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VfGH vom 03.10.2019, E3456/2019

VfGH vom 03.10.2019, E3456/2019

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens hinsichtlich der Rückkehrentscheidung gegen einen Staatsangehörigen von Kamerun; Unterlassung einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Trennung des Vaters von seinem Kind

Spruch

I.Dem Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe im Umfang des § 64 Abs 1 Z 1 lita ZPO wird stattgegeben.

II.1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Kamerun unter Setzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

III.Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.Der Beschwerdeführer ist ein am geborener Staatsangehöriger von Kamerun. Er stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz.

2.Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag gemäß § 3 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung von Asyl sowie gemäß § 8 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung von subsidiärem Schutz in Bezug auf den Herkunftsstaat Kamerun ab. Weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Kamerun gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gleichzeitig wurde gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gesetzt.

3.Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

4.Mit Erkenntnis vom wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde als unbegründet ab. Diese Entscheidung hob der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom auf.

5.Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde abermals als unbegründet ab.

Zur Frage der Rechtmäßigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung traf das Bundesverwaltungsgericht ua folgende Ausführungen (Schreibfehler korrigiert):

"Das Bestehen eines Familienlebens liegt jedenfalls vor. Der Beschwerdeführer hatte zur in Salzburg lebenden französischen Staatsangehörigen ein Liebesverhältnis. Aus dieser Beziehung gingen Zwillingskinder hervor, welche beide am in Salzburg geboren wurden. Es hat sich um eine Frühgeburt gehandelt, beide Kinder wurden drei Monate zu früh geboren. Bei der Geburt verstarb eines der Zwillingskinder. Das überlebende Kind musste monatelang im Krankenhaus stationär behandelt werden und wurde dabei mehreren Operationen unterzogen. Die Kindesmutter gab in der mündlichen Verhandlung am an, dass es dem Kind gesundheitlich immer besser gehe. Die Kindesmutter ist derzeit in einer Mutter-Kind-Einrichtung in Salzburg untergebracht. Der Beschwerdeführer kümmert sich um sein Kind, er besucht es zumindest zweimal wöchentlich und leistet auch Beiträge für den Unterhalt des Kindes in Höhe von ca. EUR 50,–. Der Beschwerdeführer lebte mit der Kindesmutter zu keinem Zeitpunkt in einem gemeinsamen Haushalt. Das Familienleben zwischen Eltern und Kindern entsteht grundsätzlich mit der Geburt der Kinder und ist unabhängig von einem gemeinsamen Wohnsitz der Eltern. Daher ist im vorliegenden Fall das Kindeswohl jedenfalls in Betracht zu ziehen.

[…]

Der Sachverhalt ist auch nicht mit dem vom EuGH in der Rechtssache Ruiz Zambrano, Urteil vom , C-34/09, entschiedenen vergleichbar, da das Kind des Beschwerdeführers bei einer Abschiebung des Vaters nicht gezwungen wäre, das Bundesgebiet zu verlassen, da die Kindesmutter und das Kind französische Staatsangehörige sind. Hinzu kommt, dass de facto kein Familienleben geführt wird und die Kindesmutter – außer der Bezahlung von EUR 50,– und der zumindest zweimal wöchentlich stattfindenden Besuche – für den Unterhalt des Minderjährigen aufkommt und sich im Alltag um das Kind kümmert.

Das hier relevante Familienleben wurde zu einem Zeitpunkt eingegangen, als der Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers jedenfalls unsicher war. Zudem hat der Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt mit der Kindesmutter in einem gemeinsamen Haushalt gelebt. Wie schon ausgeführt, befindet sich die Kindesmutter in einer Mutter-Kind-Einrichtung in Salzburg und der Beschwerdeführer besucht mit Zustimmung der Kindesmutter zumindest zweimal wöchentlich seinen Sohn. Ungeachtet dessen hat der Beschwerdeführer zur Kindesmutter eine freundschaftliche Beziehung. Selbst wenn eine Trennung des Beschwerdeführers von seiner Familie nachteilige Auswirkungen auf das Wohl seines Sohnes nach sich zieht, wiegen die nachteiligen Folgen weniger schwer als das staatliche Interesse auf Verteidigung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung."

6.Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

7.Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen.

II.Erwägungen

1.Die – zulässige – Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die erlassene Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Kamerun unter Setzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise richtet, begründet.

2.Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

3.Dem Bundesverwaltungsgericht ist bei der gemäß Art 8 Abs 2 EMRK gebotenen Abwägung ein solcher, in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen:

3.1.Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine Aufenthaltsbeendigung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art 8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte). Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind die Auswirkungen der Entscheidung und die Konsequenzen einer Außerlandesbringung des Beschwerdeführers auf das Familienleben und auf das Kindeswohl etwaiger Kinder des Betroffenen zu erörtern (vgl hiezu ; , E3079/2018; zur Bedeutung der mit einer Trennung des Beschwerdeführers von seinem Kind verbundenen Auswirkungen vgl VfSlg 19.362/2011). Einer mit der Ausweisung verbundenen Trennung von Familienmitgliedern kommt eine entscheidungswesentliche Bedeutung zu (vgl VfSlg 18.388/2008, 18.389/2008, 18.392/2008). Die Intensität der privaten und familiären Bindungen im Inland ist dabei zu berücksichtigen (VfSlg 18.748/2009).

Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entsteht ein von Art 8 Abs 1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt (vgl EGMR , Fall Berrehab, Appl 10.730/84 [Z21]; , Fall Keegan, Appl 16.969/90 [Z44]). Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (vgl EGMR , Fall Gül, Appl 23.218/94 [Z32]). Ferner ist es nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ein grundlegender Bestandteil des Familienlebens, dass sich Eltern und Kinder der Gesellschaft des jeweiligen anderen Teiles erfreuen können; die Familienbeziehung wird insbesondere nicht dadurch beendet, dass das Kind in staatliche Pflege genommen wird (vgl VfSlg 16.777/2003 mit Hinweis auf EGMR , Fall Margareta und Roger Andersson, Appl 12963/87 [Z72] mwN; zu den Voraussetzungen für ein [potentielles] Familienleben zwischen einem Kind und dessen Vater siehe auch EGMR , Fall Schneider, Appl 17.080/07 [Z81] mwN). Davon ausgehend kann eine unzureichende Berücksichtigung des Kindeswohles zur Fehlerhaftigkeit der Interessenabwägung und somit zu einer Verletzung des Art 8 EMRK führen (vgl mit Hinweis auf EGMR , Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Appl 50.435/99, sowie insbesondere EGMR , Fall Nunez, Appl 55.597/09; , E1349/2016).

Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sind die konkreten Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung für ein Elternteil auf das Wohl eines Kindes zu ermitteln und bei der Interessenabwägung nach Art 8 Abs 2 EMRK zu berücksichtigen (vgl VfSlg 19.362/2011; ; , E426/2015; , E2617/2015; , E1349/2016; , E3964/2017; , E343/2018, E345/2018; , E435/2018). Der Verfassungsgerichtshof erachtet die Annahme als lebensfremd, dass der Kontakt zwischen einem Kleinkind und einem Elternteil über Telekommunikation und elektronische Medien aufrechterhalten werden könne (vgl dazu ; , E426/2015; , E1349/2016; , E343/2018, E345/2018).

3.2.Vor diesem Hintergrund erweist sich die Interessenabwägung nach Art 8 Abs 2 EMRK, die das Bundesverwaltungsgericht vornimmt, als unzureichend:

Das Bundesverwaltungsgericht führt in seinen Feststellungen aus, der Beschwerdeführer habe ein am geborenes Kind mit einer in Salzburg lebenden französischen Staatsangehörigen. Die Kindesmutter sei derzeit in einer Mutter-Kind-Einrichtung in Salzburg untergebracht. Der Beschwerdeführer besuche sein Kind zumindest zweimal wöchentlich und leiste Beiträge für dessen Unterhalt in Höhe von monatlich ca. € 50,–.

In der rechtlichen Beurteilung zur Rückkehrentscheidung hält das Bundesverwaltungsgericht fest, das Familienleben des Beschwerdeführers sei zu einem Zeitpunkt eingegangen worden, in dem dessen Aufenthaltsstatus unsicher gewesen sei. Das Bundesverwaltungsgericht unterlässt jede inhaltliche Auseinandersetzung mit der Beziehung des Beschwerdeführers zu seinem Kind und führt lediglich aus, dass "selbst wenn" eine Trennung des Beschwerdeführers von seiner Familie zu nachteiligen Auswirkungen auf das Wohl seines Sohnes führe, die nachteiligen Folgen weniger schwer wögen als das staatliche Interesse auf Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung.

Vor dem Hintergrund seiner Feststellungen zum Sachverhalt hätte das Bundesverwaltungsgericht eingehend begründen müssen, weshalb die aufenthaltsbeendende Maßnahme gegenüber dem Beschwerdeführer und die damit verbundene Trennung von seinem Kind im öffentlichen Interesse geboten ist. Damit hat das Bundesverwaltungsgericht einen wesentlichen Gesichtspunkt des konkreten Sachverhaltes, nämlich die Auswirkungen der Aufenthaltsbeendigung auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers – insbesondere die Beziehung zu seinem Kind – sowie das Kindeswohl dieses Kindes vollständig außer Acht gelassen (vgl VfSlg 19.776/2013; ; , E3775/2017, jeweils mwN).

3.3.Indem das Bundesverwaltungsgericht diese Umstände bei seiner Interessenabwägung nicht berücksichtigt hat, hat es – ungeachtet des Umstandes, dass das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich der Beschwerdeführer seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war (vgl zur Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, wonach dieser Umstand zwar zu berücksichtigen ist, einen Eingriff in das Recht aus Art 8 EMRK aber nicht ausschließt, etwa ; , U2241/12; VfSlg 18.223/2007) – diese mit einem in die Verfassungssphäre reichenden Fehler belastet.

3.4.Die Entscheidung ist daher insoweit aufzuheben, als mit ihr die im angefochtenen Bescheid getroffene Rückkehrentscheidung bestätigt wird.

4.Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs 2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die vorliegende Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen insoweit nicht anzustellen.

Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde, soweit sie sich gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz richtet, abzusehen und sie insoweit gemäß Art 144 Abs 3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten (§19 Abs 3 Z 1 iVm § 31 letzter Satz VfGG).

III.Ergebnis

1.Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Kamerun unter Setzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt worden.

2.Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3.Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen.

4.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 bzw § 19 Abs 3 Z 1 iVm § 31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5.Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

6.Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VFGH:2019:E3456.2019
Schlagworte:
Asylrecht, Privat- und Familienleben, Rückkehrentscheidung, Kinder

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