VfGH vom 22.09.2017, E3289/2016

VfGH vom 22.09.2017, E3289/2016

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz und Erlassung einer Rückkehrentscheidung für eine Staatsangehörige der Russischen Föderation; Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes und aktenwidrige Entscheidungsbegründung in Bezug auf die Ermordung des Lebensgefährten und die behaupteten Misshandlungen der Beschwerdeführerin

Spruch

I.Die Beschwerdeführerin ist durch die angefochtene Entscheidung in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Die Entscheidung wird aufgehoben.

II.Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.Die Beschwerdeführerin, geboren am , ist Staatsangehörige der Russischen Föderation. Am stellte sie in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund gab sie im Wesentlichen an, dass sie in Dagestan als Kurier für ihren Lebensgefährten A tätig gewesen sei, der bei einem Zeitungsverlag Reportagen über Menschenrechtsverletzungen, insbesondere durch die Sicherheitsbehörden, verfasst habe. A sei am ermordet worden. Am Abend desselben Tages seien Personen der Sicherheitsbehörde in ihr Haus eingedrungen und hätten nach Dokumenten, die ihr ihr Lebensgefährte gegeben habe, gesucht. Sie sei geschlagen und auf ihrem Körper seien Zigaretten ausgedämpft worden. Von diesen Misshandlungen seien Narben zurückgeblieben. Drei Wochen nach diesem Überfall habe sie sich bis zur Ausreise im Haus ihrer Freundin versteckt.

2.Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz der Beschwerdeführerin ab, erteilte ihr keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und erklärte ihre Abschiebung in die Russische Föderation für zulässig. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

3.Am beauftragte das Bundesverwaltungsgericht einen medizinischen Sachverständigen, der in seinem Gutachten vom u.a. zum Ergebnis kam, dass "[i]m Bereich des Halses und der Unterlippe […] Veränderungen erkennbar [sind], für deren Entstehung Misshandlungen (Zigaretten, Schläge) in Frage kommen können". Eine zeitmäßige Zuordnung der beschriebenen Veränderungen sei nicht möglich.

Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde der Beschwerdeführerin nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab. Es stellte u.a. fest, dass A, ein ausgebildeter Kardiologe und Journalist, am erschossen worden sei, und dass er zehn Jahre lang als stellvertretender Chefredakteur für eine bezeichnete Zeitung gearbeitet und dort hauptsächlich Reportagen zu Menschenrechtsverletzungen, insbesondere betreffend Foltervorwürfe durch die Polizei, bearbeitet habe.

Die Abweisung der Beschwerde hinsichtlich des Antrages auf internationalen Schutz begründete das Bundesverwaltungsgericht mit der Unglaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin. Im Wesentlichen führte es dazu aus, dass die Beschwerdeführerin "erstaunlich wenig über die inhaltliche Arbeit ihres angeblich langjährigen Lebensgefährten und die sensiblen Dokumente, die bei ihr verstreckt worden sein sollen" wisse. Dazu komme, dass sie "das Vorbringen, die Sicherheitsbehörden hätten sie nach konkreten Unterlagen gefragt, die A[…] einige Tage vor seinem Tod wieder mitgenommen hätte, erst in der mündlichen Beschwerdeverhandlung erwähnt" habe. "Im Dunkeln" bleibe weiter, warum A überhaupt bei ihr die Unterlagen versteckt haben soll. Dieser sei stellvertretender Chefredakteur einer Zeitung gewesen und sollte dort über Infrastruktur in Form eines Büros oder von Mitarbeitern verfügt haben.

Zum medizinischen Gutachten führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Hautveränderungen von Zigaretten und die Narbe an der Unterlippe der Beschwerdeführerin von Schlägen herrühren können, das Gutachten jedoch nicht bestätigen könne, dass es zu diesen Verletzungen tatsächlich in dem genannten Zeitraum gekommen sei. Daraus folgerte es, dass sich aus dem Gutachten keine Erkenntnisgewinne ziehen ließen, die geeignet wären, mit den beschriebenen Unstimmigkeiten im Vorbringen der Beschwerdeführerin die Misshandlung durch Sicherheitsbeamte glaubhaft zu machen.

4.Gegen diese Beschwerde richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere durch den Verstoß gegen das Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

5.Das Bundesverwaltungsgericht hat die bezughabenden Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt. Eine Gegenschrift wurde nicht erstattet.

II.Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:

1.Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs 1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001)oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001). Ein willkürliches Verhalten liegt insbesondere auch dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Entscheidung mit Ausführungen begründet, denen jeglicher Begründungswert fehlt (s. etwa VfSlg 13.302/1992 mwN, 14.421/1996, 15.743/2000).

2.Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

Das Bundesverwaltungsgericht geht im Ergebnis von der Unglaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin aus, lässt dabei aber völlig außer Acht, dass die Beschwerdeführerin ihr Fluchtvorbringen – Kuriertätigkeit für einen regimekritischen Journalisten und Misshandlungen durch die Sicherheitsexekutive – im Kern stets gleich und zusammenhängend beschrieben hat (vgl. mwN). Auch ist es aktenwidrig, dass die Beschwerdeführerin erst in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht die Unterlagen, die am Tag der vorgebrachten Ermordung ihres Lebensgefährten in ihrem Haus gesucht worden seien, erstmals erwähnt habe, da sie bereits in ihrer ersten behördlichen Einvernahme angegeben hat, dass bei der überfallsartigen Hausdurchsuchung, anlässlich derer sie auch gefoltert worden sei, letztlich Dokumente mitgenommen worden seien. Zudem geht das Bundesverwaltungsgericht von den Äußerungen des Sachverständigen im erstatteten Gutachten ohne ausreichende Begründung ab, obwohl dieser festgestellt hat, dass für die "Hautveränderungen" an Hals und Lippe der Beschwerdeführerin Misshandlungen als Ursache in Frage kommen können (vgl. ), was noch dazu die Glaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin untermauert.

Schon aus diesen Gründen hat das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidung mit einem in die Verfassungssphäre reichenden Begründungsmangel belastet.

III.Ergebnis

1.Die Beschwerdeführerin ist durch die angefochtene Entscheidung in dem durch das Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973 verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Die Entscheidung ist daher – weil die (Nicht-)Gewährung subsidiären Schutzes und die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung von der Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten abhängt – zur Gänze aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3.Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VFGH:2017:E3289.2016
Schlagworte:
Asylrecht, Rückkehrentscheidung, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung

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