständlichen Anträge des Verwaltungsgerichts Wien (VGW) haben beide die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 5 Abs 2 Z 3 Wiener Mindestsicherungsgesetz (WMG), LGBl für Wien Nr 38/2010 i.d.F. LGBl für Wien Nr 2/2018, zum Gegenstand. Mit Hinweis auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes (VfGH) vom , G415/2017, werden die in der Bestimmung beinhalteten Wortfolgen als verfassungswidrig erachtet. Die geltende Norm würde in Lebenssachverhalten wie dem Vorliegenden dem Gleichheitsgrundsatz widersprechen.
Es wird derzeit eine Novellierung der in Prüfung gezogenen Norm betreffend den Personenkreis vorbereitet. Daher wird von einer ausführlichen Äußerung zu den oben genannten Verfahren abgesehen."
IV. Erwägungen
Der Verfassungsgerichtshof hat über die in sinngemäßer Anwendung der § 187 und 404 ZPO iVm § 35 Abs 1 VfGG zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen Anträge erwogen:
1. Zur Zulässigkeit der Anträge
1.1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art 139 Abs 1 Z 1 B-VG bzw des Art 140 Abs 1 Z 1 lita B-VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).
In von Amts wegen eingeleiteten Normenprüfungsverfahren hat der Verfassungsgerichtshof den Umfang der zu prüfenden und allenfalls aufzuhebenden Bestimmungen derart abzugrenzen, dass einerseits nicht mehr aus dem Rechtsbestand ausgeschieden wird, als Voraussetzung für den Anlassfall ist, dass aber andererseits der verbleibende Teil keine Veränderung seiner Bedeutung erfährt; da beide Ziele gleichzeitig niemals vollständig erreicht werden können, ist in jedem Einzelfall abzuwägen, ob und inwieweit diesem oder jenem Ziel der Vorrang vor dem anderen gebührt (VfSlg 7376/1974, 9374/1982, 11.506/1987, 15.599/1999, 16.195/2001).
Die Grenzen der Aufhebung müssen auch in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren so gezogen werden, dass einerseits der verbleibende Gesetzesteil nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und dass andererseits die mit der aufzuhebenden Gesetzesstelle in untrennbarem Zusammenhang stehenden Bestimmungen auch erfasst werden (VfSlg 13.965/1994 mwN, 16.542/2002, 16.911/2003).
Im Verfahren hat sich nichts ergeben, was am Vorliegen dieser Voraussetzungen zweifeln ließe. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweisen sich die Anträge insgesamt als zulässig.
2. In der Sache
2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art 140 B-VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 12.691/1991, 13.471/1993, 14.895/1997, 16.824/2003). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen verfassungswidrig ist (VfSlg 15.193/1998, 16.374/2001, 16.538/2002, 16.929/2003).
2.2. Die Anträge sind begründet:
2.3. Wie der Verfassungsgerichtshof in VfSlg 20.270/2018 zu § 5 Abs 2 Z 3 WMG, LGBl 38/2010, ausgesprochen hat, ist eine Regelung unsachlich, die einerseits Personen mit dem Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" vom Kreis der Anspruchsberechtigten nach dem WMG ausschließt und andererseits vorsieht, dass Minderjährige mit österreichischer Staatsbürgerschaft nur mittelbar über ihre nach dem WMG anspruchsberechtigten Obsorgeberechtigten versorgt werden können.
2.4. Die am in Kraft getretene, vom Verwaltungsgericht Wien anzuwendende Bestimmung § 5 Abs 2 Z 3 WMG idF LGBl 2/2018 unterscheidet sich in diesem Punkt nicht von der Vorgängerbestimmung (LGBl 38/2010). Gemäß § 1 WMG idF LGBl 2/2018 hat die Bedarfsorientierte Mindestsicherung zum Ziel, Armut und soziale Ausschließung zu bekämpfen; sie dient weiterhin der Beseitigung einer bestehenden Notlage. Vor diesem Hintergrund verfehlt die angefochtene Regelung aber ihren eigentlich Zweck, nämlich die Beseitigung bestehender Notlagen und verletzt sohin den Gleichheitsgrundsatz.
2.5. Wie die Wiener Landesregierung bereits in ihrer Äußerung ankündigt hat, wurde § 5 Abs 2 WMG mit LGBl 22/2020 novelliert:
"6. Personen, die sich rechtmäßig in Österreich aufhalten, nicht unter die Bestimmungen des Abs 3 fallen und für eine minderjährige Person obsorgeberechtigt sind, mit der sie im gemeinsamen Haushalt leben, wenn
a. die minderjährige Person die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt oder
b. die minderjährige Person einen der in Abs 2 Z 1 bis 4 genannten Aufenthaltstitel besitzt."
Diese Novelle lässt zwar den Wortlaut des – nach wie vor idF LGBl 2/2018 geltenden – § 5 Abs 2 Z 3 WMG unberührt, beseitigt aber mit Wirksamkeit ab die unter 2.3. und 2.4. festgestellte Verfassungswidrigkeit des § 5 Abs 2 Z 3 WMG: Die mit der Novelle LGBl 22/2020 eingefügte Bestimmung des § 5 Abs 2 Z 6 WMG, die gemäß § 44 Abs 8 WMG mit in Kraft getreten ist, stellt nunmehr sicher, dass minderjährige Personen, die die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen, auch dann Anspruch auf Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung haben, wenn sie mit Obsorgeberechtigten im gemeinsamen Haushalt leben, die über den Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" verfügen. Es genügt daher festzustellen, dass das Wort "Daueraufenthalt - EU" in § 5 Abs 2 Z 3 WMG idF LGBl 2/2018 bis zum Ablauf des verfassungswidrig war (vgl VfSlg 19.698/2012).
V. Ergebnis
1. Es ist somit festzustellen, dass das Wort "Daueraufenthalt - EU" in § 5 Abs 2 Z 3 WMG idF LGBl 2/2018 bis zum Ablauf des verfassungswidrig war.
2. Die Verpflichtung des Landeshauptmannes von Wien zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches erfließt aus Art 140 Abs 5 B-VG und § 64 Abs 2 VfGG iVm § 138a Abs 1 Z 7 Wiener Stadtverfassung.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Zusatzinformationen
Tabelle in neuem Fenster öffnen
ECLI: | ECLI:AT:VFGH:2020:G15.2020 |
Schlagworte: | Mindestsicherung, Sozialhilfe, Grundversorgung |
Dieses Dokument entstammt dem Rechtsinformationssystem des Bundes.