VfGH vom 10.06.2016, E2108/2015
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch Abweisung des Asylantrags eines somalischen Staatsangehörigen; keine hinreichende Klärung des Sachverhalts hinsichtlich der mangelnden Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art 47 Abs 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Somalia und stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz. Nach der sogenannten Erstbefragung am selben Tag wurde er am vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen.
Das im angefochtenen Erkenntnis eingefügte Einvernahmeprotokoll lautet auszugsweise wie folgt:
"F: Bei der Erstbefragung gaben Sie an[,] dass Sie auf der Suche nach einem besseren Leben bzw. Arbeit sind. Jetzt sprechen Sie davon[,] dass Sie von den Al Shabaab bedroht worden wären. Was sagen Sie dazu?
A: Nein[,] ich habe das bei der Ersteinvernahme nicht gesagt. Ich war damals erst 13 Jahre alt[,] als ich meine Heimat verlassen habe.
F: Wurde Ihnen die Ersteinvernahme rückübersetzt?
A: Nein, und ich habe sie auch nicht unterschrieben. Es wurden mehrere Punkte falsch aufgenommen. Das ist nicht meine Unterschrift.
Anm.: Der AW schaut sich das Protokoll der Ersteinvernahme an und gibt an[: 'Ich habe] keine Tante und keine Familie in Europa […]. Ich habe noch nie einen Reisepass besessen. Die Namen meiner Brüder sind auch falsch geschrieben. Auch der Fluchtgrund ist falsch angegeben. Ich bin nicht am eingereist sondern am . Am bin ich dann mit dem Zug nach Österreich gefahren. Ich habe nie angegeben[,] dass der Schlepper Fuad heißt. Ich kenne diese Person nicht. Auch die Reiseroute wurde falsch protokolliert.
Es ist möglich, dass es noch weitere falsche Angaben gibt, welche ich jetzt vielleicht übersehen habe.'"
2. Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I) und erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II).
Im Bescheid wird u.a. wörtlich ausgeführt:
"Die von Ihnen gemachten Angaben vermochten den Voraussetzungen für die Glaubhaftmachung einer asylrelevanten Verfolgung oder Verfolgungsgefahr […] nicht zu entsprechen. Niederschriftlich ist es Ihnen beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nicht gelungen ein fundiertes und substantiiertes Vorbringen darzulegen. Sie haben beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl bloß ein völlig abstraktes und höchst vages Vorbringen dargelegt.
Im Zuge Ihrer Ersteinvernahme am anlässlich des gegenständlichen Asylverfahrens beim Bezirkspolizeikommando Völkermarkt haben Sie bei eigener Darstellung der Fluchtgründe behauptet, dass Sie sich lediglich ein besseres Leben erhoffen, da es in ihrem Heimatland keine Sicherheit, keine Ausbildungsmöglichkeiten und nur eine schlechte medizinische Versorgung gäbe. Diese Angaben sind nur sehr oberflächlich und ist nicht davon auszugehen, dass Sie in Somalia eine Asylrelevante Verfolgung zu befürchten hätten.
Im völligen Widerspruch gaben Sie am bei der Einvernahme in der RD – Wien im Wesentlichen an, dass Sie von den Al – Shabbab bedroht worden wären, bzw. dass Ihr Vater zusätzlich entführt und getötet worden wäre, da er seine ältesten S[ö]hne nicht für die A[l] – Shabbab 'zu Verfügung' gestellt hätte."
3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom ohne Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung ab.
Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht u.a. wörtlich aus:
"Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat ein mängelfreies, ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt und in der Begründung des angefochtenen Bescheides die Ergebnisse dieses Verfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammengefasst. Das Bundesverwaltungsgericht verweist daher zunächst auf diese schlüssigen und nachvollziehbaren beweiswürdigenden Ausführungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl im angefochtenen Bescheid. […]
Im gegenständlichen Verfahren erscheint daher der Sachverhalt vor dem Hintergrund des unsubstantiierten Beschwerdevorbringens auf Grundlage des ordnungsgemäß durchgeführten erstinstanzlichen Ermittlungsverfahrens in hinreichender Weise geklärt und ist dieser in den entscheidungswesentlichen Belangen nach wie vor als vollständig und aktuell anzusehen. Aufgrund der bisherigen Ermittlungen ergibt sich zweifelsfrei, dass der vorgebrachte Sachverhalt nicht den Tatsachen entspricht bzw. keine Asylrelevanz aufweist.[…]
Die Beweiswürdigung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde seitens des Bundesverwaltungsgerichtes in ihren entscheidungsmaßgeblichen Punkten bestätigt, wobei das Anführen weiterer – das Gesamtbild lediglich abrundender, für die Beurteilung jedoch nicht ausschlaggebender – Argumente in diesem Zusammenhang nicht schadet […]."
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung von verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten insbesondere auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach Art 47 Abs 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung beantragt wird.
5. Das Bundesverwaltungsgericht legte dem Verfassungsgerichtshof die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, nahm von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand und verwies auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht regelt § 21 Abs 7 BFA-VG den Entfall der mündlichen Verhandlung. Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung steht – sofern zuvor bereits ein Verwaltungsverfahren stattgefunden hat, in dessen Rahmen Parteiengehör gewährt wurde – jedenfalls in jenen Fällen im Einklang mit Art 47 Abs 2 GRC, in denen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen tatsachenwidrig ist (vgl. VfSlg 19.632/2012).
Das Absehen von einer gebotenen mündlichen Verhandlung stellt hingegen eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht nach Art 47 Abs 2 GRC dar ( ua.; , U1257/2012; , U2529/2013).
3. Eine solche Verletzung in Art 47 Abs 2 GRC liegt aus folgendem Grund vor:
3.1. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes beruht auf wesentlichen Feststellungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl betreffend die Glaubhaftigkeit des Fluchtvorbringens im Zusammenhang mit der Ersteinvernahme, denen der Beschwerdeführer bei seinen weiteren Einvernahmen offenkundig widersprochen hat (vgl. Pkt. I. 1.). Das Bundesverwaltungsgericht durfte daher jedenfalls nicht durch bloßes Aktenstudium davon ausgehen, dass der Sachverhalt hinsichtlich der festgestellten mangelnden Glaubhaftmachung geklärt ist. Insoweit lagen die Voraussetzungen für das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung nicht vor.
3.2. An diesem Ergebnis vermag auch die – ausdrücklich für die Beurteilung nicht ausschlaggebende – Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes nichts zu ändern, dass selbst die Annahme, die Angaben des Beschwerdeführers träfen zu, im Ergebnis keine andere Beurteilung bewirkt hätte. Insbesondere kann aus den Länderfeststellungen betreffend die Heimatregion des Beschwerdeführers nicht ohne Weiteres gefolgert werden, dass das von ihm geschilderte Vorbringen von vornherein keine asylrechtliche Relevanz entfalte (vgl. auch ).
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art 47 Abs 2 GRC verletzt worden.
Das angefochtene Erkenntnis ist daher bereits aus diesem Grund aufzuheben.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.
European Case Law Identifier
ECLI:AT:VFGH:2016:E2108.2015