VfGH vom 26.06.2018, E3414/2017
Leitsatz
Verletzung im Gleichheitsrecht durch Einstellung und Rückforderung von Hilfeleistungen nach dem VerbrechensopferG aufgrund denkunmöglicher Anwendung einer Ausschlussbestimmung; Verzicht auf Schadenersatzansprüche aus dem Titel der Amtshaftung wegen Verletzung von Überwachungs- und Kontrollpflichten bildet keinen Ausschlussgrund nach dem VerbrechensopferG
Spruch
I.Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II.Der Bund (Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I.Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1.Mit Bescheid des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Steiermark, vom wurde der Beschwerdeführerin gemäß §§1 und 2 Z 1 iVm § 3 des Bundesgesetzes vom über die Gewährung von Hilfeleistungen an Opfer von Verbrechen (Verbrechensopfergesetz − VOG), BGBl 288/1972 idF BGBl I 58/2013, Ersatz des Verdienstentganges und Hilfeleistung in Form von Heilfürsorge wegen ihrer im Zuge ihrer Unterbringung bei einer Pflegefamilie in der Kindheit und Jugend erlittenen, verbrechensbedingten Gesundheitsschädigungen ab September 2012 zuerkannt. Mit Bescheid des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen vom wurde der bewilligte Ersatz des Verdienstentganges neu berechnet.
2.Mit Schriftsatz vom erhob die Beschwerdeführerin vor dem Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz Klage gegen das Land Steiermark als Rechtsträger der für die Unterbringung bei der Pflegefamilie zuständigen Jugendfürsorgebehörden. Sie begehrte aus dem Titel der Amtshaftung die Zahlung von € 200.000,− an Schmerzengeld und € 317.766,80 als Verdienstentgang, wobei sie das in den Jahren 1977 bis 2000 erzielte Einkommen, die seit dem Jahr 2000 bis 2013 erhaltene Invaliditätspension sowie die bereits gemäß VOG im Jahr 2013 erhaltenen Leistungen anrechnete. Gleichzeitig begehrte sie die Feststellung, dass die beklagte Partei für in Hinkunft eintretende Schäden, resultierend aus der pflichtwidrigen Ausübung der Aufsichtspflicht der Beamten der Behörde im Zusammenhang mit dem Aufenthalt der Beschwerdeführerin bei den Pflegeeltern, hafte. Am schloss sie mit der Beklagten einen Vergleich über die Zahlung von € 130.000,− (zuzüglich Ersatz der Prozesskosten). Gleichzeitig wurde vereinbart, dass mit diesem Vergleich sämtliche Ansprüche welcher Art auch immer der Klägerin gegen die Beklagte aus dem klagsgegenständlichen Sachverhalt bereinigt und verglichen seien, und zwar auch dann, wenn aus diesem in der Zukunft zur Zeit nicht bekannte, erkennbare oder voraussehbare Folgen eintreten sollten.
3.Auf Ersuchen des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen wurde dieser Vergleich von Seiten des Rechtsvertreters der Beschwerdeführerin übermittelt und mitgeteilt, dass sich der Vergleichsbetrag in Höhe von € 130.000,− aus einem Betrag von € 100.000,− an Schmerzengeld und € 30.000,− an Verdienstentgang für den Zeitraum März 2000 bis Mai 2013 zusammensetze. Mit Bescheid vom stellte das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen die Hilfeleistung in Form des Verdienstentganges gemäß § 8 Abs 3 1. Fall iVm § 10 Abs 2 VOG ab ein und forderte die im Zeitraum von bis zu Unrecht empfangenen Hilfeleistungen gemäß § 10 Abs 3 VOG iVm § 58 des Bundesgesetzes vom 5. Feber 1964 über die Versorgung der den Präsenzdienst leistenden Wehrpflichtigen und ihrer Hinterbliebenen (Heeresversorgungsgesetz − HVG), BGBl 27/1964 idF vor BGBl I 162/2015, zurück.
4.Mit der nunmehr angefochtenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes wurde die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Hilfeleistung ab eingestellt werde, der Bescheid im Übrigen aber − sohin auch in Hinblick auf die Rückforderung der zu Unrecht empfangenen Hilfeleistungen − unverändert bleibe. Begründend führt das Bundesverwaltungsgericht auf das Wesentliche zusammengefasst aus, die Beschwerdeführerin habe gegenüber dem Land Steiermark auf sämtliche Schadenersatzforderungen, somit auch in Form des Verdienstentganges, aus dem Verbrechen verzichtet und dadurch einen nachträglichen Ausschlussgrund nach § 8 Abs 3 VOG gesetzt. Soweit die Beschwerdeführerin vorbringe, sie habe zu keinem Zeitpunkt die Absicht gehabt, einen Ausschlussgrund iSd § 8 VOG zu setzen, sei ihr entgegen zu halten, dass es sich bei dem Ausschlussgrund des § 8 Abs 3 1. Fall VOG um die nicht der Disposition der Parteien unterliegende Rechtsfolge des Verzichts der Beschwerdeführerin auf sämtliche Ansprüche aus dem klagsgegenständlichen Sachverhalt gegenüber dem Land Steiermark handle. Insofern gehe auch das Vorbringen, die Behörde hätte die Absicht der Parteien ermitteln müssen, ins Leere. Es lägen auch keine Anhaltspunkte für die behauptete und nicht näher begründete Sittenwidrigkeit der Vereinbarung vor. Da die Hilfeleistung gemäß § 10 Abs 2 VOG ende, wenn nachtäglich ein Ausschlussgrund nach § 8 VOG eintrete, der Vergleich einen nachträglichen Ausschlussgrund darstelle und dieser am gesetzt worden sei, seien die Hilfeleistungen an die Beschwerdeführerin mit einzustellen. Für die von der Behörde vorgenommene rückwirkende Einstellung bestehe hingegen keine Rechtsgrundlage.
Unter Verweis auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes führt das Bundesverwaltungsgericht weiter aus, die − im zivilgerichtlichen Verfahren rechtsfreundlich vertretene − Beschwerdeführerin sei seit der Zuerkennung der Leistung ab September 2012 von der Behörde mehrfach schriftlich darauf hingewiesen worden, dass der Verzicht auf Schadenersatzforderungen den Verlust bzw. zumindest die Minderung des Anspruches nach dem VOG zur Folge haben könne. Soweit sich die Beschwerdeführerin mit dem Vorbringen, dass auch alle am Vergleich beteiligten rechtskundigen Personen davon ausgegangen seien, dass der Verzicht keinen Einfluss auf ihre Leistungen nach dem VOG habe, auf einen Rechtsirrtum berufe, sei ihr entgegen zu halten, dass sie sich bei Zweifeln über die Rechtswirkungen des Vergleichs bei der zuständigen Behörde erkundigen hätte müssen. Somit sei das Verschulden an der Ungebührlichkeit der Leistung iSd § 58 Abs 1 letzter Satz HVG im vorliegenden Fall bereits auf Grund der Aktenlage zu bejahen. Eine Befreiung von der Rückersatzpflicht ungebührlich empfangener Leistungen trete jedoch nur dann ein, wenn beide in § 57 HVG genannten Voraussetzungen − mangelndes Verschulden und gutgläubiger Empfang − gegeben seien. Da die Behörde den Feststellungen zufolge am vom Vergleichsabschluss erfahren habe, seien die im Zeitraum von bis erbrachten Leistungen zurückzufordern.
5.Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Unversehrtheit des Eigentums, auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz sowie gemäß Art 6 EMRK behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.
Begründend wird dazu im Wesentlichen ausgeführt, das Bundesverwaltungsgericht habe § 8 Abs 3 VOG denkunmöglich angewendet. Der im Verfahren vor dem Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz geschlossene Vergleich halte ausdrücklich fest, dass lediglich sämtliche Ansprüche zwischen der Beschwerdeführerin und dem Land Steiermark bereinigt und verglichen seien. Ein Verzicht auf Leistungen nach dem VOG sei daher nicht impliziert, weshalb aus dem Vergleich keinesfalls ein Ausschlussgrund nach § 8 Abs 3 VOG abgeleitet werden könne. Festzuhalten sei, dass der Vergleich mit dem Land Steiermark im Zusammenhang mit der diesem vorgeworfenen Verletzung der Aufsichtspflicht betreffend die Unterbringung der Beschwerdeführerin bei den Pflegeeltern geschlossen worden sei, nicht jedoch auch mit den direkten Schädigern bzw. deren Rechtsnachfolgern. Sinn und Zweck des § 8 Abs 3 VOG sei insbesondere, dass Personen, welche gegenüber ihren unmittelbaren Schädigern auf Schadenersatzansprüche aus dem Verbrechen verzichtet haben, nicht weiterhin Hilfeleistungen nach dem VOG beziehen sollten, zumal hiermit der ausbezahlenden Stelle jegliche Möglichkeit eines Regresses genommen und der unmittelbare Schädiger entlastet würde. Gerade dies sei jedoch gegenständlich nicht der Fall. Die Beschwerdeführerin habe lediglich auf ihre Ansprüche aus dem klagsgegenständlichen Sachverhalt gegenüber dem Land Steiermark, nicht jedoch gegenüber den Pflegeeltern bzw. deren Rechtsnachfolgern verzichtet. Dem Land Steiermark stünden daher nach wie vor Regressmöglichkeiten gegenüber den Pflegeeltern zu.
§8 Abs 3 VOG widerspreche auch dem Gleichheitsgebot des Art 7 B-VG, zumal nicht danach differenziert werde, ob noch Regressansprüche gegenüber den unmittelbaren Schädigern geltend gemacht werden könnten bzw. wie umfassend ein allfälliger Verzicht abgegeben worden sei, sondern bestimme lediglich pauschal, dass von Hilfeleistungen jene Personen ausgeschlossen würden, "die auf ihre Schadenersatzansprüche aus dem Verbrechen verzichtet haben". In diesem Sinne liege eine unsachliche Differenzierung dahingehend vor, als Verbrechensopfern durch eine derart umfängliche Auslegung eines Verzichtes auf ihre Ansprüche – unabhängig davon, wem gegenüber ein solcher abgegeben wurde − im Sinne des § 8 Abs 3 VOG jede Gelegenheit genommen würde, ihre Ansprüche geltend zu machen.
Auch die Vorgehensweise, aus einem Verzicht auf Ansprüche gegenüber dem Land Steiermark in einem Amtshaftungsverfahren aus der Verletzung der Aufsichtspflicht von Beamten des Landes Steiermark bereits ausbezahlte Hilfeleistungen nunmehr über einen Zeitraum von drei Jahren gemäß § 10 Abs 3 VOG iVm § 58 HVG rückwirkend zurückzufordern, widerspreche dem Vertrauensgrundsatz. Es handle sich hierbei um einen schwerwiegenden Eingriff in eine Rechtsposition, auf deren Bestand die Beschwerdeführerin mit guten Gründen vertrauen konnte. Tatsächlich habe die Beschwerdeführerin zu keinem Zeitpunkt die Absicht gehabt, einen Ausschlussgrund im Sinne des § 8 VOG zu setzen bzw. einen derartigen Verzicht abzugeben; dies sei auch dem Land Steiermark als beklagte Partei eindeutig erkennbar gewesen.
Im Übrigen habe es das Bundesverwaltungsgericht unterlassen, die von der Beschwerdeführerin namhaft gemachten Zeugen zu laden bzw. anzuhören. Das Bundesverwaltungsgericht habe daher trotz entsprechenden Vorbringens keinerlei Erhebungen dahingehend vorgenommen, welche Absicht hinter dem geschlossenen Vergleich gelegen sei bzw. ob die Beschwerdeführerin über die Rechtsfolgen eines derartigen Verzichtes aufgeklärt worden sei. Die Beschwerdeführerin habe die Hilfeleistungen auch in gutem Glauben empfangen, ein Verschulden im Sinne des § 58 HVG treffe sie keinesfalls.
6.Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen.
7.Das Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz hat dem Verfassungsgerichtshof die Gerichtsakten übermittelt.
II.Rechtslage
Die im vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:
1.§§1 bis 3, 8 und 10 des Bundesgesetzes vom über die Gewährung von Hilfeleistungen an Opfer von Verbrechen (Verbrechensopfergesetz − VOG), BGBl 288/1972, lauten idF BGBl I 57/2015 auszugsweise:
"Kreis der Anspruchsberechtigten
§1. (1) Anspruch auf Hilfe haben österreichische Staatsbürger, wenn mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sie
1. durch eine zum Entscheidungszeitpunkt mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erlitten haben oder
2. durch eine an einer anderen Person begangene Handlung im Sinne der Z 1 nach Maßgabe der bürgerlich-rechtlichen Kriterien einen Schock mit psychischer Beeinträchtigung von Krankheitswert erlitten haben oder
3. als Unbeteiligte im Zusammenhang mit einer Handlung im Sinne der Z 1 eine Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung erlitten haben, soweit nicht hieraus Ansprüche nach dem Amtshaftungsgesetz, BGBl Nr 20/1949, bestehen,
und ihnen dadurch Heilungskosten erwachsen sind oder ihre Erwerbsfähigkeit gemindert ist. […]
(2) Hilfe ist auch dann zu leisten, wenn
1. die mit Strafe bedrohte Handlung im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit begangen worden ist oder der Täter in entschuldigendem Notstand gehandelt hat,
2. die strafgerichtliche Verfolgung des Täters wegen seines Todes, wegen Verjährung oder aus einem anderen Grund unzulässig ist oder
3. der Täter nicht bekannt ist oder wegen seiner Abwesenheit nicht verfolgt werden kann.
(3) Wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit ist Hilfe nur zu leisten, wenn
1. dieser Zustand voraussichtlich mindestens sechs Monate dauern wird oder
2. durch die Handlung nach Abs 1 eine schwere Körperverletzung (§84 Abs 1 StGB, BGBl Nr 60/1974) bewirkt wird.
(4) - (8) […].
Hilfeleistungen
§2. Als Hilfeleistungen sind vorgesehen:
1. Ersatz des Verdienst- oder Unterhaltsentganges;
2. Heilfürsorge
a) ärztliche Hilfe,
b) Heilmittel,
c) Heilbehelfe,
d) Anstaltspflege,
e) Zahnbehandlung,
f) Maßnahmen zur Festigung der Gesundheit (§155 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes, BGBl Nr 189/1955);
2a. - 9. […]
10. Pauschalentschädigung für Schmerzengeld.
Ersatz des Verdienst- oder Unterhaltsentganges
§3. (1) Hilfe nach § 2 Z 1 ist monatlich jeweils in Höhe des Betrages zu erbringen, der dem Opfer durch die erlittene Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung (§1 Abs 3) als Verdienst oder den Hinterbliebenen durch den Tod des Unterhaltspflichtigen als Unterhalt entgangen ist oder künftighin entgeht. Sie darf jedoch zusammen mit dem Einkommen nach Abs 2 den Betrag von monatlich 2 068,78 Euro nicht überschreiten. Diese Grenze erhöht sich auf 2 963,23 Euro, sofern der Anspruchsberechtigte seinen Ehegatten überwiegend erhält. […] Diese Beträge sind ab und in der Folge mit Wirkung vom 1. Jänner eines jeden Jahres mit dem für den Bereich des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes festgesetzten Anpassungsfaktor zu vervielfachen. Die vervielfachten Beträge sind auf Beträge von vollen 10 Cent zu runden; hiebei sind Beträge unter 5 Cent zu vernachlässigen und Beträge von 5 Cent an auf 10 Cent zu ergänzen. Übersteigt die Hilfe nach § 2 Z 1 zusammen mit dem Einkommen nach Abs 2 die Einkommensgrenze, so ist der Ersatz des Verdienst- oder Unterhaltsentganges um den die Einkommensgrenze übersteigenden Betrag zu kürzen.
(2) Als Einkommen gelten alle tatsächlich erzielten und erzielbaren Einkünfte in Geld oder Güterform einschließlich allfälliger Erträgnisse vom Vermögen, soweit sie ohne Schmälerung der Substanz erzielt werden können, sowie allfälliger Unterhaltsleistungen, soweit sie auf einer Verpflichtung beruhen. Außer Betracht bleiben bei der Feststellung des Einkommens Familienbeihilfen nach dem Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl Nr 376, Leistungen der Sozialhilfe und der freien Wohlfahrtspflege sowie Einkünfte, die wegen des besonderen körperlichen Zustandes gewährt werden (Pflegegeld, Pflegezulage, Blindenzulage und gleichartige Leistungen). Auf einer Verpflichtung beruhende Unterhaltsleistungen sind nicht anzurechnen, soweit sie nur wegen der Handlung im Sinne des § 1 Abs 1 gewährt werden.
[…]
Ausschlußbestimmungen
§8. (1) - (2) […]
(3) Von Hilfeleistungen sind Personen ausgeschlossen, die auf ihre Schadenersatzansprüche aus dem Verbrechen verzichtet haben oder soweit sie auf Grund ausländischer gesetzlicher Vorschriften gleichartige staatliche Leistungen erhalten können.
(4) Von Hilfeleistungen nach § 2 Z 1, Z 5 litc, Z 6 und Z 7 sind Personen ausgeschlossen, die ein ihnen zumutbares Heil- oder Rehabilitationsverfahren ablehnen oder durch ihr Verhalten den Erfolg eines solchen Verfahrens gefährden oder vereiteln.
(5) Der Ersatz des Verdienst- oder Unterhaltsentganges (§2 Z 1) ist in dem Ausmaß zu mindern, als es das Opfer oder der Hinterbliebene vorsätzlich oder grob fahrlässig unterlassen hat, zur Minderung des Schadens beizutragen.
(6) Von der orthopädischen Versorgung (§2 Z 3) sind Personen ausgeschlossen, die auf Grund gesetzlicher Vorschriften Anspruch auf gleichartige Leistungen haben. Schadenersatzansprüche auf Grund bürgerlichrechtlicher Vorschriften gelten nicht als gleichartige Leistungen.
[…]
Beginn und Ende der Hilfeleistungen, Rückersatz und Ruhen
§10. (1) […].
(2) Die Hilfeleistung endet, wenn sich die für die Hilfeleistung maßgebenden Umstände ändern, nachträglich ein Ausschließungsgrund (§8) eintritt oder nachträglich hervorkommt, daß die Voraussetzungen für eine Hilfeleistung nicht gegeben sind.
(3) Hinsichtlich der Anzeige- und Ersatzpflicht des Leistungsempfängers sind die §§57 und 58 des Heeresversorgungsgesetzes anzuwenden.
(4) […]."
2.§§57 und 58 des Bundesgesetzes vom 5. Feber 1964 über die Versorgung der den Präsenzdienst leistenden Wehrpflichtigen und ihrer Hinterbliebenen (Heeresversorgungsgesetz − HVG), BGBl 27/1964, lauteten idF vor ihrer Aufhebung mit BGBl I 162/2015:
Anzeige- und Ersatzpflicht
§57. Die Versorgungsberechtigten sind verpflichtet, jede ihnen bekannte Veränderung in den rechtlichen Voraussetzungen für den Rentenbezug, die den Verlust, eine Minderung oder ein Ruhen des Anspruches begründet, binnen zwei Wochen dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen anzuzeigen. Für den aus der Unterlassung der Anzeige erwachsenden Schaden ist der Versorgungsberechtigte oder sein gesetzlicher Vertreter ersatzpflichtig. Einkommensänderungen, die zu einer Neubemessung von Versorgungsleistungen gemäß § 56 Abs 3 Z 4 führen, unterliegen nicht der Anzeigeverpflichtung.
§58. (1) Zu Unrecht empfangene Rentenbezüge und sonstige Geldleistungen einschließlich eines von einem Träger der Krankenversicherung für Rechnung des Bundes gezahlten Krankengeldes sind dem Bund zu ersetzen. Sie dürfen jedoch nur für einen Zeitraum von drei Jahren, gerechnet vom Ersten des Monates an, in dem die Behörde (§74) von dem Neubemessungs- oder Einstellungsgrund Kenntnis erlangt hat, zum Rückersatz vorgeschrieben werden, sofern die Leistungen nicht durch eine Handlung im Sinne des § 69 Abs 1 Z 1 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991, BGBl Nr 51, herbeigeführt worden sind. Trifft den Empfänger an der Ungebührlichkeit der Leistung kein Verschulden und ist die Leistung von diesem in gutem Glauben empfangen worden, so tritt keine Verpflichtung zum Rückersatz ein.
(2) Der Ersatz zu Unrecht empfangener Rentenbezüge und sonstiger Geldleistungen ist durch Aufrechnung zu bewirken. Kann keine Aufrechnung stattfinden, so ist der Ersatzpflichtige oder sein gesetzlicher Vertreter zur Rückzahlung zu verhalten. Ist die sofortige Hereinbringung durch Aufrechnung oder Rückzahlung auf Grund der wirtschaftlichen Verhältnisse des Ersatzpflichtigen nicht möglich oder nach der Lage des Falles unbillig, so ist die Forderung zu stunden oder die Abstattung in Raten zu bewilligen; Stundungszinsen sind nicht vorzuschreiben. Alle noch aushaftenden Teilbeträge werden aber sofort fällig, wenn der Ersatzpflichtige mit mindestens zwei Raten im Verzug ist. Bleibt die Aufforderung zur Rückzahlung erfolglos, so ist der Schadensbetrag im Verwaltungsweg einzutreiben.
(3) Die Verpflichtung zum Ersatz zu Unrecht empfangener Rentenbezüge oder sonstiger Geldleistungen ist mit Bescheid auszusprechen.
(4) Wenn die Verpflichtung zum Ersatz des Schadensbetrages eine besondere Härte bedeuten würde oder wenn das Verfahren zur Schadloshaltung des Bundes mit Kosten oder Weiterungen verbunden wäre, die in keinem Verhältnis zum Schadensbetrag stehen würden, kann von der Hereinbringung abgesehen werden."
3.§44 Heeresentschädigungsgesetz (HEG), BGBl I 162/2015, lautet:
"§44. (1) Das Heeresversorgungsgesetz (HVG) BGBl Nr 27/1964, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl I. Nr 81/2013, tritt mit Ablauf des außer Kraft. Soweit in diesem Bundesgesetz auf das HVG verwiesen wird, bezieht sich dies auf die vor der Aufhebung gültige Fassung.
(2) Soweit in den Sozialentschädigungsgesetzen auf das HVG verwiesen wird, bezieht sich dies auf die vor der Aufhebung gültige Fassung.
(3) - (4) […]."
III.Erwägungen
1.Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2.Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998 und 16.488/2002) nur vorliegen, wenn die angefochtene Entscheidung auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn das Verwaltungsgericht der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat.
Angesichts der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der angewendeten Rechtsvorschriften und des Umstandes, dass kein Anhaltspunkt dafür besteht, dass das Verwaltungsgericht diesen Vorschriften fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt hat, könnte der Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz nur verletzt worden sein, wenn das Verwaltungsgericht Willkür geübt hätte.
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 8808/1980 mwN, 14.848/1997, 15.241/1998 mwN, 16.287/2001, 16.640/2002).
2.1.Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
2.2.Nach § 1 Abs 1 VOG besteht ein Anspruch auf Hilfe, sofern der geltend gemachte Schaden (eine Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung, vgl. Z 1 und 3, oder ein Schock mit psychiatrischer Beeinträchtigung von Krankheitswert, Z 2) aus einer mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohten rechtswidrigen und vorsätzlichen Handlung resultiert.
§8 Abs 2 VOG lautete in der Stammfassung BGBl 288/1972: "Von Hilfeleistungen sind Personen ausgeschlossen, die auf ihre Schadenersatzansprüche aus dem Verbrechen verzichtet haben." Laut den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (Erläut. zur RV 40 BlgNR 13. GP, 12) sollte durch diese Bestimmung verhindert werden, dass der Geschädigte wegen der in Aussicht stehenden staatlichen Hilfe auf seine Schadenersatzansprüche gegen den Täter verzichtet.
Der Einführung des VOG lagen nach den Erläuterungen zur Regierungsvorlage folgende Überlegungen zugrunde:
"Die Pflicht zur Schadensgutmachung an Opfern strafbarer Handlungen schlechthin, also nicht nur an Opfern von Verbrechen, trifft nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechtes den Schädiger. Das Motiv für die staatliche Hilfeleistung liegt demnach nicht im Mangel eines Anspruches auf Schadloshaltung, sondern in der Unmöglichkeit diesen Anspruch durchzusetzen. Durch das vorliegende Gesetz soll somit nicht ein weiterer Anspruch auf Schadloshaltung, sondern die Möglichkeit der Vorleistung durch den Bund geschaffen werden; dies deshalb, weil der Schädiger in den seltensten Fällen in der Lage sein wird, die Schadenersatzansprüche des Geschädigten zu erfüllen. Der Bund tritt dadurch, daß er vorläufig Pflichten des Schädigers übernimmt, als Rechtssubjekt des Privatrechtes auf. […]
Im übrigen beruht der Gesetzentwurf auf folgenden Grundsätzen:
a) Hilfe soll Opfern von Verbrechen wegen eines Personenschadens geleistet werden, wenn dem Beschädigten hiedurch Heilungskosten erwachsen oder seine Erwerbsfähigkeit gemindert ist oder im Falle des Todes seinen Hinterbliebenen der Unterhalt entgeht;
b) eine Entschädigung soll nur dann erfolgen, wenn im Einzelfalle der Beschädigte oder seine Hinterbliebenen der Hilfe bedürfen;
c) nicht schutzwürdige Personen sollen von der Hilfeleistung ausgeschlossen werden;
d) Doppelentschädigungen sollen ausgeschlossen werden;
e) der Geschädigte hat nach Kräften zur Minderung des Schadens beizutragen."
(Erläut. zur RV 40 BlgNR 13. GP, 7)
2.3.Das VOG basiert demnach auf dem Gedanken, dass Schadenersatzforderungen, die vom Täter eines Verbrechens nicht eingebracht werden können, durch eine (Vor-)Leistung des Bundes übernommen werden (vgl. auch zu § 6a VOG). Aus den Erläuterungen zur Regierungsvorlage ist auch ersichtlich, dass der Verzicht auf Schadenersatzansprüche nach den Bestimmungen des ABGB gegenüber dem Täter nach dem Willen des Gesetzgebers einen Ausschlussgrund darstellen sollte.
Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin jedoch nicht auf (weitere) Schadenersatzleistungen des Täters aus dem Verbrechen verzichtet, welches anspruchsbegründend für die Leistungen nach dem VOG ist, sondern gegenüber dem Rechtsträger jener Behörde, der sie vorwirft, Überwachungs- und Kontrollpflichten bei der Überwachung der Pflegeeltern der Beschwerdeführerin nicht hinreichend wahrgenommen zu haben. Die Beschwerdeführerin hat sohin in dem vor dem Zivilgericht geschlossenen Vergleich ausschließlich auf Ansprüche aus dem klagsrelevanten Sachverhalt verzichtet (also der Vernachlässigung der Aufsichtspflicht durch die Behörde), nicht aber auf Schadenersatzleistungen, die unmittelbar aus einem Verbrechen iSd VOG resultieren.
Amtshaftungsansprüche gegen Organe des Bundes oder – wie hier – anderer Rechtsträger werden vom VOG nur in § 1 Abs 1 Z 3 genannt. Im vorliegenden Fall ist die Beschwerdeführerin jedoch mit Rücksicht auf das dem Land Steiermark vorgeworfene Unterlassen durch Beamte der Bezirksverwaltungsbehörde als Jugendwohlfahrtsträger nicht als Unbeteiligte anzusehen, sodass ein Anspruch nach § 1 Abs 1 Z 3 VOG nicht in Betracht kommt. Ansprüche aus dem Titel der Amtshaftung sind daher im vorliegenden Sachverhalt nicht unmittelbar durch das Verbrechen nach dem VOG begründet.
2.4.Der Verzicht auf Schadenersatzleistungen aus dem Titel der Amtshaftung wegen Verletzung von Überwachungs- und Kontrollpflichten stellt sohin auch keinen Ausschlussgrund in Hinblick auf Leistungen aus dem VOG iSd § 8 Abs 3 VOG dar. Das Bundesverwaltungsgericht hat daher dadurch, dass es vom Vorliegen eines Verzichtes der Beschwerdeführerin ausgegangen ist, insoweit den Inhalt des § 8 Abs 3 VOG verkannt und die Bestimmung denkunmöglich angewandt.
2.5.Leistungen aus dem VOG sind jedoch grundsätzlich subsidiär gegenüber Schadenersatzleistungen auf Grund anderer Anspruchsgrundlagen, soweit kongruente Leistungen gewährt werden. Vor diesem Hintergrund hat sich das Bundesverwaltungsgericht allerdings nicht hinreichend mit dem Inhalt des zivilgerichtlichen Verfahrens, in dem der Vergleich geschlossen wurde, auseinandergesetzt. Im fortgesetzten Verfahren wird das Bundesverwaltungsgericht zu prüfen haben, inwieweit eine Anrechnung von Leistungen aus dem Titel der Amtshaftung für kongruente Leistungen aus dem VOG vorzunehmen ist:
2.5.1.Die Beschwerdeführerin stützt die geltend gemachten Schadenersatzforderungen in ihrer Klage vor dem Zivilgericht auf Verdienstentgang und rechnet die im Zeitraum Mai bis Dezember 2013 erhaltenen Beträge bei der Festsetzung der Klagssumme an. Nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes hat die Beschwerdeführerin aus dem VOG Leistungen für Verdienstentgang ab September 2012 erhalten. Eine dem Schmerzengeld kongruente Leistung wurde der Beschwerdeführerin im Rahmen des VOG nicht zugesprochen.
2.5.2.Das Bundesverwaltungsgericht wird zu prüfen haben, ob die Beschwerdeführerin damit ab September 2012 einen mehrfachen Ersatz des Verdienstentganges lukriert hat und falls ja, welche Anteile des auf den Verdienstentgang entfallenden Betrages der Vergleichssumme auf kongruente Leistungen aus dem VOG anzurechnen sein könnten. Hierbei wird das Bundesverwaltungsgericht zu beurteilen haben, welcher Teil des Vergleichsbetrages für Schmerzengeld gewidmet ist und ob der auf Verdienstentgang entfallende Teil auf den vom Vertreter der Beschwerdeführerin genannten Zeitraum von März 2000 bis Mai 2013 oder − mangels Erklärung der Parteien im Rahmen des Vergleichsabschlusses − auf den gesamten Zeitraum, der Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens war, aufzuteilen bzw. anzurechnen ist.
IV.Ergebnis
1.Die Beschwerdeführerin ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
2.Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 bzw. § 19 Abs 3 Z 1 iVm § 31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4.Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.
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ECLI: | ECLI:AT:VFGH:2018:E3414.2017 |
Schlagworte: | Opferfürsorge, Verbrechensopfer, Auslegung eines Gesetzes, Auslegung verfassungskonforme |
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