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VfGH vom 26.11.2018, E4221/2017

VfGH vom 26.11.2018, E4221/2017

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz eines Staatsangehörigen aus Gambia; keine hinreichende Klärung des Sachverhalts hinsichtlich der festgestellten mangelnden Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens

Spruch

I.Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art 47 Abs 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II.Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.400,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, angefochtene Entscheidung und Vorverfahren

1. Bei dem Beschwerdeführer handelt es sich um einen Staatsangehörigen Gambias, der am einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Im Rahmen der Erstbefragung, die am selben Tag stattfand, brachte er vor, der Geheimdienst habe seinen Bruder, einen Soldaten, verhaftet, nachdem dieser beschuldigt worden sei, an einem Putschversuch beteiligt gewesen zu sein. Anschließend habe der Geheimdienst auch den Beschwerdeführer verhören wollen, weshalb er das Land verlassen habe. Bei einer Rückkehr befürchte er eine Verfolgung durch die Anhänger des früheren Präsidenten Jammeh. Sein Bruder sei bis heute verschollen. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am gab er im Wesentlichen das Gleiche an, berichtigte seine Angaben bei der Erstbefragung aber wie folgt:

"LA: Stimmen die Angaben, die Sie bisher im Verfahren getätigt haben und wurde alles richtig protokolliert?

VP: Es wurden einige Fehler gemacht bezüglich der Zeitpunkte.

LA: Um welche Angaben handelt es sich?

VP: Auf Seite 5 bei der Frage nach den Fluchtgründen steht, dass es am einen Putschversuch gab. Es müsste heißen 2014.

LA: Möchten Sie noch weitere Angaben korrigieren?

VP: Ja, auf Seite 4 bei der Reiseroute wurde unter 'Senegal' geschrieben 8 Monate. Richtig ist 1 Jahr und acht Monate."

2.Mit Bescheid vom des BFA wurde der Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.), ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Gambia nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass eine Abschiebung nach Gambia zulässig sei (Spruchpunkt III.); für die freiwillige Ausreise wurde keine Frist gesetzt (Spruchpunkt IV.) und einer Beschwerde gegen diesen Bescheid die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V.).

3.Das Bundesverwaltungsgericht wies die dagegen erhobene Beschwerde in Bezug auf die Spruchpunkte I., II. und III. als unbegründet ab.

3.1.Dazu führte es im Wesentlichen aus, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers nicht glaubhaft sei: Bei seiner Erstbefragung habe der Beschwerdeführer erklärt, dass der Putschversuch am stattgefunden, er Gambia am verlassen und sich dann acht Monate im Senegal aufgehalten habe. Bei der Befragung durch das BFA habe er diese Angaben jedoch dahingehend korrigiert, dass der Putschversuch am stattgefunden und er sich im Senegal ein Jahr und acht Monate aufgehalten habe. Da verschiedene Medien von einem Putschversuch in Gambia am berichtet hätten, liege nahe, dass der Beschwerdeführer bei der Einvernahme durch das BFA versucht habe, seine Geschichte an die Daten der Medienberichte anzupassen.

Nach dem Bundesverwaltungsgericht habe eine abschließende Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers jedoch unterbleiben können, da sich selbst bei Wahrunterstellung aus dessen Fluchtvorbringen keine Bedrohung oder Verfolgungsgefahr ergebe. Wie das BFA zu Recht festgestellt habe, sei die Herrschaft des früheren Präsidenten Jammeh inzwischen zu Ende gegangen; es gäbe "keine Anzeichen dafür […], dass frühere Getreue noch einen relevanten Einfluss in Gambia ausüben würden. Aus etwaigen 'vereinzelten versprengten Loyalisten' würde keine Gefahr für den Beschwerdeführer ausgehen."

3.2.Zur Lage im Herkunftsstaat verwies das Bundesverwaltungsgericht auf die auf Basis des Länderinformationsblatts der Staatendokumentation vom August 2016 im Bescheid des BFA getroffenen Feststellungen zur Lage in Gambia; das Länderinformationsblatt enthält eine integrierte Kurzinformation vom Juli 2017. Ergänzend legte das Bundesverwaltungsgericht seiner Entscheidung die in der Beschwerde gegen den Bescheid zitierten Berichte von Amnesty International (AI, Gambia: Progress in first 100 days of Barrows government requires major reform to break with brutal past, , abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/latest/news/2017/04/gambia-progress-in-first-100-days-of-barrow-government-requires-major-reform-to-break-with-brutal-past/), der Jamestown Foundation (Jamestown Foundation: Leaving Islamism Aside: The Gambia under Adama Barrow; Terrorism Monitor Volume 15 Issue: 9; ; abrufbar unter https://jamestown.org/program/leaving-islamism-aside-gambia-adama-barrow/) sowie von Africa News (Gambian gov't under active threat from Jammeh loyalists: ECOMIG commander, Artikel vom , abrufbar unter http://www.africanews.com/2017/07/08/gambian-gov-t-under-active-threat-from-jammeh-loyalists-ecomig-commander/) zugrunde.

3.2.1.Die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom August 2016 integrierte Kurzinformation vom Juli 2017 lautet auszugsweise wie folgt:

"Gambias neue Regierung bemüht sich, ihre Souveränität in einigen gegenüber dem ehemaligen Präsidenten Yahya Jammeh noch loyalen Regionen geltend zu machen.

Zusammenstöße zwischen Pro-Jammeh Protestierenden und der vom Senegal geführten Koalition westafrikanischer Kräfte, welche einen friedlichen Übergang der Macht gewährleisten sollen, führten Anfang Juni zu mehrere Verletzten und einem Toten."

3.2.2.Der Bericht der Jamestown Foundation vom Mai 2017 lautet auszugsweise wie folgt:

"The president plans to upgrade the National Intelligence Agency (NIA), a secret police force accused of serious human rights abuses during Jammeh’s tenure, and his plans will see the force become a less repressive, more functional organization (Africa News, January 28). He also plans to reform the military, which played a key role in Jammeh’s government but which remains heavily fragmented and of whose loyalty he is not yet certain (Africa Daily, January 19). Barrow’s decision in February to replace the head of the security forces, whose fidelity was questionable, will not immediately result in a more effective military. It will take several years to build trust and loyalty in such institutions.

In the meantime, the Gambia lacks a stable, reliable security agency making it more vulnerable to both Islamist terrorism and retaliatory violence from Jammeh loyalists. Barrow appears to have recognized this, requesting a Senegalese military unit be stationed in the country for the foreseeable future to ensure security (RFI, March 16)."

3.2.3.Der Bericht von Africa News vom Juli 2017 lautet auszugsweise wie folgt:

"The Senegalese commander of a West African regional force deployed to The Gambia, has said that the Adama barrow government still faced security challenges from loyalists of former leader, Yahya Jammeh.

Colonel Magatte Ndiaye, leader of the ECOWAS Mission in The Gambia (ECOMIG) said senior officers who left with Jammeh were in contact with other serving officials in plots to destabilize the tiny West African country.

'High-ranking army officers who fled with the former president have maintained contact with hostile elements within the Gambian security forces still in active service,' Colonel Ndiaye, said."

3.3.Die mündliche Verhandlung habe nach dem Bundesverwaltungsgericht unterbleiben können, da das Vorbringen des Beschwerdeführers als wahr unterstellt worden sei und der Sachverhalt daher feststehe.

4.Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der insbesondere auch die Verletzung in Rechten nach Art 47 GRC (Unterbleiben der Durchführung einer mündlichen Verhandlung) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

5.Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt und von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.

II.Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

1.Für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht regelt § 21 Abs 7 BFA-VG den Entfall der mündlichen Verhandlung. Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung steht – sofern zuvor bereits ein Verwaltungsverfahren stattgefunden hat, in dessen Rahmen Parteiengehör gewährt wurde – jedenfalls in jenen Fällen im Einklang mit Art 47 Abs 2 GRC, in denen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen tatsachenwidrig ist (vgl VfSlg 19.632/2012).

Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung, wenn diese zur Gewährleistung einer, den Anforderungen des Art 47 Abs 2 GRC an ein faires Verfahren entsprechenden Entscheidung des erkennenden Gerichtes geboten ist, stellt aber eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art 47 Abs 2 GRC dar ( ua; , U1257/2012; , U2529/2013).

2.Eine solche Verletzung von Art 47 Abs 2 GRC liegt aus folgenden Gründen vor:

2.1.In Bezug auf die Beurteilung der mangelnden Glaubhaftmachung des Fluchtvorbringens stützt sich das Bundesverwaltungsgericht ausschließlich auf einen Widerspruch zwischen Erstbefragung und Einvernahme vor dem BFA. Dieser "Widerspruch" stellt sich jedoch als bloße Korrektur von Daten dar, die der Beschwerdeführer allerdings von sich aus angab. Das Bundesverwaltungsgericht durfte daher jedenfalls nicht durch bloßes Aktenstudium davon ausgehen, dass der Sachverhalt hinsichtlich der festgestellten mangelnden Glaubhaftmachung geklärt ist. Insoweit lagen die Voraussetzungen für das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung nicht vor (vgl dazu , , E1079/2016).

2.2.Da aus den der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zugrunde gelegten Länderinformationen betreffend die Heimatregion des Beschwerdeführers auch nicht ohne Weiteres gefolgert werden kann, dass das von ihm geschilderte Vorbringen von vornherein nicht asylrelevant ist, wäre darüber hinaus eine Auseinandersetzung mit diesen Länderinformationen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung geboten gewesen (vgl auch , , E2108/2015).

III.Ergebnis

1.Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art 47 Abs 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.

2.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3.Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des § 64 Abs 1 Z 1 lita ZPO genießt.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VFGH:2018:E4221.2017
Schlagworte:
Asylrecht, Verhandlung mündliche, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung, EU-Recht

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