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VfGH vom 24.02.2017, E2576/2016 ua

VfGH vom 24.02.2017, E2576/2016 ua

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichterteilung von Einreisetiteln für Ehefrau und Kinder eines in Österreich asylberechtigten irakischen Staatsangehörigen infolge Ignorierens des - bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren erstatteten - entscheidungsrelevanten Parteienvorbringens unter Berufung auf das nur im Beschwerdeverfahren geltende Neuerungsverbot

Spruch

I.Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II.Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 3.139,20 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Erstbeschwerdeführerin ist jordanische Staatsangehörige und Mutter der Zweit- bis Viertbeschwerdeführer. Diese sind sämtliche irakische Staatsangehörige. Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin und Vater der Zweit- bis Viertbeschwerdeführer ist irakischer Staatsangehöriger. Ihm wurde in Österreich Asyl zuerkannt, zuvor lebte er in Jordanien.

Die Beschwerdeführer beantragten am bei der Österreichischen Botschaft Amman (im Folgenden: ÖB Amman) die Erteilung von Einreisetiteln gemäß § 35 Abs 1 AsylG 2005. Im Zuge dieses Verfahrens wurde das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) um eine Mitteilung gemäß § 35 Abs 4 AsylG 2005 ersucht und führte darin begründet aus, dass die Gewährung von Asyl oder subsidiärem Schutz in Österreich für die Beschwerdeführer nicht wahrscheinlich sei. Die negative Wahrscheinlichkeitsprognose des BFA wurde den Beschwerdeführern am mit einer einwöchigen Frist zur Stellungnahme übermittelt.

In der Folge wurden zwei Stellungnahmen innerhalb der einwöchigen Frist am und am sowie eine weitere Stellungnahme nach Ablauf der einwöchigen Frist am abgegeben. Die erste Stellungnahme wurde von der Arabischen Organisation für Menschenrechte in Österreich unter Verweis auf ein Hilfegesuch des Ehemanns der Erstbeschwerdeführerin bzw. des Vaters der Zweit- bis Viertbeschwerdeführer eingebracht. In ihr wurde vorgebracht, dass eine Familienzusammenführung in Jordanien nicht möglich sei, weil nur die Beschwerdeführerin einen jordanischen Reisepass besitze. Die Zweit- bis Viertbeschwerdeführer seien irakische Staatsbürger und nur bis zum 18. Lebensjahr in Jordanien aufenthaltsberechtigt. Bei Erreichen des 18. Lebensjahrs drohe ihnen die sofortige Abschiebung in den Irak und damit der sichere Tod. In der zweiten Stellungnahme vom , eingebracht vom Ehemann der Erstbeschwerdeführerin bzw. Vater der Zweit- bis Viertbeschwerdeführer, wurde dieses Vorbringen wiederholt.

In der dritten Stellungnahme, die wiederum von der Arabischen Organisation für Menschenrechte in Österreich eingebracht wurde, erfolgte eine Konkretisierung des früheren Vorbringens, wonach eine Familienzusammenführung in Jordanien unmöglich sei. Ein Verbleib sei dort für irakische Staatsbürger ab dem 18. Lebensjahr nur möglich, wenn bei der zuständigen jordanischen Behörde ein Betrag von rund € 25.000,-- hinterlegt werde. Da der älteste Sohn der Familie demnächst das 18. Lebensjahr erreiche, die Beschwerdeführer jedoch vermögenslos seien, sei die Hinterlegung des Geldbetrags nicht möglich, sodass die sofortige Abschiebung in den Irak drohe.

2.Mit Bescheiden vom wies die ÖB Amman – unter ausdrücklicher Bezugnahme auf alle drei Stellungnahmen – die Anträge mit der Begründung ab, dass die Fortsetzung des Familienlebens in einem anderen Staat als Österreich möglich sei. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer Beschwerden an das Bundesverwaltungsgericht, welche zunächst von der ÖB Amman mit Beschwerdevorentscheidung vom abgewiesen wurde. Im Hinblick auf das Vorbringen, dass für einen Aufenthalt in Jordanien ein Betrag von € 25.000,-- hinterlegt werden müsse, wurde in der Entscheidung ausgeführt, dass dieses Vorbringen erst mit Beschwerdeergänzung vom und sohin im Beschwerdeverfahren geltend gemacht worden sei und daher unter das Neuerungsverbot nach § 11a Abs 2 FPG falle.

3.Am beantragten die Beschwerdeführer die Vorlage der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, welches mit Erkenntnis vom die Beschwerde als unbegründet abwies. Dabei bestätigte das Bundesverwaltungsgericht in seiner Begründung die Rechtsansicht der Verwaltungsbehörde, wonach das Vorbringen, dass zur Erlangung eines Aufenthaltsrechts in Jordanien ein hoher Geldbetrag zu hinterlegen sei, "eindeutig dem Neuerungsverbot" des § 11a Abs 2 FPG widerspreche. Abgesehen davon könne der Inhalt des Schreibens nicht nachvollzogen werden und könne darin keine unbedenkliche Urkunde erblickt werden.

4.Gegen dieses Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts richtet sich die vorliegende auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

5.Das Bundesverwaltungsgericht legte die verwaltungsbehördlichen und verwaltungsgerichtlichen Verfahrensakten vor, sah von der Erstattung einer Äußerung ab und verwies auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung. Die ÖB Amman erstattete eine Äußerung.

II.Rechtslage

Das Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl I 100/2005 idF 24/2016 lautet auszugsweise:

"Verfahren vor den österreichischen Vertretungsbehörden in

Visaangelegenheiten

§11. (1) In Verfahren vor österreichischen Vertretungsbehörden haben Antragsteller unter Anleitung der Behörde die für die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes erforderlichen Urkunden und Beweismittel selbst vorzulegen; in Verfahren zur Erteilung eines Visums D ist Art 19 Visakodex sinngemäß anzuwenden. Der Antragssteller hat über Verlangen der Vertretungsbehörde vor dieser persönlich zu erscheinen, erforderlichenfalls in Begleitung eines Dolmetschers (§39a AVG). § 10 Abs 1 letzter Satz AVG gilt nur für in Österreich zur berufsmäßigen Parteienvertretung befugte Personen. Die Vertretungsbehörde hat nach freier Überzeugung zu beurteilen, ob eine Tatsache als erwiesen anzunehmen ist oder nicht. Eine Entscheidung, die dem Standpunkt des Antragstellers nicht vollinhaltlich Rechnung trägt, darf erst ergehen, wenn die Partei Gelegenheit zur Behebung von Formgebrechen und zu einer abschließenden Stellungnahme hatte.

(2) Partei in Verfahren vor der Vertretungsbehörde ist ausschließlich der Antragssteller.

[…]

Beschwerden gegen Bescheide österreichischer Vertretungsbehörden in

Visaangelegenheiten

§11a. (1) Der Beschwerdeführer hat der Beschwerde gegen einen Bescheid einer österreichischen Vertretungsbehörde sämtliche von ihm im Verfahren vor der belangten Vertretungsbehörde vorgelegten Unterlagen samt Übersetzung in die deutsche Sprache anzuschließen.

(2) Beschwerdeverfahren sind ohne mündliche Verhandlung durchzuführen. Es dürfen dabei keine neuen Tatsachen oder Beweise vorgebracht werden.

(3) Sämtliche Auslagen der belangten Vertretungsbehörde und des Bundesverwaltungsgerichtes für Dolmetscher und Übersetzer sowie für die Überprüfung von Verdolmetschungen und Übersetzungen sind Barauslagen im Sinn des § 76 AVG.

(4) Die Zustellung der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes hat über die Vertretungsbehörde zu erfolgen. § 11 Abs 3 gilt."

III.Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:

1.Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsbestimmung enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs 1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2.Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1.Das Bundesverwaltungsgericht geht im angefochtenen Erkenntnis – ebenso wie die ÖB Amman in ihrer Beschwerdevorentscheidung – auf das Vorbringen, dass das Aufenthaltsrecht von irakischen Staatsangehörigen in Jordanien von der Hinterlegung eines hohen Geldbetrags abhänge, den die Beschwerdeführer nicht leisten können, nicht ein und erklärt dies damit, dass dieses Vorbringen eindeutig dem Neuerungsverbot des § 11a Abs 2 FPG widerspreche. Damit wird – in gröblicher Verkennung der Rechtslage – ein entscheidungsrelevantes Parteivorbingen ignoriert. Denn das Neuerungsverbot des § 11a Abs 2 FPG gilt nach dem klaren Wortlaut dieser Vorschrift im "Beschwerdeverfahren", nicht aber im verwaltungsbehördlichen Verfahren. Die Beschwerdeführer haben aber bereits im Verfahren vor der ÖB Amman, in der Stellungnahme vom , vorgebracht, dass für den Aufenthalt in Jordanien ab dem 18. Lebensjahr ein hoher Geldbetrag zu hinterlegen sei. Dieses Vorbringen wurde daher nicht im Beschwerdeverfahren, sondern im verwaltungsbehördlichen Verfahren, in dem das Neuerungsverbot (noch) nicht gilt, erstattet. Angesichts dessen, dass das Vorbringen bereits in der Stellungnahme vom erstattet wurde, ist nicht nachvollziehbar, wie es dazu kommt, dass das Vorbringen von der ÖB Amman in der Beschwerdevorentscheidung mit und vom Bundesverwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis mit datiert wird.

2.2.Die Nichtbeachtung dieses Vorbringens kann auch nicht damit begründet werden, dass es außerhalb der von der ÖB Amman gesetzten Frist von einer Woche abgegeben wurde. Denn weder das AVG noch das FPG enthalten Bestimmungen darüber, dass verspätete Stellungnahmen übergangen und als unerheblich angesehen oder zurückgewiesen werden könnten. Die Versäumung der gesetzten Frist zur Stellungnahme berechtigt lediglich zur unmittelbaren Entscheidung (, zum AVG). Damit verkennt das Bundesverwaltungsgericht – ebenso wie die ÖB Amman –, dass nach dem Grundsatz der materiellen Wahrheit der wahre Sachverhalt vollständig festzustellen ist und ein für die Erledigung einer Verwaltungssache maßgebendes Parteivorbringen, wie jenes der Beschwerdeführer, zu berücksichtigen ist.

2.3.Das Bundesverwaltungsgericht übt damit Willkür, wenn es – wie hier – ein Parteivorbingen unter Berufung auf das Neuerungsverbot des § 11a Abs 2 FPG ignoriert, obwohl diese Vorschrift auf das vorliegende Parteivorbringen gar nicht anwendbar ist.

IV.Ergebnis

1.Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung Fremder untereinander verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3.Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist ein Streitgenossenzuschlag sowie Umsatzsteuer in der Höhe von € 523,20 enthalten.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VFGH:2017:E2576.2016
Schlagworte:
Asylrecht, Fremdenpolizei, Ermittlungsverfahren, Neuerungsverbot

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