VfGH vom 27.02.2001, G107/00
Sammlungsnummer
16090
Leitsatz
Gleichheitswidrigkeit der pauschalierten Anrechnung des Unterhaltsanspruchs von Ehegatten für die Festsetzung der Beitragsgrundlage für die Selbstversicherung in der Krankenversicherung unter Hinweis auf die Vorjudikatur (E v , G26/00)
Spruch
Die Wortfolge "während des Bestandes der Ehe 25 vH," in § 76 Abs 3 zweiter Satz des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955, in der Fassung des ArtI Z 31 der 32. Novelle zum ASVG, BGBl. Nr. 704/1976, sowie des ArtI Z 5 lita der 48. Novelle zum ASVG, BGBl. Nr. 642/1989, wird als verfassungswidrig aufgehoben.
Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.
Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1.1. Gemäß § 16 Abs 1 ASVG können sich Personen, die nicht in einer gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert sind, in der Krankenversicherung selbst versichern, solange ihr Wohnsitz im Inland gelegen ist.
Beitragsgrundlage für Selbstversicherte in der Krankenversicherung ist in den Fällen des § 16 Abs 1 ASVG für den Kalendertag der Tageswert der Lohnstufe, in welche die um ein Sechstel ihres Betrages erhöhte Höchstbeitragsgrundlage fällt (§76 Abs 1 Z 1 ASVG). Die Selbstversicherung ist jedoch auf Antrag des Versicherten in einer niedrigeren als der nach § 76 Abs 1 Z 1 ASVG in Betracht kommenden Lohnstufe zuzulassen,
"sofern dies nach den wirtschaftlichen Verhältnissen des Versicherten (...) gerechtfertigt erscheint".
1.2. Näheres dazu wird in § 76 Abs 3 ASVG ausgeführt; diese Bestimmung (idF des ArtI Z 31 der 32. Novelle zum ASVG, BGBl. Nr. 704/1976, sowie des ArtI Z 5 lita der 48. Novelle zum ASVG, BGBl. Nr. 642/1989) lautet (die in Prüfung gezogene Wortfolge ist hervorgehoben):
"Bei Prüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse nach Abs 2 sind auch Unterhaltsverpflichtungen von Ehegatten, auch geschiedenen Ehegatten, gegenüber dem Versicherten zu berücksichtigen. Als monatliche Unterhaltsverpflichtung gelten, gleichviel, ob und in welcher Höhe die Unterhaltsleistung tatsächlich erbracht wird, während des Bestandes der Ehe 25 vH, nach Scheidung der Ehe 12,5 vH des nachgewiesenen monatlichen Nettoeinkommens des Unterhaltspflichtigen. Wenn und solange das Nettoeinkommen des Unterhaltspflichtigen nicht nachgewiesen wird, ist
a) während des Bestandes der Ehe anzunehmen, daß eine Herabsetzung in den wirtschaftlichen Verhältnissen des Versicherten nicht gerechtfertigt erscheint,
b) nach Scheidung der Ehe anzunehmen, daß die Höhe der monatlichen Unterhaltsverpflichtung 25 vH des Dreißigfachen der Beitragsgrundlage nach Abs 1 Z 1 beträgt.
Eine Zurechnung zum Nettoeinkommen erfolgt nur in der Höhe eines Vierzehntels der jährlich tatsächlich zufließenden Unterhaltsleistung, wenn die berechnete Unterhaltsforderung der Höhe nach trotz durchgeführter Zwangsmaßnahmen einschließlich gerichtlicher Exekutionsführung uneinbringlich oder die Verfolgung eines Unterhaltsanspruches in dieser Höhe offenbar aussichtslos ist."
2. Beim Verfassungsgerichtshof ist zu B1341/99 eine Beschwerde gegen einen im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Landeshauptmannes von Steiermark anhängig, mit dem dieser die Beiträge für die Selbstversicherung des Beschwerdeführers in der Krankenversicherung im gesetzlichen Ausmaß - unter Bedachtnahme auf eine monatliche Unterhaltsverpflichtung der Ehegattin des Beschwerdeführers in Höhe von 25 vH ihres Nettoeinkommens - festgesetzt hatte.
3. Aus Anlaß dieses Beschwerdeverfahrens sind beim Verfassungsgerichtshof Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Wortfolge "während des Bestandes der Ehe 25 vH," in § 76 Abs 3 zweiter Satz ASVG entstanden, welche ihn veranlaßt haben, diese Wortfolge mit Beschluß vom gemäß Art 140 Abs 1 B-VG von Amts wegen in Prüfung zu ziehen.
Der Gerichtshof nahm dabei vorläufig an, daß gegen die in Rede stehende Wortfolge dieselben Bedenken bestünden wie jene, die ihn dazu bestimmt hatten, auf Grund eines vom Oberlandesgericht Wien gestellten Gesetzesprüfungsantrages mit Erkenntnis vom , G26/00, mehrere Wortfolgen in § 294 ASVG als verfassungswidrig aufzuheben.
4. Die Bundesregierung teilte mit, vor dem Hintergrund des zuvor genannten Erkenntnisses im Gesetzesprüfungsverfahren keine meritorische Äußerung zu erstatten.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:
1. Zur Zulässigkeit:
Verfahrenshindernisse, die eine meritorische Entscheidung über die Beschwerde ausschlössen, sind nicht hervorgekommen. Auch die zunächst vorläufigen Präjudizialitätsannahmen des Verfassungsgerichtshofs haben sich als zutreffend erwiesen. Das Verfahren ist somit insgesamt zulässig.
2. In der Sache:
Die im Prüfungsbeschluß geäußerten Bedenken des Verfassungsgerichtshofs haben sich auch als zutreffend erwiesen.
Die in Rede stehende Bestimmung des § 76 Abs 3 zweiter Satz ASVG bewirkt, daß die Beitragsgrundlage für die Selbstversicherung in der Krankenversicherung derart festgesetzt wird, daß dem monatlichen Nettoeinkommen des Versicherten während des Bestandes der Ehe pauschal 25 vH des monatlichen Nettoeinkommens des Ehegatten zugerechnet werden. Dieser Pauschalsatz für die Unterhaltsanrechnung entspricht indes nur dann dem Unterhaltsrecht, wenn das Nettoeinkommen des unterhaltspflichtigen Ehegatten exakt viermal so hoch ist wie jenes des unterhaltsberechtigten.
Dies ist jedoch offenkundig nicht als Regelfall anzusehen; die fragliche Bestimmung führt vielmehr im Durchschnittsfall dazu, dem Versicherten eine Leistungsfähigkeit zuzurechnen, die ihm - bei Bedachtnahme auf das Unterhaltsrecht - nicht zukommt.
Wie der Gerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom , G26/00, zum Ausgleichszulagenrecht ausgesprochen und näher begründet hat, entbehrt eine Regelung der sachlichen Rechtfertigung, welche die Anrechnung eines fiktiven Unterhalts anordnet, der von jenem abweicht, der sich mittels der von den ordentlichen Gerichten entwickelten, einen Durchschnittsfall ausdrückenden Berechnungsformel (40 vH des Familieneinkommens unter Abzug des Eigeneinkommens) ergibt, sodaß diese Regelung im Ergebnis nicht den Regel-, sondern einen Ausnahmefall zugrunde legt. Im genannten Erkenntnis hat der Verfassungsgerichtshof auch aufgezeigt, daß Gesichtspunkte der Verwaltungsvereinfachung für die sachliche Rechtfertigung dieser Bestimmung von vornherein nichts gewinnen lassen.
Im vorliegenden Gesetzesprüfungsverfahren ist nichts hervorgekommen, das ein Abgehen von dieser Auffassung rechtfertigen könnte. Die in Prüfung gezogene Wortfolge war somit als verfassungswidrig aufzuheben; das zitierte hg. Erkenntnis vom , G26/00, ist dem vorliegenden Erkenntnis beigeschlossen.
3. Der Ausspruch über das Nichtwiederinkrafttreten früherer gesetzlicher Bestimmungen gründet sich auf Art 140 Abs 6 erster Satz B-VG, jener über die den Bundeskanzler treffende Kundmachungspflicht auf Art 140 Abs 5 erster Satz B-VG und § 65 iVm § 64 Abs 2 VerfGG 1953 sowie § 2 Abs 1 Z 4 BGBlG, BGBl. Nr. 660/1996.
4. Diese Entscheidung konnte ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung gefällt werden (§19 Abs 4 erster Satz VerfGG 1953).