VfGH vom 23.09.2019, E4948/2018
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens mangels Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" und Erlassung einer Rückkehrentscheidung betreffend einen Staatsangehörigen von Nigeria; keine ausreichende Auseinandersetzung mit der Zumutbarkeit der Übersiedlung der österreichischen Ehegattin nach Nigeria
Spruch
I.Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II.Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.640,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I.Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1.Der Beschwerdeführer, nigerianischer Staatsbürger, Christ und Angehöriger der Volksgruppe der Ibo, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz. Am heiratete er eine österreichische Staatsbürgerin.
2.Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Nigeria als unbegründet abgewiesen und der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundegebiet ausgewiesen.
3.Die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom als unbegründet abgewiesen und das Verfahren gemäß § 75 Abs 20 AsylG zur Prüfung der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung an das nunmehr zuständige Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
4.Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt I.), gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt II.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig ist (Spruchpunkt III.) und für die freiwillige Ausreise eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung besteht (Spruchpunkt IV.).
5.Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom wurde die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt I. zu lauten hat: "Eine 'Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz' gemäß § 57 AsylG wird Ihnen nicht erteilt." Eine Revision wurde für nicht zulässig erklärt.
Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht unter anderem aus:
"2. Beweiswürdigung:
[…]
Unüberwindbare Hindernisse, die einer Fortsetzung des Familienlebens in Nigeria entgegenstünden, konnten im vorliegenden Beschwerdeverfahren nicht festgestellt werden. Die Ehefrau des Beschwerdeführers lebt mit ihm im selben Haushalt und nach Angaben des Beschwerdeführers würden auch noch die mittlerweile volljährigen Kinder der Frau aus früherer Beziehung bei ihnen leben. Ein Auszug aus dem Zentralen Melderegister hat allerdings ergeben, dass außer dem Beschwerdeführer und der Ehefrau keine weiteren Personen an der gemeinsamen Adresse gemeldet sind. Zudem sind die Kinder volljährig und wurden auch keinerlei Sorgepflichten ihnen gegenüber an[ge]geben. Ein Auszug aus dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger hat desweiteren ergeben, dass die Ehefrau seit knapp neun Jahren (mit kleineren Unterbrechungen von wenigen Monaten) und auch aktuell Arbeitslosengeld, Notstandshilfe bzw Überbrückungshilfe bezieht. Eine Arbeitsstelle müsste sie sohin nicht aufgeben und können beide zur Lebenserhaltung auch in Nigeria einer beruflichen Tätigkeit nachgehen.
Es ist der Ehefrau unter den gegebenen Umständen möglich und auch zumutbar, mit dem Beschwerdeführer nach Nigeria zu übersiedeln, um dort ihr Familienleben fortsetzen zu können. Die Erlassung der Rückkehrentscheidung hat demnach nicht zwingend eine Trennung zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Ehefrau [zur Folge].
[…]
3. Rechtliche Beurteilung:
[…]
3.2. Zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung und zur Zulässigkeit der Abschiebung (Spruchpunkte II. und III.):
3.2.1. Da das Asylverfahren negativ abgeschlossen wurde, hat sich die belangte Behörde zutreffend auf § 52 Abs 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 gestützt und eine Rückkehrentscheidung erlassen.
Zu prüfen ist daher, ob eine Rückkehrentscheidung mit Art 8 EMRK vereinbar ist, weil sie nur dann zulässig wäre und nur im verneinenden Fall ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG überhaupt in Betracht käme. Die Vereinbarkeit mit Art 8 EMRK ist aus folgenden Gründen gegeben:
Das vorliegende Verfahren erreichte, gerechnet von der Asylantragstellung am bis zum Datum der angefochtenen Entscheidung am zwar eine gewisse, allerdings auch auf Verzögerungen aufgrund von anzuwendenden Übergangbestimmungen zurückzuführende Dauer. Der seit Oktober 2013 andauernde Aufenthalt des Beschwerdeführers beruhte dessen ungeachtet auf einer vorläufigen, nicht endgültig gesicherten rechtlichen Grundlage, weshalb dieser während der gesamten Dauer des Aufenthaltes in Österreich nicht darauf vertrauen durfte, dass er sich in Österreich auf rechtlich gesicherte Weise bleibend verfestigen kann. Spätestens nach der rechtskräftigen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes über den Antrag auf internationalen Schutz am musste der Beschwerdeführer wissen, dass er nicht von einem gesicherten Aufenthalt im Bundesgebiet ausgehen kann.
Das Gewicht seiner privaten Interessen wird daher dadurch gemindert, dass sie in einem Zeitpunkt entstanden, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war (vgl ; , 2009/21/0086; VfSlg 18.382/2008 mHa EGMR , 40.447/98, Mitchell; EGMR , 61.292/00, Useinov). Der Beschwerdeführer ist mit einer österreichischen Staatsangehörigen verheiratet und lebt mit ihr in einem gemeinsamen Haushalt. Ein Familienleben ist daher jedenfalls begründet, wie oben ausgeführt, ist es aber nicht schützenswert im Sinne des Art 8 EMRK. Es fehlen alle weiteren Sachverhaltselemente, aus denen sich die Existenz gewisser in einem Zeitraum eines mittlerweile rund 5-jährigen Aufenthaltes entstandener – unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens relevanter – Bindungen allenfalls hätte ergeben können (wie etwa legale Teilnahme am Erwerbsleben und am sozialen Leben (Vereine, Mitgliedschaften) in Österreich, Selbsterhaltungsfähigkeit, Erwerb von nachweisbaren und gefestigten Sprachkenntnissen). Gleichzeitig hat der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat, in dem er aufgewachsen ist und den Großteil seines bisherigen Lebens verbracht hat, sprachliche und kulturelle Verbindungen. Darüber hinaus verfügt er über familiäre Anknüpfungspunkte in Form seiner Mutter und einer Tante.
Dem allenfalls bestehenden Interesse des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich (bzw Europa) stehen öffentliche Interessen daran gegenüber, dass das geltende Migrationsrecht auch vollzogen wird, indem Personen, die ohne Aufenthaltstitel aufhältig sind – gegebenenfalls nach Abschluss eines allfälligen Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz – auch zur tatsächlichen Ausreise verhalten werden.
Bei einer Gesamtbetrachtung wiegt unter diesen Umständen das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der Durchsetzung der geltenden Bedingungen des Einwanderungsrechts, an der Befolgung der den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften, denen aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechthaltung der öffentlichen Ordnung – und damit eines von Art 8 Abs 2 EMRK erfassten Interesses – ein höher Stellenwert zukommt (vgl zB ), schwerer als die, abgesehen von der aufrechten Ehe, schwach ausgebildeten privaten Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib in Österreich.
Ebenso wenig vermag die strafgerichtliche Unbescholtenheit seine persönlichen Interessen entscheidend zu stärken (VwGH 25.02.[2010], 2010/18/0029).
Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung kann daher nicht im Sinne von § 9 Abs 2 BFA-VG als unzulässig angesehen werden.
Die sonstigen Voraussetzungen einer Rückkehrentscheidung nach § 10 Abs 1 Z 3 AsylG und § 52 Abs 2 Z 2 FPG sind erfüllt. Sie ist auch sonst nicht (zB vorübergehend nach Art 8 EMRK, vgl § 9 Abs 3 BFA-VG und ) unzulässig. Der Beschwerdeführer verfügt auch über kein sonstiges Aufenthaltsrecht.
[…]"
6.Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
Begründend wird dazu unter anderem Folgendes ausgeführt:
"Die belangte Behörde hat es […] unterlassen, eine fehlerfreie und vollständige Beurteilung der Zumutbarkeit der Übersiedelung der österreichischen Ehegattin in das Heimatland des Beschwerdeführers durchzuführen.
Die diesbezügliche Beurteilung der belangten Behörde beschränkt sich unter Berücksichtigung der zuvor wiedergegebenen und zur Entscheidung herangezogenen Feststellung ausschließlich darauf, dass zum einen der Beschwerdeführer sowie seine österreichische Ehegattin keinerlei [gemeinsame] Kinder haben. Zum anderen auf den Umstand, dass die österreichische Ehegattin des Beschwerdeführers seit Jahren keiner Beschäftigung im österreichischen Bundesgebiet nachgeht. Hieraus zieht in weiterer Folge die belangte Behörde auch den (lebensfremden) Schluss, dass die österreichische Ehegattin des Beschwerdeführers auch eine Arbeitsstelle nicht aufgeben muss und somit auch beide zur Lebenserhaltung in Nigeria einer beruflichen Tätigkeit nachgehen können. Eine weitere notwendige Prüfung der näheren Umstände der Zumutbarkeit der Fortsetzung des Familienlebens im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers hat die belangte Behörde jedoch nicht durchgeführt."
7.Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat die Verwaltungsakten, das Bundesverwaltungsgericht die Gerichtsakten vorgelegt. Eine Gegenschrift wurde nicht erstattet.
II.Erwägungen
1.Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2.Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).
Dem Bundesverwaltungsgericht ist bei der gemäß Art 8 Abs 2 EMRK gebotenen Abwägung ein solcher in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen:
2.1.Bei der Abwägung nach Art 8 EMRK ist neben anderen Aspekten (vgl etwa VfSlg 18.832/2009 mwN) das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität zu berücksichtigen, wobei auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die Beteiligten des unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, bei der Abwägung in Betracht zu ziehen ist.
2.2.Im vorliegenden Fall bezieht das Bundesverwaltungsgericht in die Abwägung mit ein, dass der Beschwerdeführer mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet ist und mit ihr in einem gemeinsamen Haushalt lebt.
2.3.Es wären im vorliegenden Fall jedoch auch die näheren persönlichen Umstände der Zumutbarkeit der Übersiedelung der österreichischen Ehegattin in das Heimatland des Beschwerdeführers zu untersuchen gewesen (vgl VfSlg 18.832/2009).
2.3.1.Das Bundesverwaltungsgericht
stellt zur Situation der Ehefrau zwar fest, dass diese seit knapp neun Jahren (mit kleineren Unterbrechungen von wenigen Monaten) und auch aktuell Arbeitslosengeld, Notstandshilfe bzw Überbrückungshilfe beziehe und sie eine Arbeitsstelle sohin nicht aufgeben müsse und der Beschwerdeführer und seine Ehefrau zur Lebenserhaltung auch in Nigeria einer beruflichen Tätigkeit nachgehen könnten.
Im Übrigen hält das Bundesverwaltungsgericht in seinem Erkenntnis lediglich pauschal fest, dass es der Ehefrau unter den gegebenen Umständen möglich und auch zumutbar sei, mit dem Beschwerdeführer nach Nigeria zu übersiedeln, um dort ihr Familienleben fortsetzen zu können.
2.3.2.Damit unterlässt es das Bundesverwaltungsgericht aber, die persönlichen Umstände der Zumutbarkeit der Übersiedelung der Ehegattin in das Heimatland des Beschwerdeführers aus verfassungsrechtlicher Sicht hinreichend zu untersuchen. Dies hätte erfordert, sich anhand aktueller Länderberichte mit der Situation von Frauen und von Fremden in Nigeria auseinander zu setzen und diese in Bezug zur konkreten Situation des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau zu setzen.
3.Der Beschwerdeführer wird daher durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.
III.Ergebnis
1.Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
2.Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4.Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 400,– sowie eine Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.
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ECLI: | ECLI:AT:VFGH:2019:E4948.2018 |
Schlagworte: | Aufenthaltsrecht, Privat- und Familienleben, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung |
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