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VfGH vom 11.06.2018, E2735/2017

VfGH vom 11.06.2018, E2735/2017

Leitsatz

Feststellung einer Verletzung im Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist durch Verhängung einer Geldstrafe wegen Verstoßes gegen das AusländerbeschäftigungsG; keine Rechtfertigung der ungewöhnlich langen Zeitspanne von knapp 4,5 Jahren zwischen mündlicher Verkündung und schriftlicher Ausfertigung der angefochtenen Entscheidung; Aufhebung der Entscheidung im Umfang des Straf- und Kostenausspruchs

Spruch

I.1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist nach Art 6 Abs 1 EMRK verletzt worden.

Das Erkenntnis wird im Umfang des Strafausspruches und des Kostenausspruches aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt. Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II.Der Bund (Bundesministerin für Arbeit, Gesundheit, Soziales und Konsumentenschutz) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten zuhanden seines Rechtsvertreters binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.Aufhebung des Erkenntnisses

1.Mit Straferkenntnis vom erkannte der Magistrat der Stadt Wien den nunmehrigen Beschwerdeführer schuldig, als verantwortlicher Beauftragter und somit als gemäß § 9 Abs 2 VStG 1991 zur Vertretung nach außen berufenes Organ der ******** zu verantworten, dass diese Gesellschaft als Arbeitgeberin in der Zeit von bis im Raum Leoben einen rumänischen Staatsbürger als Zeitungszusteller und Werbemittelverteiler beschäftigt habe, obwohl für diesen weder eine Beschäftigungsbewilligung, eine Zulassung als Schlüsselkraft oder eine Entsendebewilligung erteilt, noch eine Anzeigenbestätigung, eine Arbeitserlaubnis, ein Befreiungsschein, eine "Rot-Weiß-Rot – Karte plus", ein Aufenthaltstitel oder ein Niederlassungsnachweis ausgestellt worden sei. Wegen Übertretung des § 28 Abs 1 Z 1 lita AuslBG iVm § 3 AuslBG wurde über den Beschwerdeführer eine Geldstrafe in Höhe von € 1.900,– (Ersatzfreiheitsstrafe 1 Tag und 20 Stunden) verhängt; ferner wurde er zur Zahlung eines Beitrages zu den Kosten des Strafverfahrens in Höhe von € 190,– verpflichtet.

2.Gegen dieses Straferkenntnis erhob der Beschwerdeführer am Berufung an den – zum damaligen Zeitpunkt zuständigen – Unabhängigen Verwaltungssenat Wien. Nach Übergang der Rechtssache auf das Verwaltungsgericht Wien und nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen am und am verkündete das Verwaltungsgericht Wien am die nunmehr angefochtene Entscheidung, in der es der Beschwerde keine Folge gab und den Beschwerdeführer zudem zur Zahlung eines Beitrages zu den Kosten des Strafverfahrens verpflichtete. Die schriftliche Ausfertigung dieser Entscheidung wurde dem Beschwerdeführer knapp drei Jahre später am zuhanden seines ausgewiesenen Rechtsvertreters zugestellt.

3.In der mit datierten Erkenntnisausfertigung gab das Verwaltungsgericht Wien unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das mündlich verkündete Erkenntnis vom der Beschwerde keine Folge und bestätigte das angefochtene Straferkenntnis mit der Maßgabe, dass in der verbalen Tatanlastung die Wortfolge "und Werbemittelverteiler" zu entfallen habe, dass als übertretene Norm "§28 Abs 1 Z 1 lita iVm § 3 AuslBG idF BGBl I Nr 25/2011" und als Strafnorm "§28 Abs 1 Z 1 erster Strafsatz AuslBG idF BGBl I Nr 25/2011" zu zitieren seien.

4.Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist nach Art 6 Abs 1 EMRK behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, sowie, für den Fall der Abweisung oder Ablehnung der Behandlung der Beschwerde, die Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof beantragt wird.

5.Das Verwaltungsgericht Wien legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

6.Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:

7.Bedenken gegen die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Rechtsvorschriften werden in der Beschwerde nicht vorgebracht und sind beim Verfassungsgerichtshof auch aus Anlass dieses Beschwerdeverfahrens nicht entstanden. Der Beschwerdeführer wurde durch die angefochtene Entscheidung daher nicht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt.

8.Die Beschwerde ist insofern berechtigt, als sie die Nichtberücksichtigung der überlangen Dauer des Verfahrens behauptet:

8.1.Art6 Abs 1 EMRK bestimmt u.a., dass jedermann "Anspruch darauf [hat], dass seine Sache [...] innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem [...] Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen [...] zu entscheiden hat".

8.2.Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nicht abstrakt, sondern im Lichte der besonderen Umstände jedes einzelnen Falles zu beurteilen. Die besonderen Umstände des Einzelfalles ergeben sich aus dem Verhältnis und der Wechselwirkung verschiedener Faktoren. Neben Faktoren, welche die Verfahrensdauer beeinflussen, nämlich die Schwierigkeit des Falles, das Verhalten des Beschwerdeführers und das Verhalten der staatlichen Behörden in dem bemängelten Verfahren, ist auch die Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer relevant (vgl. VfSlg 17.307/2004, 17.582/2005, 17.644/2005, 18.743/2009; vgl. auch Frowein/Peukert, EMRK³, 2009, Art 6 Rz 251, sowie Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention6, 2016, § 24 Rz 82). Nicht eine lange Verfahrensdauer schlechthin führt zu einer Verletzung, sondern nur eine Verzögerung, die auf Versäumnisse staatlicher Organe zurückzuführen ist. Der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist daher keine fixe Obergrenze für die Angemessenheit der Verfahrensdauer zu entnehmen, ab deren Überschreitung jedenfalls eine Verletzung des Art 6 Abs 1 EMRK anzunehmen wäre (vgl. VfSlg 16.385/2001 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EGMR; VfSlg 17.821/2006, 18.066/2007, 18.509/2008).

8.3.In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu Strafverfahren wird für den Beginn der Frist jener Zeitpunkt angenommen, "in which a person is charged", dh. sobald ein Beschuldigter durch offizielle Mitteilung oder auch in sonstiger Weise darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass gegen ihn wegen des Verdachts, eine strafbare Handlung begangen zu haben, Ermittlungen mit dem Ziel strafrechtlicher Verfolgung durchgeführt werden und seine Lage dadurch in erheblicher Weise beeinträchtigt wird (Frowein/Peukert, aaO, Art 6 Rz 240; EGMR , Fall Eckle, Appl. 8130/78; VfSlg 16.385/2001, 17.339/2004, 17.854/2006).

8.4.Im vorliegenden Fall erlangte der Beschwerdeführer mit Zustellung der Aufforderung zur Rechtfertigung durch den Magistrat der Stadt Wien am erstmals offiziell Kenntnis von dem gegen ihn erhobenen Tatvorwurf. Dieser Tag ist daher als Anfangszeitpunkt des Verwaltungsstrafverfahrens anzusehen. Das Verfahren endete vor der Verwaltungsbehörde mit dem Straferkenntnis des Magistrates der Stadt Wien vom , zugestellt am . Als Zeitpunkt des vorläufigen Endes des der Beurteilung durch den Verfassungsgerichtshof unterliegenden Verfahrens ist grundsätzlich der Tag der Zustellung der das Verfahren abschließenden, angefochtenen Entscheidung maßgeblich (vgl. mwN). Im vorliegenden Fall wurde die angefochtene Entscheidung jedoch nicht durch Zustellung, sondern durch mündliche Verkündung erlassen; zugestellt wurde lediglich die schriftliche Ausfertigung der mündlich verkündeten Entscheidung.

8.5.Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (vgl. EGMR , Fall Jancikova, Appl. 56.483/00) sowie des Verfassungsgerichtshofes (vgl. VfSlg 18.066/2007 zur Zustellung des angefochtenen Bescheides mehr als ein Jahr und acht Monate nach dessen Verkündung; vgl. ferner VfSlg 18.533/2008 zum Fall der verzögerten Zustellung eines – nicht bereits mündlich erlassenen – Bescheides) zählt auch die Zeitspanne zwischen der mündlichen Verkündung und der Ausfertigung der Entscheidung zur Verfahrensdauer iSd Art 6 Abs 1 EMRK.

8.6.Als Zeitpunkt des Endes des zu überprüfenden Verfahrens ist daher, wenn auch die angefochtene Entscheidung bereits durch mündliche Verkündung am erlassen wurde, der Tag der Zustellung der am ausgefertigten Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, somit der anzusehen. Die zu beurteilende Verfahrensdauer beträgt sohin 4 Jahre und 5 Monate.

8.6.1.Im vorliegenden Fall fällt in erster Linie ins Gewicht, dass zwischen der mündlichen Verkündung der angefochtenen Entscheidung am und der Zustellung der mit datierten schriftlichen Ausfertigung am 2 Jahre und 11 Monate vergangen sind. Für die ungewöhnliche Länge des Zeitraums zwischen der mündlichen Verkündung und der Zustellung der schriftlichen Ausfertigung der angefochtenen Entscheidung ist allein das Verwaltungsgericht Wien verantwortlich; insbesondere kann dem Beschwerdeführer kein Vorwurf gemacht werden, das Verfahren unnötig verzögert zu haben (vgl. dazu auch im besonderen VfSlg 19.605/2011).

8.6.2.Da nach der Aktenlage weder Art und Umfang des Sachverhaltes noch die zu beurteilende Rechtsfrage die Behandlung dieser Rechtssache als ungewöhnlich komplex erscheinen lassen, in dem vorliegenden Beschwerdeverfahren aber auch kein weiterer besonderer Umstand hervorgekommen ist, welcher die Dauer des Verfahrens rechtfertigen könnte, ist die Dauer des Verfahrens von insgesamt 4 Jahren und 5 Monaten bis zur Zustellung der angefochtenen Entscheidung nicht mehr als angemessen iSd Art 6 EMRK anzusehen.

8.7.Der Beschwerdeführer ist daher in seinem durch Art 6 Abs 1 EMRK gewährleisteten Recht auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist verletzt worden.

8.8.Die angefochtene Entscheidung ist – abgesehen vom Kostenausspruch – lediglich im Umfang des Strafausspruches aufzuheben, weil die festgestellte Rechtsverletzung den Ausspruch über die Schuld unberührt lässt und eine Änderung nur im Rahmen der Strafbemessung gemäß § 19 VStG in Betracht kommt, insbesondere durch die verfassungskonforme Berücksichtigung der überlangen Verfahrensdauer als Milderungsgrund iSd § 19 Abs 2 VStG unter sinngemäßer Anwendung des § 34 Abs 2 StGB (vgl. mwN). Das Verwaltungsgericht wird bei der neuerlichen Strafbemessung neben der objektiven Schwere der Verwaltungsübertretung und Gründen der General- und Spezialprävention das Vorliegen des Milderungsgrundes der unangemessenen Verfahrensdauer zu berücksichtigen haben. Das Verwaltungsgericht hat in seine Begründung der schriftlichen Ausfertigung zwar den Satz eingefügt, dass "als mildernd […] auch die Dauer des Verfahrens zu berücksichtigen" gewesen sei; im Hinblick darauf, dass das Verwaltungsgericht in seinem mündlich verkündeten Erkenntnis das bei ihm angefochtene Straferkenntnis im Strafausspruch bestätigt hat, ist es jedoch ausgeschlossen, dass sowohl die Verfahrensdauer bis zur mündlichen Verkündung des Erkenntnisses als auch die fast dreijährige weitere Verfahrensdauer zwischen der mündlichen Verkündung und der Ausfertigung der Entscheidung berücksichtigt worden ist.

8.9.Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes ist auch im Umfang des Kostenausspruches aufzuheben, da der Beitrag zu den Kosten des verwaltungsbehördlichen Verfahrens sich nach der Höhe der verhängten Geldstrafe richtet (§64 Abs 2 VStG) und daher mit dem Strafausspruch in Zusammenhang steht.

II.Ablehnung der Beschwerdebehandlung

1.Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

1.1.Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs 2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

1.2.Die in der vorliegenden Beschwerde – abgesehen von der Verletzung des Art 6 Abs 1 EMRK – gerügten Verletzungen verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte wären aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Frage, ob das Verwaltungsgericht die Anwendbarkeit des in § 1 Z 11 AuslBVO normierten Ausnahmetatbestands vom Anwendungsbereich des AuslBG in Bezug auf den vorliegenden Fall zu Recht verneint hat, insoweit nicht anzustellen.

III.Ergebnis

1.Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist nach Art 6 Abs 1 EMRK verletzt worden.

2.Das Erkenntnis wird im Umfang des Strafausspruches und des Kostenausspruches aufgehoben.

3.Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese gemäß Art 144 Abs 3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten.

4.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 bzw. § 19 Abs 3 Z 1 iVm § 31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5.Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VFGH:2018:E2735.2017
Schlagworte:
Verfahrensdauer überlange, Entscheidung in angemessener Zeit, Ausländerbeschäftigung, Verwaltungsstrafrecht, Strafbemessung, VfGH / Kosten

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