VfGH vom 24.02.2020, E3273/2019
Leitsatz
Verletzung im Gleichheitsrecht durch denkunmögliche Auslegung des Begriffs "unbebautes Grundstück" bei Erteilung einer Baubewilligung zur Errichtung eines Auszugshauses auf einem an einen Betrieb angrenzenden Grundstück
Spruch
I.Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Beschluss im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz gemäß Art 2 StGG und Art 7 B-VG verletzt worden.
Der Beschluss wird aufgehoben.
II.Das Land Oberösterreich ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I.Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1.Die zwei Eigentümer des Grundstückes Nr 3957, KG Atzbach beantragten am die Erteilung einer Baubewilligung zur Errichtung eines Auszugshauses mit einer Garage. Mit Bescheid vom erteilte der Bürgermeister der Gemeinde Atzbach die beantragte Baubewilligung unter Vorschreibung von Bedingungen und Auflagen. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, der Eigentümer des unmittelbar angrenzenden Grundstückes Nr 3954, KG Atzbach ist, Beschwerde.
2.Mit Beschluss vom wies das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich die Beschwerde des Beschwerdeführers zurück. Im Rahmen der Feststellungen führte es aus, dass sich auf dem zu bebauenden Grundstück "bereits diverse Bauten befinden". Rechtlich wurde unter anderem ausgeführt, dass der Beschwerdeführer Nachbar iSd § 31 Abs 1 Oberösterreichische Bauordnung 1994 (im Folgenden: Oö. BauO 1994) sei und ihm nur ein beschränktes Mitspracherecht zustehe. Eine Rechtswidrigkeit sei nur innerhalb der Nachbarn zustehenden subjektiv-öffentlichen Rechte aufzugreifen. Zum Vorbringen des Beschwerdeführers, dass er auf seinem Grundstück selbst einen landwirtschaftlichen Betrieb führe und durch das geplante Bauvorhaben die Gefahr von Einschränkungen seines Betriebes bestehe, genüge es, auf den eindeutigen Wortlaut des § 31 Abs 5 0ö. BauO 1994 hinzuweisen. Die darin angeführte Einwendung ("heranrückende Bebauung") könne nur im Falle des Neubaus eines Wohngebäudes auf einem bisher unbebauten Grundstück erhoben werden (Hinweis auf ). Im hier zu beurteilenden Fall solle aber das geplante Bauvorhaben auf einem bereits bebauten Grundstück durchgeführt werden. Damit fehle es schon an einer gesetzlich normierten Voraussetzung für eine Einwendung wegen heranrückender Bebauung. Da die Verfahrensrechte des Nachbarn im Baubewilligungsverfahren nicht weiter gehen könnten als seine materiellen Rechte, sei auch nicht zu ermitteln gewesen, welche (genehmigten) Emissionen allenfalls vom Betrieb des Beschwerdeführers ausgingen.
3.Gegen diesen Beschluss richtet sich die auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz gemäß Art 2 StGG und Art 7 B-VG, auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter gemäß Art 83 Abs 2 B-VG sowie in Rechten wegen Anwendung der nach Ansicht des Beschwerdeführers verfassungswidrigen Bestimmung des § 31 Abs 1 Oö. BauO 1994 geltend gemacht und die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.
4.Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich und der Bürgermeister der Gemeinde Atzbach haben die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, eine Gegenschrift wurde nicht erstattet.
II.Rechtslage
§31 Abs 4 und 5 Oö. BauO 1994 (LGBl 66/1994 idF LGBl 34/2013) lautet:
"(4) Öffentlich-rechtliche Einwendungen der Nachbarn sind im Baubewilligungsverfahren nur zu berücksichtigen, wenn sie sich auf solche Bestimmungen des Baurechts oder eines Flächenwidmungsplanes oder Bebauungsplanes stützen, die nicht nur dem öffentlichen Interesse, sondern auch dem Interesse der Nachbarschaft dienen. Hiezu gehören insbesondere alle Bestimmungen über die Bauweise, die Ausnutzbarkeit des Bauplatzes, die Lage des Bauvorhabens, die Abstände von den Nachbargrenzen und Nachbargebäuden, die Gebäudehöhe, die Belichtung und Belüftung sowie jene Bestimmungen, die gesundheitlichen Belangen oder dem Schutz der Nachbarschaft gegen Immissionen dienen.
(5) Bei Neubauten auf bisher unbebauten Grundstücken (heranrückende Bebauung) sind auch Einwendungen zu berücksichtigen, mit denen Immissionen geltend gemacht werden, die von einer bestehenden benachbarten baulichen Anlage ausgehen und auf das geplante Bauvorhaben einwirken. Dies gilt jedoch nur für Immissionen, die aufgrund rechtskräftiger Bescheide zulässig sind. In diesem Fall hat der Nachbar die entsprechenden Nachweise beizubringen."
III.Erwägungen
1.Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2.Die Einwendungen des Beschwerdeführers hat das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich mit der Begründung zurückgewiesen, dass das zu bebauende Grundstück, weil es bereits bebaut sei, kein "bisher unbebautes Grundstück" sei.
3.Der Verfassungsgerichtshof führte in seinem Erkenntnis VfSlg 15.561/1997 aus:
"Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem richtungsweisenden Erkenntnis VfSlg 12.468/1990 zu § 6 Abs 8 der Wiener Bauordnung erkannt hat, ist einer Vorschrift, die die Errichtung von Betrieben in Wohngebieten beschränkt, ein allgemeiner Grundsatz zu entnehmen, der insbesondere die Qualität der Wohnverhältnisse sicherstellen will. Erfaßt man die Regelung nach dem evidenten Zweck, so fehlte es an einer sachlichen Rechtfertigung für die Annahme, daß eine vom Gesetz verpönte schwerwiegende Beeinträchtigung ausschließlich dann zu unterbinden ist, wenn die Quelle der Emissionen geschaffen werden soll, nicht hingegen in dem bloß durch die zeitliche Abfolge verschiedenen Fall, daß sie bereits besteht und erst durch die Errichtung von Wohnhäusern ihre beeinträchtigende Wirkung entfalten kann. Der Verfassungsgerichtshof hat diese Aussagen in den Erkenntnissen VfSlg 13.210/1992 (zu § 23 Abs 2 Oö. Bauordnung) und VfSlg 14.943/1997 (zu § 134 Abs 3 und § 134a der Wiener Bauordnung) wiederholt.
[…] Überträgt man die in den genannten Vorerkenntnissen des Verfassungsgerichtshofs vertretene Rechtsansicht auf die Regelung des § 21 Abs 5 der Kärntner Bauordnung 1992, so kommt man zum Ergebnis, daß der Wortfolge "die dem Schutz der Nachbarschaft ... dienen" auch der Fall des Inhabers einer gewerblichen Betriebsanlage zu unterstellen ist, dessen rechtliche Interessen durch die Bewilligung einer Wohnbebauung auf dem Nachbargrundstück deshalb berührt werden, weil er beispielsweise mit Auflagen der Gewerbebehörde zum Schutz der Nachbarschaft gegen Immissionen rechnen muß (vgl VfSlg 15.188/1998)."
4.In seinem Erkenntnis VfSlg 15.891/2000 führte der Verfassungsgerichtshof aus:
"Die oberösterreichische Bauordnung 1976 ordnete in § 23 Abs 2 idF LGBl Nr 82/1983 (VfSlg 13.210/1992) an, dass bauliche Anlagen in allen ihren Teilen so geplant und errichtet werden müssen, dass schädliche Umwelteinwirkungen möglichst vermieden werden. Schädliche Umwelteinwirkungen waren als solche definiert, die geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit und im Besonderen für die Benützer der Bauten und die Nachbarschaft herbeizuführen, wie durch Luftverunreinigung (Änderung der natürlichen Zusammensetzung der freien Luft zum Beispiel durch Rauch, Ruß, Staub und andere Schwebstoffe, Dämpfe, Gase und Geruchsstoffe), Lärm oder Erschütterung. Im Erkenntnis VfSlg 13.210/1992 sprach nun der Verfassungsgerichtshof aus, dass § 23 Abs 2 auch Immissionen ('schädliche Umwelteinwirkungen') eines bereits bestehenden Gebäudes auf das Bauprojekt vermeiden will. Auch die geltende Rechtslage enthält fast gleich lautende Anordnungen zur Vermeidung schädlicher Umwelteinwirkungen (§3 Z 4 iVm § 2 Z 36 Oö. Bautechnikgesetz, LGBl Nr 67/1994 idF 5/1995).
Der Verfassungsgerichtshof geht angesichts dieser Rechtsprechung und dem durch § 3 Z 4 iVm § 2 Z 36 Oö. Bautechnikgesetz zum Ausdruck kommenden Zweck der Sicherung der Qualität der Wohnverhältnisse in Zusammenschau mit der Wortfolge 'Bestimmungen (...) des Flächenwidmungsplanes (...), die (...) dem Schutz der Nachbarschaft gegen Immissionen dienen' im § 31 Abs 4 leg. cit. Oö. BauO 1994 davon aus, dass der Abs 5 des § 31 leg. cit. folgendermaßen auszulegen ist: Das Grundstück gilt nur dann als bisher unbebaut, wenn es bisher keine in Bezug auf die jeweils relevante Immission empfindliche Bebauung aufweist. Unter dem Gesichtspunkt des Immissionsschutzes besteht ein gravierender Unterschied, ob das Nachbargrundstück einer Betriebsanlage zum Zeitpunkt der Baubewilligung dieser Betriebsanlage mit einem Wohn- oder Betriebsgebäude bebaut war. Grenzte bereits damals ein Wohngebäude an die Betriebsanlage an, so waren allfällige schädliche Umwelteinwirkungen der Betriebsanlage auf das angrenzende Wohngebäude im gewerbebehördlichen Betriebsanlagenverfahren zu berücksichtigen. War das an die Betriebsanlage angrenzende Grundstück damals ebenfalls betrieblich genutzt und bedurfte der Betrieb keines besonderen Immissionsschutzes, so waren im gewerbebehördlichen Betriebsanlagenverfahren eine allfällige Beeinträchtigung oder Belästigungen eines Betriebes auf den anderen zu beurteilen. Wird hingegen auf einem Grundstück, das damals betrieblich genutzt wurde und an einen Betrieb grenzte, ein Wohngebäude errichtet, so lassen die nun beabsichtigten Wohnbauten strengere Auflagen durch die Gewerbebehörde aufgrund der mit dem Gewerbebetrieb verbunden Gefahren oder Belästigungen für die Bewohner des angrenzenden Wohngebäudes erwarten. Im früheren Betriebsanlagengenehmigungsverfahren war bei der Beurteilung der Immissionen auf das Nachbargrundstück davon auszugehen, dass dieses ebenfalls betrieblich genutzt wird und keines besonderen Immissionsschutzes bedarf."
5.Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich hätte angesichts dieser Judikatur die Wortfolge "unbebautes Grundstück" im § 31 Abs 5 Oö. BauO 1994 verfassungskonform im Sinne der Ausführungen in Punkt III.4. auslegen müssen. Es hätte weiters ermitteln müssen, ob die bisherigen auf dem Grundstück Nr 3957 befindlichen Bauten zu Betriebszwecken genutzt worden sind. Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich ist daher von einem gleichheitswidrigen Verständnis der zitierten Gesetzesstelle ausgegangen und hat dadurch den Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt.
6.Der Beschluss ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
7.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
8.Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in Höhe von € 240,– enthalten.
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:VFGH:2020:E3273.2019 |
Schlagworte: | Baurecht, Auslegung verfassungskonforme, Nachbarrechte, Bebauungsplan |
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