VfGH vom 21.09.2020, E4498/2019
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung und im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz eines in Gaza geborenen Staatenlosen; kein eigenständiger Begründungswert der Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts auf Grund wörtlicher Wiedergabe der Ergebnisse des Ermittlungverfahrens und der Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz sowie Unterlassung einer mündlichen Verhandlung
Spruch
I.Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) und im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art 47 Abs 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II.Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer ist staatenlos, in Gaza geboren und hat sein Leben bis zur Ausreise dort verbracht. Er gehört der Glaubensgemeinschaft der sunnitischen Moslems an. Am stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund bringt er vor, wiederholt von der Hamas festgenommen und misshandelt worden zu sein.
2. Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 ab; ebenso wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Israel/Palästinensische Autonomiegebiete abgewiesen. Weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Israel/Palästinensische Autonomiegebiete gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.
3. Die gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht – ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung – mit Erkenntnis vom als unbegründet ab. Nach einer wörtlichen Wiedergabe der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, der Sachverhaltsfeststellungen und der Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass in der Beschwerde die Beweiswürdigung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nicht substantiiert bekämpft worden sei. Deshalb sei das Bundesverwaltungsgericht nicht veranlasst gewesen, das Ermittlungsverfahren zu wiederholen bzw zu ergänzen. Der schlüssigen Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides sei zu folgen. Demnach sei das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers widersprüchlich und daher nicht glaubhaft.
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch abgesehen.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs 1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Das Bundesverwaltungsgericht stützt sich in seinem Erkenntnis zur Gänze auf die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die Sachverhaltsfeststellungen und die Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides, wobei es die jeweiligen Passagen wörtlich wiedergibt. Die im Bescheid getroffenen Länderfeststellungen, die auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Palästinensische Gebiete – Gaza, Stand basieren, werden im Erkenntnis geringfügig gekürzt übernommen; eigene Länderfeststellungen trifft das Bundesverwaltungsgericht nicht. Vielmehr schließt es sich ausdrücklich den getroffenen Feststellungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl an. Ebenso folgt es dessen Beweiswürdigung, die "im Wesentlichen im Sinne der allgemeinen Denklogik und der Denkgesetze in sich schlüssig und stimmig" sei. Demnach seien die Schilderungen des Beschwerdeführers widersprüchlich und somit nicht glaubhaft. Das Bundesverwaltungsgericht führt schließlich auch keine mündliche Verhandlung durch, auf deren Basis es eigene Feststellungen bzw eine entsprechende Beweiswürdigung vornehmen hätte können.
3.2. Den in Erwiderung auf die Beschwerde ergänzend aufgenommenen Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes fehlt angesichts der mangelhaften Argumentation ein eigenständiger Begründungswert:
Zur Beschwerde, in der vorgebracht wird, dass die Abweichungen zwischen Erstbefragung und Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Zeitdruck bei der Erstbefragung geschuldet gewesen seien, wo zudem keine detaillierte Protokollierung erfolgt sei, hält das Bundesverwaltungsgericht lediglich fest, "[m]it diesen Ausführungen vermag die bP den vom Bundesamt getroffenen Feststellungen und der Beweiswürdigung nicht konkret und substantiiert entgegen zu treten und an deren Richtigkeit begründete Zweifel darzulegen". Den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes kommt kein eigenständiger Begründungswert zu, zumal § 19 Abs 1 AsylG 2005 ausdrücklich bestimmt, dass die Erstbefragung insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden dient und sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat (vgl auch ; , E159/2019).
3.3. Die Begründung der angefochtenen Entscheidung erweist sich – insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Bundesverwaltungsgericht keine mündliche Verhandlung durchgeführt hat – als unzureichend und nicht nachvollziehbar. Letztlich läuft die vom Bundesverwaltungsgericht gewählte Begründungstechnik, einerseits ausschließlich auf die verwaltungsbehördliche Begründung zu verweisen und andererseits der Beschwerde fehlende Substanz zu unterstellen, auf eine bloße Plausibilitätskontrolle hinaus. Dies entspricht nicht den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Begründung von Entscheidungen eines (insoweit erstinstanzlich entscheidenden) Gerichtes. Das angefochtene Erkenntnis ist daher insgesamt mit Willkür belastet (vgl VfSlg 18.614/2008; 18.861/2009; ; , E3235/2016; , E1533/2019; , E4422/2019; E3429/2019).
4. Für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht regelt § 21 Abs 7 BFA-VG den Entfall der mündlichen Verhandlung. Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung steht – sofern zuvor bereits ein Verwaltungsverfahren stattgefunden hat, in dessen Rahmen Parteiengehör gewährt wurde – jedenfalls in jenen Fällen im Einklang mit Art 47 Abs 2 GRC, in denen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen tatsachenwidrig ist (vgl VfSlg 19.632/2012).
Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung, wenn diese zur Gewährleistung einer den Anforderungen des Art 47 Abs 2 GRC an ein faires Verfahren entsprechenden Entscheidung des erkennenden Gerichtes geboten ist, stellt aber eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art 47 Abs 2 GRC dar ( ua; , U1257/2012; , U2529/2013; , E4221/2017).
5. Eine solche Verletzung von Art 47 Abs 2 GRC liegt aus folgenden Gründen vor:
5.1. Hinsichtlich der Beurteilung der mangelnden Glaubhaftmachung des Fluchtvorbringens stützt sich das Bundesverwaltungsgericht ausschließlich auf die Feststellungen bzw Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides. Eine mündliche Verhandlung zur Prüfung der Angaben des Beschwerdeführers hat das Bundesverwaltungsgericht nicht durchgeführt. Dies wäre aber insbesondere angesichts der Begründung der mangelnden Glaubhaftmachung des Fluchtvorbringens im angefochtenen Bescheid geboten gewesen, die im Wesentlichen auf Widersprüche zwischen Erstbefragung und den weiteren Einvernahmen des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl abstellt (vgl ; , E4221/2017; E3429/2019).
5.2. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung des Sachverhaltes im vorliegenden Fall erwarten ließe. Das Bundesverwaltungsgericht hätte nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen. Der Beschwerdeführer ist daher in seinem Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art 47 Abs 2 GRC verletzt worden (vgl ; , E2108/2015; , E1079/2016; , E1494/2019; , E3429/2019).
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs 1 BVG zur Durchführung des internationalen Abkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung und im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art 47 Abs 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.
Zusatzinformationen
Tabelle in neuem Fenster öffnen
ECLI: | ECLI:AT:VFGH:2020:E4498.2019 |
Schlagworte: | Asylrecht, Verhandlung mündliche, EU-Recht, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Rückkehrentscheidung |
Dieses Dokument entstammt dem Rechtsinformationssystem des Bundes.