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VfGH vom 27.06.2018, E2239/2016

VfGH vom 27.06.2018, E2239/2016

Leitsatz

Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses im Anlassfall

Spruch

I.Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II.Das Land Wien ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

1.Die Beschwerdeführerin ist nigerianische Staatsangehörige und hält sich seit zumindest im österreichischen Bundesgebiet auf. Die am geborene Tochter der Beschwerdeführerin ist österreichische Staatsbürgerin. Der Beschwerdeführerin wurde mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien ein Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" gemäß § 47 Abs 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (im Folgenden: NAG) für den Zeitraum bis rechtskräftig erteilt.

Die Beschwerdeführerin stellte am einen Antrag auf Zuerkennung von Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung nach dem Gesetz zur Bedarfsorientierten Mindestsicherung in Wien (Wiener Mindest-sicherungsgesetz; im Folgenden: WMG). Mit Bescheid vom wies der Magistrat der Stadt Wien diesen Antrag als unbegründet ab. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde an das Verwaltungsgericht Wien.

Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom wies das Ver-waltungsgericht Wien diese Beschwerde gemäß § 5 WMG ab. Der Beschwerde-führerin sei für den Zeitraum bis eine Aufent-haltsbewilligung besonderer Schutz gemäß § 69a NAG gewährt worden. Zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Zuerkennung von Leistungen der Bedarfs-orientierten Mindestsicherung habe die Beschwerdeführerin über keinen gültigen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet verfügt. Seit sei der Aufenthalt der Beschwerdeführerin im Bundesgebiet rechtmäßig, jedoch handle es sich bei dem erteilten Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" gemäß § 47 NAG um keinen der in § 5 Abs 2 Z 3 und 4 WMG taxativ aufgezählten Aufenthaltstitel. Der Beschwerdeführerin sei auch kein subsidiärer Schutz erteilt oder Asylstatus gewährt worden (vgl. § 5 Abs 2 Z 1 WMG). Die Beschwerdeführerin sei auch nicht EWR-Bürgerin oder Familienangehörige eines gemäß § 5 Abs 2 Z 2 WMG gleichgestellten EWR-Bürgers, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe. Sie sei somit nicht gemäß § 5 Abs 2 WMG österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt. Auch der Umstand, dass die Beschwerdeführerin die Mutter einer minderjährigen österreichischen Staatsbürgerin sei, vermöge nichts an der eindeutigen Rechtslage des WMG zu ändern, zumal dort ein Anspruch auf Leistungen ausschließlich volljährigen österreichischen Staatsbürgern – oder diesen im Sinne des § 5 Abs 2 WMG gleichgestellten Personen – einer Bedarfsgemeinschaft zuerkannt werden könne. Sofern keine volljährige anspruchsberechtigte Person in einer Bedarfsgemeinschaft Leistungen beantrage, könne demnach auch keine Bedarfsorientierte Mindestsicherung zugesprochen werden. Daraus folge, dass die Beschwerdeführerin nicht zum Kreis der anspruchsberechtigten Personen nach dem WMG zähle. Die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung von Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung durch die belangte Behörde sei daher zu Recht erfolgt.

2.Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewähr-leisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander und die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes (§5 Abs 2 WMG) behauptet wird. Dass Inhaber eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" gegenüber Inhabern von den in § 5 Abs 2 WMG angeführten Aufenthaltstiteln benachteiligt werden, stelle eine unsachliche Differenzierung im Wesentlichen gleicher Sachverhalte dar. Die Aufenthaltstitel nach § 47 Abs 2 NAG seien in wesentlichen Punkten nicht von den in § 5 Abs 2 WMG angeführten Fällen zu unterscheiden. Deren Inhaber hätten angesichts der Tatsache, dass sie voraussetzungsgemäß zur "Kernfamilie" eines österreichischen Staatsbürgers gehören, eine ähnliche Bindung zu Österreich wie jene Personen, die über einen Daueraufenthaltstitel verfügen würden. Es erscheine unsachlich, dass österreichischen Minderjährigen die Begünstigung durch Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung an einen unterhaltspflichtigen Elternteil verweigert werde, wenn sich dieser Elternteil auf Grund eines Aufenthaltstitels gemäß § 47 Abs 2 NAG in Österreich aufhalte.

Das Verwaltungsgericht Wien legte die Gerichtsakten und der Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 40, Stabstelle Sozialrechtlicher Support, die Verwaltungsakten vor, von der Erstattung einer Gegenschrift wurde abgesehen.

3.Aus Anlass dieser Beschwerde leitete der Verfassungsgerichtshof gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 litb B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 5 des Gesetzes zur Bedarfsorientierten Mindestsicherung in Wien idF LGBl für Wien 38/2010, und des Wortes "anspruchberechtigten" in § 7 Abs 1 letzter Satz des Gesetzes zur Bedarfsorientierten Mindestsicherung in Wien, LGBl für Wien 38/2010 idF LGBl für Wien 6/2011, ein. Mit Erkenntnis vom , G415/2017, stellte er fest, dass die Wortfolgen "„Daueraufenthalt – EG“ oder „Daueraufenthalt – Familienangehöriger“, denen dieser Aufenthaltstitel", "§45 oder § 48" und "erteilt wurde" in § 5 Abs 2 Z 3 Wiener Mindestsicherungsgesetz, LGBl 38/2010, verfassungswidrig waren.

4.Die Beschwerde ist begründet.

Das Verwaltungsgericht Wien hat eine verfassungswidrige Gesetzesbestimmung angewendet. Es ist nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen, dass ihre Anwendung für die Rechtsstellung der Beschwerdeführerin nachteilig war.

Die Beschwerdeführerin wurde also durch das angefochtene Erkenntnis wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in ihren Rechten verletzt (zB VfSlg 10.404/1985).

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.

5.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

6.Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VFGH:2018:E2239.2016
Schlagworte:
VfGH / Anlassfall

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Fundstelle(n):
WAAAE-24876