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VfGH vom 03.10.2019, E3247/2019

VfGH vom 03.10.2019, E3247/2019

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens betreffend die Rückkehrentscheidung gegen einen Staatsangehörigen der Russischen Föderation; Verletzung hinsichtlich des Familienlebens mit - als Flüchtlingen anerkannten - russischen Töchtern und Ehefrau; besonders intensiver Eingriff in Familienleben, weil dessen Fortsetzung im Herkunftsstaat aussichtslos erscheint und die Aufrechterhaltung per Telekommunikation lebensfremd ist

Spruch

I.1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, insoweit damit die Rückkehrentscheidung der belangten Behörde bestätigt wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt worden.

Die Entscheidung wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

II.Dem gemäß § 63 Abs 1 ZPO,§ 35 VfGG gestellten Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe im Umfang des § 64 Abs 1 Z 1 lita ZPO wird stattgegeben.

III.Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und stellte nach illegaler Einreise in Österreich am einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz. Am heiratete er eine in Österreich asylberechtigte russische Staatsangehörige, mit der er eine fünf Jahre alte Tochter hat. Am heiratete der Beschwerdeführer erneut eine in Österreich asylberechtigte russische Staatsangehörige, mit der er eine zwei Jahre alte Tochter und eine ca. zwei Monate alte Tochter hat. Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten und wohnt mit diesen beiden Töchtern und seiner zweiten (aktuellen) Ehefrau in einem gemeinsamen Haushalt.

2.Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs 3 Z 2 iVm § 2 Z 13 und § 6 Abs 1 AsylG 2005 im Hinblick auf die Gewährung von Asyl und gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 55 und 57 AsylG 2005 wurde nicht erteilt. Darüber hinaus erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG und stellte gemäß § 52 Abs 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gleichzeitig setzte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine zweiwöchige Frist zur freiwilligen Ausreise gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

3.Die vom Beschwerdeführer gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom als unbegründet ab. Zur Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgründe unglaubwürdig seien. Subsidiärer Schutz sei nicht zuzuerkennen gewesen, weil auf Grund des festgestellten Sachverhaltes die Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat keine Verletzung des Art 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe erwarten lasse.

Zur Rückkehrentscheidung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, dass diese zwar einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens darstelle, aber in Anbetracht der durchgeführten Interessenabwägung zulässig sei. Die Schutzbedürftigkeit der Interessen des Beschwerdeführers sah das Bundesverwaltungsgericht insbesondere dadurch gemindert, dass das Familienleben erst während des laufenden Asylverfahrens begründet worden sei, die Beziehung mit der zweiten (aktuellen) Ehegattin erst von kurzer Dauer sei und der Beschwerdeführer bewusst asylberechtigte russische Staatsangehörige "gesucht" habe und mit diesen (relativ schnell) Familien gegründet habe, um so seinen Aufenthalt in Österreich zu verfestigen.

4.Gegen diese Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

Begründend wird bezüglich der Rückkehrentscheidung im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Dem Beschwerdeführer werde (unhaltbar) unterstellt, dass er bewusst asylberechtigte "russische Staatsangehörige" suche und mit diesen schnell Familien gründe, um seinen Aufenthalt zu verfestigen. Das Bundesverwaltungsgericht habe auf die Beziehung zwischen Vater und Kind nicht ausreichend Bedacht genommen und es unterlassen, diese Beziehung zu würdigen und die Auswirkungen der Entscheidung auf das Kindeswohl ausreichend zu berücksichtigen. Das Bundesverwaltungsgericht widersetze sich der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes im Erkenntnis vom , U2241/12, wonach es lebensfremd sei, dass der Kontakt zwischen einem Kleinkind und einem Elternteil über Telekommunikation und elektronische Medien aufrechterhalten werden könne. Zudem sei unberücksichtigt geblieben, dass der Beschwerdeführer das mit der derzeitigen Ehegattin gemeinsame Kind (nach der Geburt der zweiten Tochter am auch dieses) beaufsichtige und betreue und er die im Haushalt anfallenden Aufgaben mit seiner Ehegattin teile, um ihr die von ihr angestrebte Ausbildung und Erwerbstätigkeit zu ermöglichen.

5.Das Bundesverwaltungsgericht legte die Gerichts- und Verwaltungsakten der belangten Behörde im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof vor und sah von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

II.Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat zur – zulässigen – Beschwerde erwogen:

1.Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

2.Dem Bundesverwaltungsgericht ist bei der gemäß Art 8 Abs 2 EMRK gebotenen Abwägung ein solcher in die Verfassungssphäre reichender Fehler vorzuwerfen:

Das Bundesverwaltungsgericht geht vom Vorliegen eines Familienlebens des Beschwerdeführers mit seiner rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältigen (aktuellen) Ehegattin und seinen minderjährigen Töchtern aus. Die Ehegattin, die beiden Töchter und das (noch) ungeborene Kind seien auf die Anwesenheit des Beschwerdeführers im Bundesgebiet keineswegs angewiesen, zumal dieser keiner Erwerbstätigkeit nachgehe und auch in der Vergangenheit keine nennenswerte finanzielle Unterstützung für seine Familienangehörigen geleistet habe. Es sei auch nicht erkennbar, dass der Kontakt des Beschwerdeführers zu seiner Ehegattin sowie zu den beiden (bzw dann drei Kindern) aus der Russischen Föderation nicht aufrechterhalten werden könne. Gerade in der heutigen Zeit bestünden – neben Telephon und Brief – zahlreiche Möglichkeiten der Kommunikation, wie beispielsweise E-Mail, Skype und diverse soziale Medien, allen voran Facebook, sodass nicht davon ausgegangen werden könne, es sei für den Beschwerdeführer nicht möglich, auch vom Herkunftsstaat den Kontakt zu seinen Familienangehörigen aufrechtzuerhalten.

Bei seiner Interessenabwägung stellt das Bundesverwaltungsgericht in den Vordergrund, dass die nunmehrige Beziehung bzw Ehe zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Frau zu einem Zeitpunkt eingegangen wurde, zu dem sich beide Partner des unsicheren Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers bewusst gewesen sein mussten. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist dieser Umstand bei der nach Art 8 Abs 2 EMRK gebotenen Interessenabwägung zu berücksichtigen (vgl etwa VfSlg 18.223/2007 mwN); er führt jedoch nicht dazu, dass eine aufenthaltsbeendende Maßnahme keinen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens darstellen würde (vgl ; vgl auch , wonach die Aufnahme des Familienlebens während des Asylverfahrens von jenen Fällen zu unterscheiden ist, in denen erst nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens das Familienleben im Bundesgebiet aufgenommen wird und deshalb eine geringere Schutzwürdigkeit besteht, sowie ).

Sowohl die Ehefrau als auch die Töchter des Beschwerdeführers wurden als Flüchtlinge iSd Genfer Flüchtlingskonvention in Bezug auf jenen Staat anerkannt, in den der Beschwerdeführer ausgewiesen wird. Obwohl das Bundesverwaltungsgericht diese Feststellung getroffen hat, geht es in seiner Interessenabwägung gemäß Art 8 Abs 2 EMRK nicht darauf ein, dass dadurch eine Fortsetzung des Familienlebens in diesem Staat ausgeschlossen erscheint. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits im Erkenntnis VfSlg 19.220/2010 festgestellt hat, ergibt sich aus diesem Umstand, dass der mit der Ausweisung verbundene Eingriff in das Recht auf Familienleben als besonders intensiv zu betrachten ist (vgl auch ).

Hinsichtlich der Aufrechterhaltung des Familienlebens wird lediglich auf die Möglichkeiten der Kommunikation durch Telephon, Brief, E-Mail, Skype und diverse soziale Medien verwiesen. Diesbezüglich hat der Verfassungsgerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Annahme, der Kontakt zwischen einem Kleinkind und einem Elternteil könne über Telekommunikation und elektronische Medien aufrechterhalten werden, lebensfremd ist (; , E426/2015; , E343/2018 ua; , E3528/2018).

Das Bundesverwaltungsgericht hat daher bei der Abwägung zwischen dem subjektiven Interesse des Beschwerdeführers an der Aufrechterhaltung seines Familienlebens und dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung zum Ersten gebotene Kriterien außer Acht gelassen und zum Zweiten andere falsch gewichtet; das Bundesverwaltungsgericht hat insgesamt die besondere Schwere des Eingriffes nicht ausreichend berücksichtigt. Dadurch hat das Bundesverwaltungsgericht das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK verletzt.

Die Entscheidung ist daher insoweit aufzuheben, als mit ihr die im angefochtenen Bescheid getroffene Rückkehrentscheidung bestätigt wird.

3.Die Behandlung der Beschwerde wird, insoweit damit die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten bzw des subsidiär Schutzberechtigten bekämpft wird, aus folgenden Gründen abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist. Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beant-wortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegun-gen nicht erforderlich sind. Soweit durch die angefochtene Entscheidung dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten bzw des subsidiär Schutz-berechtigten nicht zuerkannt wurde, wären die gerügten Rechtsverletzungen im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwen-dung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Frage, ob die vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommene Beweiswürdigung in jeder Hinsicht den gesetzlichen Vorgaben entspricht, nicht anzustellen. Demgemäß wurde beschlossen, in diesem Umfang von einer Behandlung der Beschwerde abzusehen (§19 Abs 3 Z 1 iVm § 31 letzter Satz VfGG).

III.Ergebnis

1.Der Beschwerdeführer ist durch die Bestätigung der Rückkehrentscheidung im angefochtenen Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt worden. Das angefochtene Erkenntnis wird daher insoweit aufgehoben.

2.Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

3.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4.Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VFGH:2019:E3247.2019
Schlagworte:
Asylrecht, Privat- und Familienleben, Rückkehrentscheidung

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