VfGH vom 18.06.1998, g120/96

VfGH vom 18.06.1998, g120/96

Sammlungsnummer

15193

Leitsatz

Keine Gleichheitswidrigkeit eines Zuschlags zur Alterspension bei Pensionsaufschub nach Erreichung des gesetzlichen Pensionsalters; Bemessung der Höhe aufgrund der nicht in Anspruch genommenen Alterspension; Vereinfachung der Pensionsberechnung; keine unbedingte Anknüpfung an vor der Erreichung des Pensionsalters erworbene Versicherungszeiten

Spruch

Der Antrag wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. Das Oberlandesgericht Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen stellt mit Beschluß vom den Antrag, der Verfassungsgerichtshof wolle aussprechen, daß die Wortfolge "..., die nach den am Stichtag der erhöhten Alterspension in Geltung gestandenen Rechtsvorschriften mit Beginn des Pensionsaufschubes gebührt hätte" in § 143 Abs 1 GSVG idF BGBl. Nr. 643/1989 verfassungswidrig war.

1.2. § 143 GSVG idF BGBl. Nr. 643/1989 - die angefochtene Wortfolge ist hervorgehoben - lautet wie folgt:

"§143. (1) Anspruch auf die erhöhte Alterspension hat der Versicherte, der die Alterspension gemäß § 130 Abs 1 erst nach Erreichung des Anfallsalters in Anspruch nimmt, wenn er die Wartezeit nach den am Stichtag der erhöhten Alterspension in Geltung gestandenen Rechtsvorschriften erfüllt hat und keine Alterspension gemäß § 130 Abs 3 bzw. Abs 4 bezieht. Die Erhöhung beträgt für je weitere zwölf Versicherungsmonate des Pensionsaufschubes

vom 61. bis zum 65. Lebensjahr .................. 2 v. H.,

vom 66. bis zum 70. Lebensjahr .................. 3 v. H.,

vom 71. Lebensjahr an ........................... 5 v. H.

der Alterspension gemäß § 130 Abs 1, die nach den am Stichtag der erhöhten Alterspension in Geltung gestandenen Rechtsvorschriften mit Beginn des Pensionsaufschubes gebührt hätte.

(2) Für die Berechnung der Alterspension gemäß § 139 sind auch die nach der Erreichung des Anfallsalters erworbenen Versicherungszeiten heranzuziehen."

1.3. Im Antrag des Oberlandesgerichtes Wien wird ausgeführt, daß die 1905 geborene Klägerin nach Vollendung des 60. Lebensjahres bis Juni 1992 selbständig erwerbstätig gewesen sei. Dabei sei sie der Versicherungspflicht nach den Bestimmungen des GSVG unterlegen. Mit Antrag vom habe sie die Gewährung der Alterspension beantragt. Mit Bescheid vom sei ihr eine Alterspension in der Höhe von S 12.539,60 für die Zeit vom bis und von S 13.041,20 ab monatlich zuerkannt worden. Der beklagte Sozialversicherungsträger sei dabei von 483 Monaten, zuzüglich einer Bonifikation für 27 Jahre des Pensionsaufschubes ausgegangen. Die Höhe der Bonifikation habe der Sozialversicherungsträger nach den Bestimmungen des § 143 Abs 1 GSVG mit S 649,80 monatlich errechnet.

Im Berufungsverfahren sei nur mehr strittig, ob die Bonifikation in der vom beklagten Pensionsversicherungsträger errechneten Höhe richtig ermittelt worden sei. Die Klägerin vertrete die Ansicht, daß sich die Bemessung der Bonifikation nicht an der Pensionshöhe zum Zeitpunkt der möglichen Inanspruchnahme der Alterspension, sondern am Zeitpunkt des tatsächlichen Pensionseintrittes zu orientieren habe. Der beklagte Sozialversicherungsträger habe dies bestritten und ausgeführt, daß die Bonifikation entsprechend den Bestimmungen des § 143 GSVG festgestellt worden sei.

Das Oberlandesgericht Wien ging davon aus, daß für die sachliche Erledigung der bei ihm vorliegenden Berufung die Gesetzesbestimmung des § 143 Abs 1 GSVG idF BGBl. Nr. 643/1989 präjudiziell sei.

1.4.1. Das Oberlandesgericht Wien hegt zunächst das Bedenken, daß die angefochtene Bestimmung gegen den Gleichheitsgrundsatz der Bundesverfassung verstößt. Hiezu wird im wesentlichen ausgeführt:

"Die Versicherten, die nach dem 60igsten Lebensjahr ihr Gewerbe zurücklegen und erst dann die Pension erlangen können, sind ... keinesfalls unter dem Aspekt allfälliger Härtefälle (vgl. etwa VfSlg. 8942) zu betrachten, sondern als eine zur Beurteilung des Systems der Zuerkennung und Bemessung der Alterspension maßgebliche Personengruppe. Diese Personengruppe hat auch nach dem 60igsten Lebensjahr im Regelfall zwingende Pensionsbeiträge in gleicher Höhe zu leisten. Es ist der Gesetzgeber bei der funktionellen Zuordnung davon ausgegangen, daß nach Erreichung des Anfallsalters die den jeweiligen Versicherungszeiten zugeordneten Steigerungsbeiträge zu erhöhen sind. Er hat also zwei Systeme der funktionellen Zuordnung geschaffen. Die sachliche Rechtfertigung dieser Annahme ergibt sich schon aus der einfachen Überlegung, daß mit einem wesentlich späteren Anfall der Pension auch deren Bezugsdauer verringert wird. Dabei handelt es sich um keine versicherungsmathematische Zuordnung, sondern um eine funktionelle Verknüpfung. ...

Der Gesetzgeber sieht die Personengruppe, die im Hinblick auf ihre weiter bestehende Erwerbstätigkeit erst nach dem 60igsten Lebensjahr eine Alterspension erlangen kann, als eine zu berücksichtigende Gruppe an. Er sieht jedoch bei der für diese Personengruppe vorgenommenen funktionellen Zuordnung, dadurch daß er nur die Pension zum 60igsten Lebensjahr für die Steigerung nach § 143 GSVG heranzieht für die Versicherungsmonate bis zum Erreichen des 60igsten Lebensjahres je 12 Versicherungsmonate einen Steigerungsbetrag von 1,9 bzw. 1,5 % zuzüglich der in § 143 Abs 1 vorgesehenen Erhöhung vor, während er für die Versicherungsmonate nach dem 60igsten Lebensjahr nur den Hundertsatz von 1,9 bzw. 1,5 % festlegt. Für diese Differenzierung kann jedoch eine sachliche Rechtfertigung nicht gesehen werden. Daß die Bestimmung des jeweiligen Erhöhungszuschlages auf die nach dem 60igsten Lebensjahr weiter erworbenen Versicherungsmonate abstellt, verknüpft die für die Verschlechterung der Bezugsdauer zuerkannte Erhöhung auch noch mit der Voraussetzung der Zugehörigkeit zur Versichertengemeinschaft.

Im Ergebnis läuft die Regelung darauf hinaus, daß Versicherte nach dem GSVG, die ihre selbständige Tätigkeit etwa erst ab dem 61. Lebensjahr beginnen und danach dann alle Voraussetzungen für eine Alterspension erfüllen, diese auch im Alter von 80 Jahren ohne jegliche Erhöhung des Steigerungsbetrages von 1,9 % für je 12 Versicherungsmonate, erhalten. Gerade ausgehend von den ... Annahmen des Gesetzgebers, der einerseits von der Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten auch im fortgeschrittenen Alter ausgeht und andererseits trotz Vorliegens einer Pflichtversicherung und Abfuhr der entsprechenden Beiträge eine Pensionsleistung erst nach Aufgabe dieser Erwerbstätigkeiten einräumt, kann dafür jedoch keine sachliche Rechtfertigung gesehen werden. Die hier vom Gesetzgeber vorgenommenen Zuordnungen sind so eindeutig, daß sich auch aus dem neben dem Versicherungsprinzip grundsätzlich anzuerkennenden Versorgungsgedanken des Sozialversicherungsrechtes (vgl. zu den Problemen der Vermengung etwa Zapotoczky, ZAS 1987, 195) keine Berechtigung für diese Schlechterstellung abgeleitet werden kann. Das vom Gesetzgeber gestaltete System der funktionellen Zuordnung von Beiträgen und Steigerungsbeträgen vor dem 60igsten Lebensjahr stellt eindeutig auf einen Pensionsbeginn mit dem 60igsten Lebensjahr ab. Das System der funktionellen Zuordnung von Beiträgen und Steigerungsbeträgen für Zeiten nach dem 60igsten Lebensjahr sieht höhere Steigerungsbeträge vor (geringere Bezugsdauer der Pension), macht dies jedoch vom Erwerb von Zeiten vor dem 60igsten Lebensjahr abhängig, indem sie nur diese aufwertet.

Die Differenzierung zwischen der Bemessung des Steigerungsbetrages für Zeiten vor dem 60. Lebensjahr und nach dem 60. Lebensjahr, die Versicherungsmonate nach dem 60. Lebensjahr trotz der zu erwartenden kurzen Bezugsdauer der Pension schlechter bewertet als die davor erworbenen Versicherungsmonate, führt zur Benachteiligung von Versicherten, die überwiegend in diesem Lebensabschnitt tätig sind oder - auch etwa zum Erwerb der Wartezeit - sein müssen. Sie verstößt also unabhängig vom verfassungsrechtlich anzuerkennenden Grundsatz, daß Pensionen erst nach Aufgabe der Erwerbstätigkeit gebühren, als sachlich ungerechtfertigt gegen den auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitsgrundsatz.

..."

1.4.2. Darüber hinaus hegt das Oberlandesgericht Wien das Bedenken, daß die angefochtene Wortfolge gegen das verfassungsgesetzlich geschützte Recht auf Unversehrtheit des Eigentums verstoße. Hiezu wird im wesentlichen vorgebracht:

"Hier zu beurteilen ist, ob auch die Ansprüche aus der Zugehörigkeit zur Solidaritätsgemeinschaft als vermögenswerte Privatrechte eingestuft werden können. Dies wird ganz allgemein für den Schutz nach Art 1 ZP MRK für öffentlich-rechtliche Ansprüche, die durch eigene Leistungen des Anspruchsberechtigten begründet werden, vom Gerichtshof für Menschenrechte bejaht (vgl. Frowein-Peukert, 260f). ...

Beachtenswert erscheint ..., daß auch nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes bereits bisher die Berechtigung der Beitragszahlungen anhand ihres funktionellen Zusammenhangs mit dem Leistungsverhältnis geprüft wurde (vgl. insbesondere VfSlg. 10100/1984 aber auch ). Insgesamt kann die Pensionsversicherung nach dem GSVG wohl als System verstanden werden, bei dem dem Eingriff in die privatrechtliche Dispositionsbefugnis des Versicherten durch die abzuführenden Beiträge der Leistungsanspruch gegen die Risikogemeinschaft gegenübersteht. Die formelle Trennung zwischen Leistungsverhältnis und Versicherungsverhältnis wurde also schon bisher von der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes bei Prüfung der Grundrechtseingriffe nicht als maßgeblich erachtet. Insgesamt könnte daher der Leistungsanspruch im Hinblick auf den funktionellen - wenn auch nicht versicherungsmathematischen - Zusammenhang mit der aus dem Privatvermögen des Versicherten erfolgten Beitragsentrichtung auch als Fortwirkung dieser Privatrechte im Rahmen der Risikogemeinschaft, angesehen werden.

Dabei kann natürlich nicht an dem Umstand vorbeigegangen werden, daß der Sozialversicherung auch der Versorgungsgedanke zu eigen ist und wesentliche Bundeszuschüsse erfolgen. Trotzdem könnte gerade im Hinblick auf die immer wieder monierten Unklarheiten durch die Vermengung von Versorgungs- und Versicherungsprinzip (vgl. Zapotoczky aaO) und dem gerade in diesem Bereich bestehenden Bedürfnis nach gesicherten, dem einzelnen zuordenbaren vermögenswerten Rechtspositionen diese Rechtsposition als dem Grundgedanken des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes übereinstimmend anerkannt werden. Dies änderte nichts daran, daß schon im Hinblick auf die genannten Grundprinzipien des Sozialversicherungsrechtes und die wesentlichen Bundeszuschüsse Änderungen in diesem Umfang wohl weitgehend als zulässig anzusehen wären.

Auch die formelle Einordnung dieser Leistungsansprüche steht dem Schutz als vermögenswertes Privatrecht nicht zwingend entgegen. Gerade die Leistungsansprüche aus der Pensionsversicherung nach dem GSVG können letztlich als Sozialrechtssachen nach § 65 ASGG gerichtlich gegen den leistungsverpflichteten Sozialversicherungsträger geltend gemacht werden. Dieser ist also nicht anders gestellt als etwa ein Unterhaltsverpflichteter. Dadurch und auch durch die Bezugnahme auf eine eigene Versichertengemeinschaft unterscheiden sich diese sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche von öffentlichrechtlichen Ansprüchen (vgl. etwa VfSlg. 6361/1971), bei denen ein Grundrechtsschutz durch Art 5 StGG verneint wurde.

Ausgehend davon können aber auch Leistungsansprüche auf Pensionen nach dem GSVG vom verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unverletzlichkeit des Eigentums umfaßt werden. Ihre Beurteilung kann wiederum nur gemeinsam mit den Beitragsleistungen und der anerkannten funktionellen Verknüpfung beurteilt werden.

Ein Verstoß gegen den Schutz des Eigentumsrechtes ist nun darin zu sehen, daß eine Grundlage für die Einschränkung dieser funktionellen Verknüpfung für Versicherungszeiten nach dem 60. Lebensjahr zum 'allgemeinen Besten' nicht besteht (vgl. VfSlg. 10354/1985 mwN). Dies insbesondere auch deshalb, da daraus keine arbeitsmarktpolitischen Effekte erzielt werden können (vgl. im Zusammenhang VfSlg. 12592/1990), sondern viel eher offensichtlich angestrebt wird, daß die Versicherten länger den Pensionsbeginn hinausschieben und erwerbstätig werden. Gerade aber für diese Monate sollen sie einen geringeren Steigerungsbetrag erhalten. Auch wären allfällige als Grundlage für diese Einschränkungen geltend gemachten rechtspolitischen Ziele wohl an ihrer Vereinbarkeit mit anderen verfassungsrechtlichen Grundwertungen, etwa der Erwerbsfreiheit nach Art 6 StGG, zu prüfen.

Die mangelnde Berechtigung des Eigentumseingriffs kann auch nicht nur auf das Beitragsverfahren eingeschränkt werden, da ja keine grundsätzlichen Bedenken gegen dessen Ausgestaltung und den Umfang des Pensionsversicherungssystems bestehen, sondern nur gegen die Einschränkung der funktionellen Verknüpfung für Beitragszeiten nach dem 60igsten Lebensjahr."

2. Die Bundesregierung hat eine umfangreiche Äußerung erstattet, in der sie den Antrag stellt, der Verfassungsgerichtshof wolle aussprechen, daß die bekämpfte Wortfolge in § 143 Abs 1 GSVG nicht verfassungswidrig war.

3. Auch die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft hat als mitbeteiligte Partei eine Äußerung erstattet, in der sie dem Antrag des Oberlandesgerichtes Wien entgegentritt.

4. Die Klägerin des gerichtlichen Verfahrens hat als mitbeteiligte Partei eine Äußerung erstattet, in der sie den Antrag stellt, der Verfassungsgerichtshof wolle dem Antrag des Oberlandesgerichtes Wien Folge geben. Ihren Ausführungen ist die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft in einer Gegenäußerung entgegengetreten.

5. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

5.1. Zur Zulässigkeit des Antrages:

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf ein Antrag eines (zur Antragstellung befugten) Gerichtes mangels Präjudizialität nur dann zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, daß die angefochtene Gesetzesstelle vom antragstellenden Gericht im Anlaßfall anzuwenden ist (vgl. zB VfSlg. 10066/1984, 11576/1987, 12947/1991, 13634/1993 und 14466/1996).

Im Verfahren ist nichts hervorgekommen, was den Verfassungsgerichtshof daran zweifeln ließe, daß das antragstellende Gericht § 143 Abs 1 GSVG idF BGBl. Nr. 643/1989 anzuwenden hat. Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist der Antrag zulässig.

5.2. In der Sache selbst:

Festzuhalten ist zunächst, daß sich der Verfassungsgerichtshof in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art 140 B-VG auf die Erörterung der aufgeworfenen Fragen zu beschränken hat (vgl. zB VfSlg. 12592/1990, 12691/1991, 12947/1991, 13471/1993, 13704/1994 und 14466/1996). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtenen Bestimmungen aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen verfassungswidrig sind.

5.2.1. § 143 Abs 1 GSVG idF BGBl. Nr. 643/1989 enthält eine Ergänzung der in § 139 leg.cit. enthaltenen grundlegenden Regelung über das Ausmaß der Alterspension. § 143 leg.cit. ist anzuwenden, wenn der Versicherte die Alterspension erst nach Erreichung des Anfallsalters in Anspruch nimmt und bestimmte zusätzliche Voraussetzungen erfüllt, nämlich die Erfüllung der Wartezeit nach den am Stichtag der erhöhten Alterspension in Geltung gestandenen Rechtsvorschriften sowie den Nichtbezug einer Alterspension gemäß § 130 Abs 3 bzw. Abs 4 leg.cit. Maßgeblich ist also, ob der Versicherte die materiellen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Alterspension nach § 130 GSVG zu einem bestimmten Zeitpunkt erfüllt, diese Pension aber - aus welchen Gründen auch immer - nicht in Anspruch genommen hat.

5.2.2. Die in § 143 GSVG idF BGBl. Nr. 643/1989 vorgesehene Bonifikation erweist sich somit als ein Pensionsbestandteil, mit dem der Versicherte für den Aufschub einer ihm an sich bereits zustehenden Alterspension honoriert werden soll. Der Gesetzgeber wollte (vgl. 343 BlgNR VIII. GP zu § 82 GSPVG, der Vorläuferbestimmung der bekämpften Regelung) Gewerbetreibenden, die ihre Erwerbstätigkeit häufig auch noch dann ausüben, wenn sie sämtliche (sonstige) Voraussetzungen für die Zuerkennung einer Alterspension erfüllt haben, einen Anreiz bieten, die an sich bereits zustehende Altersrente erst später in Anspruch zu nehmen.

5.3. Die Bedenken des Oberlandesgerichtes Wien gründen sich auf den Gleichheitssatz, aber auch auf das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Unversehrtheit des Eigentums.

5.3.1. Die in bezug auf den Gleichheitssatz erhobenen Bedenken des Oberlandesgerichtes Wien gründen sich auf die Überlegung, es würde die Bonifikation des § 143 Abs 1 GSVG zwar zu den bis zum Erreichen des 60. Lebensjahres zurückgelegten Versicherungszeiten (zuzüglich zum dafür gebührenden Steigerungsbetrag von 1,9 bzw. 1,5 % für je 12 Versicherungsmonate) gewährt, nicht aber zu nach Vollendung des 60. Lebensjahres erworbenen Versicherungszeiten.

5.3.1.1. § 143 Abs 1 GSVG sieht keinen Zuschlag zu den vor dem 60. Lebensjahr erworbenen Versicherungszeiten vor, sondern gewährt unter den schon genannten weiteren Voraussetzungen, nämlich, daß bei Erreichen des 60. Lebensjahres ein Anspruch auf Alterspension bestanden hat und dieser nicht in Anspruch genommen wurde, für je weitere 12 Versicherungsmonate des Pensionsaufschubes einen nach dem Lebensalter gestaffelten Zuschlag ("Erhöhung") zu den während des Pensionsaufschubes (also nach Vollendung des 60. Lebensjahres) erworbenen Versicherungsmonaten.

Der erwähnte Zuschlag bemißt sich nach der (fiktiven) Höhe der nicht in Anspruch genommenen Alterspension, also gerade jener Leistung, welche sich die Versichertengemeinschaft zufolge der Nichtinanspruchnahme erspart. Der Verfassungsgerichtshof kann weder finden, daß eine solche Bonifikation an sich, noch, daß die Anknüpfung an die Höhe der aufgeschobenen Alterspension unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet. Ebensowenig ist es verfassungswidrig, daß die fiktive Höhe der Alterspension, von welcher sich die Erhöhung bemißt, nach den am Stichtag der erhöhten Alterspension (und nicht nach den am fiktiven Stichtag der nicht in Anspruch genommenen Alterspension) in Geltung gestandenen Rechtsvorschriften bemessen wird: Damit wird nämlich insoweit eine wesentliche Vereinfachung der Pensionsberechnung erreicht, als nicht frühere, oft länger zurückliegende Rechtslagen ermittelt werden müssen (wie dies gerade im Falle der Klägerin des Verfahrens vor dem antragstellenden Gericht der Fall wäre - vgl. zur Begründung dieser mit der 22. Novelle zum GSPVG, BGBl. Nr. 24/1974, gegenüber der Stammfassung der Vorläuferbestimmung - des § 82 GSPVG - vorgenommenen Änderung der Berechnungsart die Erläuterungen zur RV 966 BlgNR XIII. GP, 5, welche auf die Erläuterungen zur gleichartigen Bestimmung des § 261 b ASVG in der Fassung der 30. ASVG-Novelle verweisen, sowie die RV zur 30. ASVG-Novelle, 965 BlgNR XIII. GP, 20).

5.3.1.2. § 143 Abs 1 GSVG ist daher der ihm vom Oberlandesgericht Wien zugemessene und als verfassungswidrig angesehene Inhalt nicht zu entnehmen.

Auch die vom Oberlandesgericht Wien auf der Grundlage der genannten Prämisse aus dieser Regelung gezogene (und nach seiner Auffassung ebenfalls zur Verfassungswidrigkeit der bekämpften Regelung führende) Schlußfolgerung, daß "Versicherte nach dem GSVG, die ihre selbständige Tätigkeit etwa erst ab dem 61. Lebensjahr beginnen und danach dann alle Voraussetzungen für eine Alterspension erfüllen, diese auch im Alter von 80 Jahren ohne jegliche Erhöhung des Steigerungsbetrages ... erhalten", trifft nicht zu: Das Oberlandesgericht Wien geht bei seinem Beispiel von einem extremen (hier im übrigen gar nicht vorliegenden) Sonderfall aus, nämlich von einem Versicherten, der "ab dem 61. Lebensjahr" erstmals selbständig erwerbstätig wird und auch vorher keine - oder zumindest nicht in der für die Alterspension erforderlichen Mindestdauer - Versicherungszeiten in einer gesetzlichen Pensionsversicherung erworben hat, deren Zusammenrechnung (vgl. § 129 Abs 7 GSVG) einen Alterspensionsanspruch bzw. dessen Nichtinanspruchnahme zum Aufschubszeitpunkt ergeben (und einen Anspruch auf die Bonifikation verschaffen) würden. Gerade darin liegt aber der wesentliche sachliche Unterschied zu jenem Fall, den § 143 Abs 1 GSVG im Auge hat: Wenn jemand noch keinen Alterspensionsanspruch erworben hat, kommt auch ein Aufschub nicht in Betracht, weshalb es in einem solchen Fall an der für die Anwendung der bekämpften Regelung wesentlichen - und schon zuvor als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehenen - Grundlage fehlt.

5.3.1.3. Sollten die Bedenken des Oberlandesgerichts Wien aber so zu verstehen sein, daß es auch in einem solchen Sonderfall (Erwerb von Versicherungszeiten in einer gesetzlichen Pensionsversicherung überwiegend oder überhaupt erst nach "dem 61. Lebensjahr") verfassungswidrig sei, dem Versicherten nach einem allfälligen späteren Erwerb der Anspruchsvoraussetzungen für die Alterspension die Bonifikation zu verwehren, so vermag der Verfassungsgerichtshof auch dieser Überlegung des antragstellenden Gerichtes nicht zu folgen. § 143 Abs 1 GSVG hat nämlich keinen solchen Inhalt: Wie schon aus dem Wortlaut dieser Bestimmung zweifelsfrei hervorgeht, ist Voraussetzung für die erhöhte Alterspension, daß sie erst nach Erreichung des Anfallsalters in Anspruch genommen wird (dies läge in dem vom Oberlandesgericht Wien genannten Fall vor), daß die Wartezeit nach den am Stichtag der erhöhten Alterspension (also am Stichtag der tatsächlichen Inanspruchnahme) geltenden Rechtsvorschriften erfüllt ist (auch das läge im Beispiel bei Erwerb von 180 Versicherungsmonaten ab Vollendung des 76. Lebensjahres vor) sowie daß keine Alterspension bezogen wird und daher (arg. zweiter Satz des § 143 Abs 1 GSVG) ein Pensionsaufschub vorliegt. Diese Bestimmung ist daher auch in einem Fall anzuwenden, in dem die Erfüllung der Wartezeit für die Alterspension und damit der Beginn des Pensionsaufschubes erst nach Vollendung des 60. Lebensjahres eintreten. Eine Auslegung dahin, daß § 143 Abs 1 GSVG das Bestehen eines Pensionsanspruches spätestens im Zeitpunkt des Anfallsalters (also der Vollendung des 60. bzw. 65. Lebensjahres) voraussetzte, läßt sich der genannten Bestimmung weder zwingend entnehmen, noch liegt eine solche Auslegung nahe (wenngleich im Regelfall zu diesem Zeitpunkt ein Pensionsanspruch bestehen wird), stellt doch der bekämpfte Satzteil des § 143 Abs 1 GSVG nicht auf ein bestimmtes Lebensalter, sondern auf den "Beginn des Pensionsaufschubes" ab. Es kann daher nicht die Rede davon sein, daß die Erhöhung unter allen Umständen vom "Erwerb von Zeiten vor dem 60. Lebensjahr abhängig" gemacht wird.

5.3.1.4. Auch aus dem Beginn der Staffelung der Erhöhung mit dem 61. Lebensjahr läßt sich kein anderes Ergebnis gewinnen, zumal diese Staffelung sich zwar am frühestmöglichen Aufschubszeitpunkt orientiert, es aber nicht ausschließt, daß sich im Falle eines späteren Beginns des Aufschubes der Inanspruchnahme der Alterspension die Erhöhung nach dem für Versicherungszeiten im jeweiligen Lebensalter normierten Prozentsatz bemißt.

5.3.2. Die vom Oberlandesgericht Wien vorgebrachten Gleichheitsbedenken treffen somit nicht zu.

5.3.3. Das Oberlandesgericht Wien hegt gegen die angefochtene Regelung weiters das Bedenken, daß diese mit dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unversehrtheit des Eigentums unvereinbar sei. Es vertritt dabei die Auffassung, daß vom Schutzbereich dieses Grundrechts auch "Leistungsansprüche auf Pensionen nach dem GSVG ... umfaßt werden" könnten. Eine Verletzung dieses Grundrechts liege darin, daß "eine Grundlage für die Einschränkung dieser funktionellen Verknüpfung (zwischen der Höhe der Beiträge und der Höhe der Versicherungsleistung) für Versicherungszeiten nach dem 60. Lebensjahr zum 'allgemeinen Besten' nicht besteht."

5.3.3.1. Auch dieses Bedenken trifft schon aus folgenden Gründen nicht zu:

Wenn das Oberlandesgericht Wien von einer "Einschränkung (der) funktionellen Verknüpfung für Versicherungszeiten nach dem 60. Lebensjahr" spricht, so meint es offenbar das gleiche wie zuvor in den Ausführungen zu den gleichheitsrechtlichen Bedenken, nämlich die seiner Meinung nach gegebene ungünstigere Bewertung von nach Vollendung des 60. Lebensjahres erworbenen Versicherungszeiten im Verhältnis zu vor diesem Zeitpunkt erworbenen Versicherungszeiten. Da diese Auffassung aber - wie dargelegt - auf einem offenkundigen Mißverständnis über den normativen Gehalt der angefochtenen Regelung beruht, genügt es, dazu auf die vorstehenden Ausführungen zu verweisen.

Es kann daher aus dem Blickwinkel der Bedenken des Oberlandesgerichtes Wien auf sich beruhen, ob Pensionsansprüche (oder Anwartschaften auf solche Ansprüche) den Schutz des Art 1 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK genießen (vgl. zum Schutzumfang dieser Verfassungsbestimmung jüngst ua. betreffend Ansprüche auf Notstandshilfe), weil durch die angegriffene Regelung in solche Ansprüche gar nicht eingegriffen wird.

5.4. Der Antrag des Oberlandesgerichtes Wien auf Aufhebung von Teilen des § 143 Abs 1 GSVG idF BGBl. Nr. 643/1989 erweist sich sohin zur Gänze als nicht begründet. Er war daher abzuweisen.

5.5. Dies konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.