VfGH vom 14.03.2018, E3964/2017
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Erlassung einer Rückkehrentscheidung und Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nach Serbien sowie Verhängung eines befristeten Einreiseverbots über einen serbischen Staatsangehörigen mangels hinreichender Ermittlungen zu den Auswirkungen auf die im gemeinsamen Haushalt lebenden mj Kindern aus einer früheren Ehe sowie mangels Feststellungen zu deren anderem leiblichen Elternteil
Spruch
I.Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II.Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I.Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1.Der Beschwerdeführer, ein serbischer Staatsangehöriger, ist seit dem Jahr 2012 im Bundesgebiet aufhältig und war im Besitz eines (wiederholt verlängerten) Aufenthaltstitels "Familienangehöriger", zuletzt gültig bis . Am stellte der Beschwerdeführer gemäß § 55 AsylG 2005 einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK.
2.Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Bezirksgerichtes Steyr vom wegen des Vergehens nach § 83 Abs 1 StGB zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je € 4,– verurteilt. Mit Strafverfügung der Landespolizeidirektion Oberösterreich vom wurde über den Beschwerdeführer wegen der Verwaltungsübertretung nach § 120 Abs 1a iVm § 31 Abs 1 FPG eine Geldstrafe iHv € 500,– verhängt.
3.Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom wurde der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005 abgewiesen und gemäß § 10 Abs 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs 3 FPG erlassen (Spruchpunkt I.), gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Serbien zulässig ist (Spruchpunkt II.) und gemäß § 53 Abs 1 iVm Abs 2 Z 7 FPG ein auf Dauer von drei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt III.).
4.Der dagegen erhobenen Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom im Hinblick auf Spruchpunkt III. des Bescheides stattgegeben und die Dauer des Einreiseverbots auf 18 Monate herabgesetzt. Im Übrigen wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen (Spruchpunkt A I.); der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung wurde zurückgewiesen (Spruchpunkt A II.) und die Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art 133 Abs 4 B-VG für nicht zulässig erklärt (Spruchpunkt B).
4.1.Der Beschwerdeführer sei bis zum im Besitz eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" gewesen und habe bis dato keinen weiteren Antrag auf Erteilung eines solchen iSd Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (im Folgenden: NAG) gestellt. Da ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 kein Bleibe- bzw. Aufenthaltsrecht vermittle, erweise sich der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet seit als unrechtmäßig.
4.2.Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, dass die Ehefrau und deren gemeinsamer mj. Sohn (beide österreichische Staatsangehörige), zwei aus einer früheren Ehe des Beschwerdeführers stammende mj. Kinder (beide serbische Staatsangehörige) sowie der Bruder des Beschwerdeführers im Bundesgebiet aufhältig seien. Des Weiteren stellt es fest, dass die beiden mj. Kinder aus einer früheren Ehe mit dem Beschwerdeführer im gemeinsamen Haushalt lebten.
4.3.Der Beschwerdeführer verfüge daher über familiäre und soziale Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet und über ein schützenswertes Privat- und Familienleben iSd Art 8 EMRK. Der bisherige Aufenthalt des Beschwerdeführers sei jedoch durch eine strafgerichtliche Verurteilung sowie die Betretung bei der Schwarzarbeit belastet und erweise sich seit als durchgehend unrechtmäßig. Trotz des fünfjährigen Aufenthaltes, der Sprachkenntnisse, der Mitgliedschaft in einem bosnischen Kulturverein, der bisher legalen Erwerbstätigkeit sowie der Vorlage eines Arbeitsvorvertrages könne nicht von einer tiefgreifenden Integration des Beschwerdeführers in Österreich ausgegangen werden. Auch weise der Umstand, dass der Beschwerdeführer es verabsäumt habe, rechtzeitig einen Antrag auf Verlängerung seines Aufenthaltstitels zu stellen, auf "kein großes Integrationsinteresse" hin. Zudem sei der Beschwerdeführer in Serbien sozialisiert, verfüge dort über familiäre Anknüpfungspunkte und habe dort seine Schul- und Berufsausbildung absolviert sowie Berufserfahrung gesammelt.
Darüber hinaus verfügten die beiden mj. Kinder des Beschwerdeführers aus einer früheren Ehe angesichts der versäumten, rechtzeitigen Stellung eines Verlängerungsantrages (§24 NAG) und des im Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes unerledigten neuerlichen Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels über kein Bleibe- oder Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet (§21 Abs 6 NAG). Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegenüber dem Beschwerdeführer könne nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes sohin im Verhältnis zu diesen mj. Kindern keine Verletzung im Recht nach Art 8 EMRK bewirken.
In Bezug auf seinen mj. Sohn würden unter Beachtung des Kindeswohles keine derart außergewöhnlichen Umstände vorliegen, die eine Verletzung des Art 8 EMRK erkennen ließen. Es sei von einer hinreichenden Versorgung des Kindes durch dessen Mutter (und Ehefrau des Beschwerdeführers) auszugehen. Der Kontakt zum Beschwerdeführer könne unter Zuhilfenahme grenzüberschreitender Kommunikationsmittel und Besuchsfahrten nach Serbien aufrechterhalten werden. Ein Abhängigkeitsverhältnis, das die Ehefrau und den gemeinsamen mj. Sohn (beide österreichische Staatsangehörige) zwinge, den Beschwerdeführer nach Serbien zu begleiten, habe nicht festgestellt werden können. Es sei anzunehmen, dass die Ehefrau "in der Lage ist, für sich, ihre Kinder und deren gemeinsames Kind zu sorgen".
4.4.Das von der belangten Behörde verhängte Einreiseverbot in der Dauer von drei Jahren erweise sich – insb. auf Grund des überwiegend rechtmäßigen Aufenthaltes des Beschwerdeführers im Bundesgebiet sowie des Versuchs, am österreichischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen – als nicht angemessen. Auf Grund einer – unter Berücksichtigung des Gesamtfehlverhaltens sowie der sonstigen persönlichen Umstände des Beschwerdeführers getroffenen – Gefährlichkeitsprognose sei das Einreiseverbot auf 18 Monate herabzusetzen.
5.Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
Begründend verweist der Beschwerdeführer im Wesentlichen auf seine familiären Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet, seine Sprachkenntnisse, das Bestehen eines Arbeitsvorvertrages sowie seine Integrationsbemühungen. Das Bundesverwaltungsgericht habe ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung festgestellt, dass im Falle einer Abschiebung für seine Ehefrau und den gemeinsamen mj. Sohn – beide österreichische Staatsangehörige – kein "Ausreisezwang" bestehe, obwohl diese faktisch gezwungen wären, den Beschwerdeführer nach Serbien zu begleiten. Die angestellte Gefährlichkeitsprognose sei vor dem Hintergrund der lediglich einmaligen strafgerichtlichen Verurteilung sowie einer Verwaltungsübertretung willkürlich und das verhängte Einreiseverbot in der Dauer von 18 Monaten unverhältnismäßig. Letztlich habe es das Bundesverwaltungsgericht verabsäumt, unter Berücksichtigung des Kindeswohles zu prüfen, wie sich die Ausweisung des Beschwerdeführers auf dessen Kinder auswirke.
6.Das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl haben die Gerichts- bzw. Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch abgesehen.
II.Rechtslage
Die im vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:
§55 AsylG 2005, BGBl I 100 idF BGBl I 68/2017, lautet:
"Aufenthaltstitel aus Gründen des Art 8 EMRK
§55. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine 'Aufenthaltsberechtigung plus' zu erteilen, wenn
1. dies gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist und
2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl I Nr 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§5 Abs 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl I Nr 189/1955) erreicht wird.
(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs 1 Z 1 vor, ist eine 'Aufenthaltsberechtigung' zu erteilen.
"
III.Erwägungen
1.Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2.Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).
3.Dem Bundesverwaltungsgericht ist bei der gemäß Art 8 Abs 2 EMRK gebotenen Abwägung ein solcher in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen:
3.1.Das Bundesverwaltungsgericht trifft zwar ausreichende Feststellungen hinsichtlich der Ehefrau und des gemeinsamen mj. Sohnes (beide österreichische Staatsbürger), unterlässt es jedoch, sich mit der Situation der beiden mj. Kinder aus einer früheren Ehe (beide serbische Staatsangehörige), die mit dem Beschwerdeführer im gemeinsamen Haushalt leben, auseinanderzusetzen. Des Weiteren stellt es fest, dass die beiden mj. Kinder aus der früheren Ehe jeweils über einen bis gültigen Aufenthaltstitel verfügten und am (Erst-)Anträge auf Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels stellten, diese Anträge im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes jedoch noch unerledigt gewesen seien.
3.2.Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung kommt das Bundesverwaltungs-gericht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer über familiäre und soziale Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet und daher über ein schützenswertes Privat- und Familienleben iSd Art 8 EMRK verfügt. In der Folge gibt es Umstände wieder, warum es das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers als relativiert erachtet und führt dazu u.a. wörtlich aus:
"Darüber hinaus verfügen die Kinder des [Beschwerdeführers], welche die serbische Staatsbürgerschaft innehaben, angesichts der versäumten, rechtzeitigen Stellung eines Verlängerungsantrages und des bisher unerledigt gebliebenen Neuantrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels (vgl. § 24 Abs 1 erster und zweiter Satz NAG) über kein Bleibe- oder Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet (vgl. § 21 Abs 6 NAG). Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegenüber dem [Beschwerdeführer] kann sohin im Verhältnis zu seinen Kindern daher keine Verletzung von Art 8 EMRK bewirken."
Entgegen der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes führt jedoch der – im Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes unsichere – Aufenthaltsstatus der beiden mj. Kinder des Beschwerdeführers aus einer früheren Ehe nicht dazu, dass deren Beziehung zum Beschwerdeführer im Rahmen der Interessenabwägung iSd Art 8 EMRK gänzlich unbeachtlich wäre. Das Bundesverwaltungsgericht hätte vielmehr ermitteln und bei seiner Abwägungsentscheidung berücksichtigen müssen, welche konkreten Auswirkungen die drohende Ausreise des Beschwerdeführers und die damit verbundene Trennung auf das Kindeswohl (auch) der mj. Kinder aus der früheren Ehe haben, zumal die beiden mj. Kinder – wie vom Bundesverwaltungsgericht festgestellt – mit dem Beschwerdeführer im gemeinsamen Haushalt leben und keine Feststellungen zum anderen (leiblichen) Elternteil der beiden mj. Kinder getroffen wurden. Der Verfassungsgerichtshof vermag auch nicht zu erkennen, dass sich aus dem Absehen von der (fristgerechten) Stellung eines Verlängerungsantrages gemäß § 24 NAG Rückschlüsse auf das "Integrationsinteresse" eines Fremden ziehen ließen.
3.3.Da das Bundesverwaltungsgericht auf die Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib im Bundesgebiet nicht ausreichend Bedacht genommen hat und ein entscheidungswesentlicher Punkt unberücksichtigt geblieben ist, wurde dieser in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) verletzt (vgl. zB ; , E2670/2017).
IV.Ergebnis
1.Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) verletzt worden.
2.Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4.Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.
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ECLI: | ECLI:AT:VFGH:2018:E3964.2017 |
Schlagworte: | Asylrecht, Einreiseverbot, Privat- und Familienleben, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung |
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