TEL.: +43 1 246 30-801  |  E-MAIL: support@lindeverlag.at
Suchen Hilfe
VfGH vom 12.10.2000, g112/98

VfGH vom 12.10.2000, g112/98

Sammlungsnummer

15985

Leitsatz

Aufhebung einer die Versehrtenrente betreffenden Bestimmung des ASVG über das Bestehen eines Anspruches auf eine Gesamtrente infolge zweier oder mehrerer Arbeitsunfälle nur bei einer durch die jeweils letzte Schädigung allein verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 10 Prozent wegen Widerspruchs zum Gleichheitssatz

Spruch

I. Die Wortfolge "und beträgt die durch diese neuerliche Schädigung allein verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit mindestens 10 vH" in § 210 Abs 1 erster Satz des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes, BGBl. Nr. 189/1955 idF des ArtIII Z 6 der 41. Novelle zum Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz, BGBl. Nr. 111/1986, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist verpflichtet, diese Aussprüche unverzüglich im Bundesgesetzblatt I kundzumachen.

II. Im übrigen wird der Antrag abgewiesen.

III. Kosten werden nicht zugesprochen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.1. § 210 Abs 1 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. 1955/189, lautete (samt Überschrift) in seiner Stammfassung wie folgt:

"Entschädigung aus mehreren Versicherungsfällen

§210. (1) Wird ein Versehrter neuerlich durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit geschädigt und beträgt die durch diese neuerliche Schädigung allein verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit mindestens 10 v. H., so ist die Entschädigung aus diesen mehreren Versicherungsfällen nach Maßgabe der Abs 2 bis 4 festzustellen, sofern die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit auch nach allfälliger Berücksichtigung einer Beschädigung nach dem Kriegsopferversorgungsgesetz 20 v. H. erreicht.

..."

1.2. Durch ArtIII Z 6 der 41. ASVG-Novelle, BGBl. 1986/111, wurde der erste Satz im § 210 Abs 1 ASVG wie folgt neu gefaßt (die angefochtene Wortfolge ist hervorgehoben):

"Wird ein Versehrter neuerlich durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit geschädigt und beträgt die durch diese neuerliche Schädigung allein verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit mindestens 10 vH, so ist die Entschädigung aus diesen mehreren Versicherungsfällen nach Maßgabe der Abs 2 bis 4 festzustellen, sofern die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit 20 vH (bei den nach § 8 Abs 1 Z 3 lith und i teilversicherten Schülern und Studenten, ferner bei Mitberücksichtigung einer Berufskrankheit im Sinne des § 177 Abs 2 50 vH) erreicht."

2. Das Oberlandesgericht Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen beantragt aus Anlaß eines bei ihm anhängigen Verfahrens gemäß Art 89 Abs 2 zweiter Satz B-VG, der Verfassungsgerichtshof möge die oben bezeichnete Wortfolge in § 210 Abs 1 erster Satz ASVG idF der 41. Novelle, BGBl. 1986/111, als verfassungswidrig aufheben.

2.1. Zum Sachverhalt des beim antragstellenden Gericht anhängigen Verfahrens wird im wesentlichen folgendes ausgeführt:

Der Kläger sei ua. in den Jahren 1990 und 1995 als selbständiger Schlossermeister pflichtversichert erwerbstätig gewesen. Er habe sich am und am - jeweils in Ausübung der versicherten Tätigkeit - einen Riß der langen Bizepssehne mit Verlagerung des Bizepsmuskelbauches und einen Rotatorenmanschettenriß im rechten Schultergelenk zugezogen. Die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt als leistungszuständiger Unfallversicherungsträger und nunmehrige beklagte Partei habe jedoch dem Ereignis vom die Eigenschaft eines Unfallgeschehens abgesprochen und das Ereignis vom als Arbeitsunfall anerkannt, der allerdings keine zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit führenden Folgen gehabt habe. Demgemäß habe die beklagte Partei am zwei Bescheide erlassen, mit welchen die Erbringung von Leistungen abgelehnt worden sei.

Das in weiterer Folge angerufene Landesgericht Klagenfurt als erstinstanzliches Sozialgericht habe dem Kläger hingegen ab wegen der Folgen der Arbeitsunfälle vom und vom eine Versehrtenrente von 20 vH der Vollrente als Gesamtrente zugesprochen. Es habe beide Ereignisse rechtlich als Arbeitsunfälle mit einer Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH qualifiziert. Nach Ansicht des Erstgerichts fehle eine gesetzliche Regelung, was zu geschehen habe, wenn die aus mehreren Versicherungsfällen stammenden Schädigungen nicht getrennt ermittelbar seien; § 210 ASVG könne im Zusammenhalt mit § 203 ASVG nur so verstanden werden, daß eine Versehrtenrente von 20 vH auch zuzusprechen sei, wenn eine Unfallsfolgentrennung nicht möglich sei, zumal dieselbe Körperstelle betroffen sei.

Die beklagte Partei habe dieses Urteil mit Berufung an das antragstellende Gericht bekämpft, worin sie im wesentlichen ausgeführt habe, gemäß § 210 ASVG sei eine Gesamtrentenbildung nur vorzunehmen, wenn die Schädigung durch den letzten Versicherungsfall - bei einer Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 vH - mindestens eine solche Minderung von 10 vH erreiche; dies sei hier jedoch nicht gegeben.

2.2. Das antragstellende Gericht zieht in Betracht, daß es die Regelung des § 210 Abs 1 ASVG über die Voraussetzungen für die Bildung einer Gesamtrente aus mehreren Versicherungsfällen anzuwenden habe, wie dies schon vom Landesgericht Klagenfurt angenommen worden sei; es hegt jedoch gegen die Anwendung der zuvor angeführten Gesetzesstelle aus folgenden Gründen verfassungsrechtliche Bedenken (Hervorhebungen jeweils im Original):

"Die gesetzliche Unfallversicherung hat unter anderem die Aufgabe, Entschädigung nach Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten zu leisten (§172 Abs 1 Satz 1 ASVG). Die Entschädigungsleistung ist in Form einer Versehrtenrente zu erbringen, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch die Folgen eines Arbeitsunfalles oder (gemeint wohl: und/oder) einer Berufskrankheit über drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalles hinaus um mindestens 20 vH vermindert ist (§203 Abs 1 ASVG).

§ 210 Abs 1 Satz 1 ASVG idF der 41. Novelle, BGBl 111/19(8)6, lautet nun:

'Wird ein Versehrter neuerlich durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit geschädigt und beträgt die durch diese neuerliche Schädigung allein verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit mindestens 10 vH, so ist die Entschädigung aus diesen mehreren Versicherungsfällen nach Maßgabe der Absätze 2 bis 4 festzustellen, sofern die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit 20 vH ... erreicht.'

Ergebnis dieser Gesetzeslage (§§203 und 210 ASVG) ist, daß bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH eine Entschädigung in Form einer Versehrtenrente zusteht, wenn diese Folgen aus einem Versicherungsfall stammen oder aus mehreren Versicherungsfällen stammen, deren letzter für sich eine Minderung von 10 vH zur Folge hatte, daß aber eine Entschädigung in Form einer Versehrtenrente nicht zusteht, wenn die identen Folgen des Versicherungsfalles, eventuell sogar am selben Körperteil, aus mehreren Versicherungsfällen stammen und dem letzten dieser Versicherungsfälle erwiesenermaßen keine (zusätzliche) Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 10 vH zuzuordnen ist, oder vom Versehrten nicht erwiesen werden kann, welcher Teil der Gesamtminderung aus den einzelnen Versicherungsfällen resultiert.

Die - in § 210 Abs 1 Satz 1 ASVG legalisierte - Unterscheidung, daß - bei gleicher Versicherungsfallfolge - für das Zustehen einer Entschädigungsleistung in Form einer Versehrtenrente nur ein Versicherungsfall vorliegen dürfe oder - bei mehreren Versicherungsfällen - der letzte mit einer bestimmten Mindestminderung verbunden sein müsse, das Vorliegen mehrerer Versicherungsfälle mit einem Letztfall einer 10 vH nicht erreichenden MdE hingegen eine solche Entschädigungsleistung ausschlösse, ist sachlich nicht gerechtfertigt. Auf seine sachliche Rechtfertigung zu beurteilender Gegenstand der Entschädigungsleistung ist nicht die Art und Weise, wie es zum entschädigungsbedürftigen Zustand gekommen ist, sondern daß ein entschädigungsbedürftiger und welcher entschädigungsbedürftige Zustand letztlich gegeben ist und wie sich dieser auf die Einsatzfähigkeit des Versehrten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auswirkt.

Die geltende Fassung des § 210 Abs 1 Satz 1 ASVG stammt in ihrer hier aufgegriffenen Passage aus dem Stammtext des Gesetzes. Die erläuternden Bemerkungen (599 der Beilagen VII GP) geben keinen Aufschluß über das Motiv dieser Verschiedenbehandlung. Vielmehr sollte, so wird ausgeführt, die Entschädigung nach mehreren Versicherungsfällen auf die verwaltungsmäßig einfachste und sicherlich auch dem Anspruchsberechtigten zusagendste Art, nämlich durch die Zusammenziehung der Versicherungsfälle zu einem Entschädigungsfall, gelöst werden. Diesem Vorhaben widerspricht es allerdings, wenn das Vorliegen eines Versicherungsfalles gegenüber dem Vorliegen mehrerer Versicherungsfälle privilegiert bzw einer der mehreren Versicherungsfälle, nämlich der letzte, bei zu geringer Einzelminderung - anders als die Vorunfälle - aus der Betrachtung ausgenommen sein soll. Man ging offenbar von der deutschen Vorgängerbestimmung (§559 a RVO bzw § 581 Abs 3 Satz 2 RVO idF des Versicherungsneuregelungsgesetzes) aus, wonach die Folgen eines jeden Arbeitsunfalles bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von unter 10 vH mangels Meßbarkeit nicht zu berücksichtigen seien, und suchte - in Form eines Kompromisses - trotzdem eine Möglichkeit der Berücksichtigung des Erfahrungswertes, daß eine Summierung von Minimalfolgen letztlich auch zu einer meßbaren Minderung führen kann. Dieser Kompromiß hat die - schon nach der RVO bei Vorliegen einerseits eines Arbeitsunfalles/Berufskrankheit und andererseits dem Vorliegen mehrerer Arbeitsunfälle/Berufskrankheiten vorzunehmende - Ungleichbehandlung gleich Versehrter nicht beseitigt, sondern um einen weiteren Anwendungsfall, nämlich den des Zusammentreffens mehrerer Arbeitsunfälle/Berufskrankheiten mit verschiedenen Erwerbsfähigkeitsminderungen, bereichert. Der Gesetzgeber geht sichtlich von der Vorstellung aus, auch eine geringfügige Unfallsfolge, die nicht mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 10 vH bewertet werden könne, sei für sich meßbar, ansonsten er nicht die Entschädigung der Folgen von Vorversicherungsfällen mit einer unter 10 vH liegenden Minderung der Erwerbsfähigkeit zugelassen hätte und - in § 183 Abs 1 ASVG - bei der Bewertung von Schadensfolgen im Bereich des Schwellenwertes von 20 vH nicht auch unter 10 vH liegende Zustandsänderungen wirksam hätte werden lassen.

Die uneinheitliche Rechtsprechung hat sich zuletzt dem Argument der Meßbarkeit geringfügiger Unfallsfolgen angeschlossen (SSV-NF 6/34). Das Gesetz wird also vom Höchstgericht nun dahin ausgelegt, daß Vorversicherungsfälle gegenüber dem jeweiligen Letztversicherungsfall bzw ein Versicherungsfall gegenüber mehreren Versicherungsfällen privilegiert sind.

Der dieser Auslegung zugrundeliegende § 210 Abs 1 Satz 1 ASVG entspricht daher in seinem inkriminierten Satzteil nach Meinung des Oberlandesgerichtes Graz nicht dem in Artikel 2 StGG normierten Gebot der Gleichbehandlung aller Staatsbürger vor dem Gesetz, weshalb der Antrag laut Spruch gestellt wird."

3. Im Gesetzesprüfungsverfahren erstatteten sowohl die Bundesregierung als auch die Parteien des Ausgangsrechtsstreites Äußerungen:

3.1. Die Bundesregierung hält dem Antragsvorbringen im wesentlichen folgendes entgegen (Hervorhebungen jeweils im Original):

"1. Einleitung

Grundsätzlich ist zunächst darauf hinzuweisen, daß sich die vom OLG Graz relevierten gleichheitsrechtlichen Problemstellungen für dieses nur deshalb ergeben, weil es den dem Anlaßverfahren zugrunde liegenden Sachverhalt unter § 210 Abs 1 ASVG subsumiert. Nachstehend wird zu zeigen sein, daß auf diesen Sachverhalt § 203 iVm § 183 ASVG Anwendung findet. Bei dieser Betrachtung ergeben sich aber die - vom OLG Graz behaupteten - gleichheitsrechtlichen Probleme nicht und es zeigt sich, daß der Gesetzgeber insgesamt ein sachgerechtes System geschaffen hat.

2. Grundsätzliches zur Unfallversicherung

Aufgabe der gesetzlichen Unfallversicherung ist unter anderem die Entschädigung von Versehrten nach Arbeitsunfällen (§172 ASVG). In diesem Sinn soll die Versehrtenrente dem Ausgleich des durch die unfallbedingte Erwerbsminderung eintretenden Schadens dienen. Bei der Minderung der Erwerbsfähigkeit handelt es sich um die Beeinträchtigung der Fähigkeit des Versicherten, sich unter Ausnutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bieten, einen Erwerb zu verschaffen (grundlegend hierzu SSV-NF 1/64). In der Praxis werden - wegen der sich aus dem Gegenstand ergebenden Unschärfen (vgl. VfSlg. 14.550/1996) - Abstufungen der Minderung der Erwerbsfähigkeit (gutachterlich) in Sprüngen von 5 oder 10 % vorgenommen (siehe dazu die einschlägigen Glieder- und Knochentaxen, etwa in Krösl-Zrubecky, Arbeitsunfall und Begutachtung, sowie VwSlg. (A) 2335/1951, wonach Unterschiede in der Einschätzung von Unfallfolgen von weniger als 5 % im allgemeinen nicht als meßbar angenommen werden).

3. Der maßgebliche Regelungszusammenhang

Aus der Aufgabe der gesetzlichen Unfallversicherung bzw. der Versehrtenrente ergibt sich aus dem Regelungszusammenhang folgender Bestimmungen ein sachgerechtes Motiv für die Normierung der kritisierten Mindestgrenze:

a) Gemäß § 203 Abs 1 ASVG hat ein Versicherter bei einem (ersten) Arbeitsunfall - abgesehen von den hier nicht maßgeblichen Fällen der nach § 8 Abs 1 Z 3 lith und i ASVG teilversicherten Schüler und Studenten sowie einer Berufskrankheit im Sinne des § 177 Abs 2 ASVG (bei denen für einen Anspruch auf Versehrtenrente eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50 % notwendig ist) - Anspruch auf Versehrtenrente, wenn die Erwerbsfähigkeit durch die Folgen des Arbeitsunfalles über drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalles hinaus um mindestens 20 % vermindert ist. Darin kommt die vom Gesetzgeber (vorgenommene) grundsätzliche Wertung zum Ausdruck, wonach erst ab dieser Marke ein tatsächlicher Erwerbsschaden in Betracht zu ziehen ist (vgl. Tomandl, Das Leistungsrecht der österreichischen Unfallversicherung, Seite 105, wonach Leichtversehrte wahrscheinlich überhaupt keinen Lohnentfall haben, da sie die (Kollektiv)vertragslöhne erhalten und daher nur die unfallbedingten Erschwernisse ausgeglichen werden) und es nicht Sinn der sozialen Unfallversicherung ist, im Übermaß vorkommende unter diesem Wert liegende Bagatellfälle zu 'berenten'.

b) Nach der auch vom Oberlandesgericht Graz ins Treffen geführten Bestimmung des § 183 Abs 1 ASVG (in der seit der 44. Novelle zum ASVG geltenden Fassung) ist für die Neufeststellung der Rente wegen wesentlich geänderter Verhältnisse zum einen ebenso eine Änderung der Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 10 % notwendig. Aus § 183 Abs 1 zweiter Satz ASVG folgt allerdings, daß darüber hinaus bei einer Änderung der Verhältnisse, durch welche ein Rentenanspruch entsteht oder wegfällt, auch Änderungen der Minderung der Erwerbsfähigkeit von weniger als 10 % als wesentlich anzusehen und daher beachtlich sind. Daraus ergibt sich ein Lösungsansatz für die dem gegenständlichen Fall zugrunde liegende Problemkonstellation:

Hat der erste Arbeitsunfall eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 15 % zur Folge, der zweite von 5 %, so hat der Versicherte mangels jeweils (noch) nicht gegebener Anspruchsvoraussetzungen keinen Anspruch auf eine (Gesamt)Rente, andererseits aber entsteht dann gemäß § 203 iVm § 183 ASVG ein Rentenanspruch, wenn sich die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Erstunfalles um weitere 5 % erhöht.

Diese Problematik ist offenbar dem Anlaßfall des Oberlandesgerichtes Graz (vgl. Seite 3 des der Gesetzesprüfung zugrunde liegenden Beschlusses) zu eigen, wenn hier die aus dem ersten und dem zweiten Arbeitsunfall resultierende Minderung der Erwerbsfähigkeit insgesamt 20 % beträgt und dem Erstunfall die gravierenderen Folgen zuzuschreiben sind. (Dagegen handelt es sich bei der im Beweisverfahren zu klärende(n) Abgrenzung der Unfallfolgen des ersten und zweiten Arbeitsunfalles um eine prozessuale Frage, die nichts mit einer möglichen Ungleichbehandlung zu tun hat.) Nach Auffassung der Bundesregierung ist in solchen Fällen somit § 183 Abs 1 ASVG (iVm) § 203 (...) Abs 1 ASVG anzuwenden (und nicht § 210 Abs 1 ASVG, der ja - schon aufgrund seines Wortlautes - eine neuerliche Schädigung im Ausmaß von mindestens 10 % Minderung der Erwerbsfähigkeit voraussetzt). Eine solche sich im Einzelfall ausnahmsweise ergebende Konstellation von Versicherungsfällen führt jedoch nicht zu der vom Oberlandesgericht Graz behaupteten Verfassungswidrigkeit im Hinblick auf § 210 Abs 1 erster Satz ASVG, da im Falle einer Änderung der Verhältnisse, durch die ein Rentenanspruch entsteht (oder wegfällt), eine möglichst genaue Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu erfolgen hat (§183 Abs 1 ASVG). Insofern liegt keine Ungleichbehandlung vor, als für den Fall, daß das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit 20 % beträgt(,) auch eine Versehrtenrente gewährt wird, wenn sich die auf Grund des Erstunfalles gegebene Minderung der Erwerbsfähigkeit durch den weiteren Unfall erhöht und so das Ausmaß von letztlich 20 % erreicht. Besteht aber zwischen dem ersten und dem zweiten Unfall kein derartiger Zusammenhang, so ist gemäß § 210 ASVG eine Gesamtrente zu gewähren, wenn ein (Gesamt)Erwerbsschaden von mindestens 20 % besteht.

Auch das zeigt, daß der Gesetzgeber stets auf eine mindestens 20 % (Gesamt)Minderung der Erwerbsfähigkeit abstellt.

Es ist daher schon unter diesem Aspekt (wie auch unter den unter c) angeführten Gründen einer leichteren, versichertenfreundlicheren Administrierbarkeit()) sachlich gerechtfertigt, für die Entschädigung der Folgen eines neuerlichen Arbeitsunfalles oder einer neuerlichen Berufskrankheit auf eine Mindesterwerbsminderung von 10 % abzustellen.

c) Die Leistung einer Gesamtrente gemäß § 210 ASVG, wenn der hinzukommende Versicherungsfall (allein) wenigstens eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 % nach sich zieht, stellt eine pragmatische und dennoch sachlich differenzierende Lösung dar, und zwar sowohl im Sinne einer Verbesserung des materiellen Rechtes zugunsten des Versicherten als auch im Sinne einer erheblichen Verwaltungsvereinfachung. In den Erläuternden Bemerkungen zu dieser Bestimmung (599 Blg NR 7. GP 66) wird hierzu folgendes ausgeführt:

'§210 will die Entschädigung nach mehreren Versicherungsfällen auf die verwaltungsmäßig denkbar einfachste und sicherlich auch dem Anspruchsberechtigten zusagendste Art, nämlich durch Zusammenziehung der Versicherungsfälle zu einem Entschädigungsfall lösen. Daß die daraus resultierende Gesamtrente nach der höchsten der in Betracht kommenden Bemessungsgrundlagen zu bemessen ist, stellt einen großen Vorteil für den Anspruchsberechtigten dar; auch die Begründung der Leistungszuständigkeit eines Versicherungsträgers, wenn nach der Versicherungszuständigkeit verschiedene Versicherungsträger leistungspflichtig wären, ist für ihn vorteilhaft, da er nur einem Partner gegenübersteht. Eine Auseinandersetzung zwischen den etwa in Betracht kommenden Versicherungsträgern soll nicht stattfinden, weil hiedurch die Einfachheit der Lösung ohne einen entsprechenden Erfolg auf der anderen Seite gestört würde. Der zur Leistung der Gesamtrente verpflichtete Versicherungsträger hat nicht nur diese, sondern auch alle anderen Geld- und sonstigen Leistungen, nötigenfalls auch Heilbehandlung zu erbringen, gleichgültig, auf welchen Versicherungsfall sich der Anspruch gründet.'

Spätere neuerliche Arbeitsunfälle (Berufskrankheiten) werden somit begünstigt: Sie werden bereits entschädigt, wenn sie für sich allein eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 10 % herbeiführen, sofern die dann bestehende Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit wenigstens 20 % (bei Schülern und Studenten sowie bei konkreten Berufskrankheiten 50 %) beträgt. Zur Feststellung dieser Gesamtminderung sind sämtliche früheren Arbeitsunfälle heranzuziehen, sofern sie nur zu einer meßbaren Minderung der Erwerbsfähigkeit geführt haben, gleichgültig, ob für sie schon Leistungen der Unfallversicherung erbracht werden oder nicht. Auf die Gesamtminderung sind auch sozialrechtlich anerkannte Schädigungen anzurechnen (in diesem Sinn auch Tomandl, Das Leistungsrecht der Unfallversicherung, 337 f, in Tomandl (Hrsg.), System).

Die Bestimmung des § 210 ASVG stellt sich somit nicht - wie das OLG Graz auf Seite 7 seines Beschlusses meint - als bloße Kompromißlösung, sondern im Zusammenhang mit den §§203 und 183 ASVG als Teil eines sachgerecht abgestuften und in sich stimmigen Systems dar, wobei der Gesetzgeber offenbar von einer Durchschnittsbetrachtung ausgegangen ist.

In jedem Fall stellt der Gesetzgeber - wie sich bereits aus den oben dargelegten Aufgaben der Unfallversicherung ergibt - auf das Erfordernis einer mindestens 20 % (Gesamt)Minderung der Erwerbsfähigkeit ab."

3.2. Die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt als beklagte Partei des Ausgangsrechtsstreits führt in ihrer Äußerung im wesentlichen folgendes aus (Hervorhebung im Original):

"Bei der Minderung der Erwerbsfähigkeit handelt es sich um die Beeinträchtigung der Fähigkeit des Versicherten, sich unter Ausnutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten auf (dem) allgemeinen Arbeitsmarkt bieten, einen Erwerb zu verschaffen (grundlegend SSV-NF 1/64). Wegen der sich aus dem Gegenstand ergebenden Unschärfe der Einschätzung werden Abstufungen (gutachterlich) in Sprüngen von 5 oder 10 % vorgenommen (siehe dazu die einschlägigen Glieder- und Knochentaxen, etwa Krösl-Zrubecky, Arbeitsunfall; :

Unterschiede in der Einschätzung von Unfallfolgen von weniger als 5 % sind nicht zu berücksichtigen()).

Von den hier nicht zu relevierenden Fällen der nach § 8 Abs 1 Z 3 lith und i ASVG teilversicherten Schülern und Studenten sowie einer Berufskrankheit im Sinne des § 177 Abs 2 ASVG abgesehen, hat ein Versicherter bei einem (ersten) Arbeitsunfall Anspruch auf Versehrtenrente, wenn die Erwerbsfähigkeit durch die Folgen des Arbeitsunfalles oder der Berufskrankheit über drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalles hinaus um mindestens 20 % vermindert ist (§203 Abs 1 ASVG). Dieser anspruchsbegründende Mindestwert ergibt sich aus de(r) Erwägung, daß erst ab diesem Wert ein tatsächlicher Erwerbsschaden in Betracht zu ziehen ist (vgl Tomandl, (D)as Leistungsrecht der österreichischen Unfallversicherung, 105, wonach Leichtversehrte wahrscheinlich überhaupt kein(en) Lohnentfall haben, da sie die Kollektivvertragslöhne erhalten werden und daher nur die unfallbedingten Erschwernisse ausgeglichen werden) und es nicht Sinn der sozialen Unfallversicherung ist, im Übermaß vorkommende unter diesem Wert liegende Bagatellfälle zu berenten. Tritt bei demselben Versicherten eine Verschlimmerung der Verhältnisse ein (§183 Abs 1 ASVG) oder tritt ein weiterer Arbeitsunfall oder eine weitere Berufskrankheit hinzu (§210 ASVG), so sind diese Versicherungsfälle grundsätzlich nur dann entschädigungspflichtig, wenn die dadurch verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit mindestens 10 % beträgt. Aus § 183 Abs 1 Satz 2 ASVG folgt allerdings, daß bei einer Änderung der Verhältnisse, durch welche ein Rentenanspruch entsteht, auch Änderungen der Minderung der Erwerbsfähigkeit von weniger als 10 % wesentlich und daher beachtlich sind.

Unschwer erkennbar ergibt sich daraus unter den vielen möglichen Kombinationen eine Problemkonstellation: Hat der erste Arbeitsunfall (die erste Berufskrankheit) eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 15 % zur Folge, der zweite eine von 5 %, so hat der Versicherte mangels jeweils (noch) nicht gegebener Anspruchsvoraussetzungen keinen Anspruch auf eine (Gesamt)Rente, andererseits aber entsteht dann ein Rentenanspruch, wenn sich die Minderung der Erwerbsfähigkeit desselben Erstunfalles um weitere 5 % Minderung verschlimmert. Diese Problematik ist auch aus dem Anlaßfall des Oberlandesgericht(es) Graz (8 Rs 39/98) (...) herauslesbar, wenn hier die aus dem ersten und dem zweiten Arbeitsunfall resultierende Minderung der Erwerbsfähigkeit 20 % beträgt und dem Erstunfall die gravierenderen Folgen zuzuschreiben sind (dagegen hat die prozessuale Konsequenz der im Beweisverfahren nicht ganz zu klären möglich gewesenen Abgrenzungsfrage der Unfallfolgen nichts mit einer Ungleichbehandlung zu tun).

Eine solche sich im Einzelfall ausnahmsweise ergebende Konstellation von Versicherung(s)fällen macht aber den § 210 Abs 1 Satz 1 (ASVG) nicht verfassungswidrig, weil im Falle einer Änderung der Verhältnisse, durch die ein Rentenanspruch entsteht (oder wegfällt), eine möglichst genaue Messung (Einschätzung) der Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versicherungsfalles zugunsten oder zuungunsten des Versicherten angebracht ist, während bei der Beurteilung eines weiteren selbständigen Arbeitsunfalles oder einer Berufskrankheit Bedacht auf die beim ersten Arbeitsunfall anzustellenden Erwägungen (siehe oben) und den dort geltenden anspruchsbegründenden Mindestwert eines 20%igen Erwerbsschadens Bedacht zu nehmen ist (§203 Abs 1 ASVG). Es ist daher nicht sachwidrig, für die Entschädigung der Folgen eines neuerlichen Arbeitsunfalles oder einer neuerlichen Berufskrankheit eine durch diese Folgen verursachte Mindesterwerbsminderung von 10 % zu normieren."

3.3. In der vom Kläger des Ausgangsrechtsstreits erstatteten Äußerung wird im wesentlichen folgendes ausgeführt (Hervorhebungen jeweils im Original):

"§210 ASVG schützt seinem Inhalt nach und nach seiner Gesetzesmotivation die Gleichbehandlung von Staatsbürgern, die eine Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 % erleiden mußten, unabhängig davon, ob diese Minderung auf ein oder mehrere Ereignisse zurückzuführen ist. Das entspricht, wie das Oberlandesgericht Graz zutreffend hervorhebt, der mens legis und dem Auftrag, dem der Gesetzgeber entsprach. In keinem Fall sollte durch die Einschränkung des 2. Satzteiles eine Derogation dieses Grundsatzes bewirkt werden:

Eine Gesetzeslage, mit der einerseits die gleiche Behandlung gleicher Sachverhalte festgelegt wird, die aber gleichzeitig an die sachliche Beurteilung Kriterien knüpft, deren Zuhaltung eine sachlich ungleiche Behandlung der Staatsbürger bewirkt, ist in sich selbst widersprüchlich; es sei denn, daß für die unterschiedliche Beurteilung sachlich begründete Ursachen gegeben wären.

Weder die Bestimmung des § 210 ASVG, noch die erläuternden Bemerkungen, noch die Regierungsvorlagen lassen erkennen, welche sachlichen Ausgangslagen für eine unterschiedliche Behandlung von Versehrten denkbar wären, je nachdem, ob die Beeinträchtigung von einem oder mehreren Ereignissen herrührt.

Spektakulär stellt der Anlaßfall diese Problemstellung zur Diskussion: Wenn aus medizinischer Sicht nicht mehr beurteilt werden kann, ob eine Verletzungsfolge, die einen wesentlichen Anteil an der Erwerbsminderung bewirkt, vom ersten oder zweiten Unfallereignis herrührt, hängt der gesetzlich festgelegte Anspruch des Versehrten ausschließlich von medizinisch-diagnostischen Beurteilungen, nicht aber von der tatsächlich eingetretenen Erwerbsminderung ab. Damit wird die Diagnose und nicht die Erwerbsminderung zum anspruchsbegründenden Element.

Dasselbe Bild zeichnet auch die Auffassung der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt, wonach die Nichterfüllung der Beweislast im diagnostischen Bereich den Anspruch, trotz Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH., ausschließt. Dadurch wird der Anspruch zudem von der Beweislast des Versicherten abhängig gemacht, wobei Unsicherheiten (der medizinisch-diagnostischen Beurteilungen) in sein Risiko fallen.

Die sachliche Voraussetzung für den Anspruch der Versehrtenrente nach § 210 ASVG ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH. Weder die Frage der Sicherheit medizinisch-diagnostischer Differenzierungen, noch deren Wertungen im Einzelfall stellen sachliche Kriterien für den Anspruch dar. Auch die Erfüllung der Beweislast über die Erwerbsminderung aus Anlaß einzelner von mehreren Ereignissen durch den Versehrten stellt keine sachliche Bedingung des Anspruches dar, wenn damit nicht der Grundsatz der Zusammenziehung der Versicherungsfälle zu einem Entschädigungsfall beseitigt werden soll."

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über den Antrag erwogen:

1. Zur Zulässigkeit:

Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs darf daher ein Antrag iS des Art 140 B-VG bzw. des Art 139 B-VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, daß die - angefochtene - generelle Norm eine Voraussetzung für die Entscheidung des antragstellenden Gerichts im Anlaßfall bildet (zB VfSlg. 9811/1983, 10.296/1984, 11.565/1987, 12.189/1989).

Dies ist hier jedoch offenkundig nicht der Fall und wird auch weder von der Bundesregierung noch von der beteiligten Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt behauptet. Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen erfüllt sind, ist der Antrag somit zulässig.

2. In der Sache:

2.1. Das Gleichheitsgebot des Art 7 Abs 1 B-VG verpflichtet den Gesetzgeber, Gleiches gleich zu behandeln; dementsprechend ist es ihm verwehrt, Differenzierungen zu schaffen, die nicht aus entsprechenden Unterschieden im Tatsächlichen abgeleitet werden können (zB VfSlg. 3754/1960, 3970, 4090/1961 uva.).

Das Bedenken des antragstellenden Gerichtes, der Gesetzgeber habe in § 210 Abs 1 erster Satz ASVG eine diesem Gebot widersprechende Regelung getroffen, trifft zu:

2.2. Es ist in der Tat nicht einsichtig, warum in jenen Fällen, in denen ein Versicherter infolge zweier oder mehrerer Versicherungsfälle (Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten) mehrfach geschädigt wird und dadurch eine Minderung seiner Erwerbsfähigkeit im Ausmaß von mindestens 20 vH erleidet, eine Gesamtrente nur zusteht, wenn die durch die jeweils letzte Schädigung allein verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit mindestens 10 vH beträgt. Dies zumal - der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (SSV-NF 6/34; ferner ; , 10 ObS 318/97f) zufolge, die im eindeutigen Wortlaut des § 210 Abs 1 erster Satz ASVG Deckung findet - es für alle früheren Arbeitsunfälle bzw. Berufskrankheiten völlig gleichgültig ist, in welchem (meßbaren) Ausmaß sie eine Minderung der Erwerbsfähigkeit herbeigeführt haben (idS auch Tomandl, in: Tomandl (Hrsg.), System des österreichischen Sozialversicherungsrechts, 11. Ergänzungslieferung, 337 f.).

Zwar trifft es zu, daß spätere neuerliche Arbeitsunfälle (Berufskrankheiten) durch die Regelung des § 210 Abs 1 ASVG insofern begünstigt sind, als für sie bereits dann eine Entschädigung gebührt, wenn sie für sich allein eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 10 vH herbeiführen, während gemäß § 203 Abs 1 ASVG eine Rente nur gebührt, wenn durch einen Versicherungsfall eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 vH herbeigeführt wird (vgl. Tomandl, aaO, 337). Es begegnete aus dieser Sicht auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn der Gesetzgeber einen Rentenanspruch aus mehreren Versicherungsfällen nur dann und insoweit zuerkannt hätte, wenn jeder dieser Versicherungsfälle eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 vH nach sich zöge.

Das vom antragstellenden Gericht aufgeworfene gleichheitsrechtliche Bedenken geht indes in eine völlig andere Richtung: Es geht nicht darum, daß die Entschädigung aus mehreren Versicherungsfällen (§210 Abs 1 ASVG) einer anderen (vorteilhafteren) Regelung unterliegt als jene, die auf einen einzelnen Versicherungsfall (§203 Abs 1 ASVG) Anwendung findet; vielmehr verhält es sich so, daß die Regelung des § 210 Abs 1 ASVG in sich dem Gleichheitsgebot widerspricht, weil sie dazu führen kann, daß bei zwei Versicherungsfällen, die zu jeweils unterschiedlichen Verletzungsfolgen, in Summe jedoch zu demselben Gesamtausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit geführt haben, ein Rentenanspruch nur besteht, wenn die Versicherungsfälle in einer bestimmten Reihenfolge aufgetreten sind.

Wird nämlich ein Versicherter bei zwei aufeinanderfolgenden Arbeitsunfällen verletzt und bewirkt der erste Arbeitsunfall eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 5 vH, der zweite von 15 vH, so gebührt eine (Gesamt-)Rente (§210 Abs 1 erster Satz ASVG); führt hingegen bereits der erste Arbeitsunfall zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 15 vH, während der zweite bloß eine solche von 5 vH herbeiführt, so besteht kein Rentenanspruch: weder für den ersten Arbeitsunfall allein (vgl. § 203 Abs 1 ASVG), noch für beide Arbeitsunfälle zusammen (vgl. § 210 Abs 1 erster Satz ASVG).

Eine sachliche Rechtfertigung für diese Ungleichbehandlung ist jedoch nicht erkennbar.

2.3. Dem Vorbringen der Bundesregierung, im vorliegenden Fall sei nicht die Regelung des § 210 Abs 1 ASVG, sondern jene des § 203 Abs 1 iVm § 183 Abs 1 ASVG anzuwenden, wodurch die vom antragstellenden Gericht geltend gemachten gleichheitsrechtlichen Bedenken entfielen, kann nicht gefolgt werden:

2.3.1. § 203 Abs 1 ASVG idF des ArtIII Z 17 der 32. ASVG-Novelle, BGBl. 1976/704, hat samt Überschrift folgenden Wortlaut:

"Anspruch auf Versehrtenrente

§203. (1) Anspruch auf Versehrtenrente besteht, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch die Folgen eines Arbeitsunfalles oder eine Berufskrankheit über drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalles hinaus um mindestens 20 v. H. vermindert ist; die Versehrtenrente gebührt für die Dauer der Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v. H.

(2) ..."

§ 183 Abs 1 ASVG idF des ArtIII Z 4 der 44. ASVG-Novelle, BGBl. 1987/609, hat samt Überschrift folgenden Wortlaut:

"Neufeststellung der Rente

§183. (1) Bei einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse, die für die Feststellung einer Rente maßgebend waren, hat der Träger der Unfallversicherung auf Antrag oder von Amts wegen die Rente neu festzustellen. Als wesentlich gilt eine Änderung der Verhältnisse nur, wenn durch sie die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch mehr als drei Monate um mindestens 10 vH geändert wird, durch die Änderung ein Rentenanspruch entsteht oder wegfällt (§§203, 210 Abs 1) oder die Schwerversehrtheit entsteht oder wegfällt (§205 Abs 4).

(2) ..."

2.3.2. § 203 Abs 1 ASVG ist als grundsätzliche anspruchsbegründende Norm für jene Fälle anzusehen, in denen auf Grund eines einzelnen Versicherungsfalls eine Minderung der Erwerbsfähigkeit eintritt; sie vermag daher jene des § 210 Abs 1 ASVG, die den Fall des Zusammentreffens von zwei oder mehreren Versicherungsfällen regelt, nicht zu verdrängen.

Gemäß § 183 Abs 1 ASVG ist bei einer "wesentlichen Änderung der Verhältnisse" eine Neufeststellung der Rente durch den Unfallversicherungsträger vorzunehmen. Als "wesentlich" gilt dabei ua. jede Änderung der Verhältnisse, durch die ein Rentenanspruch entsteht oder wegfällt. § 183 Abs 1 zweiter Satz ASVG verweist dabei auf die §§203, 210 Abs 1 ASVG. Nach der zuletzt angeführten Bestimmung entsteht ein Rentenanspruch jedoch - wie bereits ausgeführt - erst, wenn die jeweils zuletzt erlittene Schädigung eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 10 vH herbeiführt und in Summe - unter Berücksichtigung früherer Versicherungsfälle, die ebenfalls eine meßbare Minderung der Erwerbsfähigkeit herbeigeführt haben - eine Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 vH resultiert. Das Verhältnis zwischen § 210 Abs 1 ASVG und § 183 Abs 1 ASVG ist daher nicht dahin zu deuten, daß erstere Bestimmung bloß den Fall des Hinzutretens eines Versicherungsfalls zu einem bereits einen Rentenanspruch begründenden ersten Versicherungsfall betrifft, während in jenen Fällen, in denen der erste Versicherungsfall noch keinen Rentenanspruch begründet hat, allein § 183 Abs 1 ASVG (iVm § 203 Abs 1 ASVG) Anwendung zu finden hätte.

2.4. Da somit das Bedenken des antragstellenden Gerichtes zutrifft, war spruchgemäß zu entscheiden; zur vollständigen Beseitigung der vom antragstellenden Gericht geltend gemachten Verfassungswidrigkeit war es jedoch nicht geboten, auch den vom Aufhebungsbegehren ebenfalls umfaßten (ersten) Beistrich in § 210 Abs 1 erster Satz ASVG aufzuheben - was im übrigen sprachlich verfehlt wäre -; dem Antrag war daher insoweit nicht stattzugeben.

3. Der Ausspruch über das Nichtwiederinkrafttreten früherer gesetzlicher Bestimmungen gründet sich auf Art 140 Abs 6 B-VG, jener über die Kundmachung auf Art 140 Abs 5 B-VG iVm § 64 Abs 2 VerfGG 1953.

4. Das VerfGG 1953 sieht ua. für Normenprüfungsverfahren, die auf Antrag eines Gerichtes eingeleitet worden sind, einen Aufwandersatz nicht vor. Es obliegt daher dem antragstellenden Gericht, - nach den für sein Verfahren geltenden Vorschriften - über einen allfälligen Kostenersatzanspruch des Klägers des Ausgangsrechtsstreits zu befinden (zB VfSlg. 7380/1974, 8572/1979, 8871/1980 uva.).

5. Diese Entscheidung konnte ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung gefällt werden (§19 Abs 4 erster Satz VerfGG 1953).