VfGH vom 10.12.2015, E1864/2014
Leitsatz
Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses im Anlassfall wegen Verletzung im Gleichheitsrecht durch Einstellung der Leistungen der Mindestsicherung für die Zeit der Abwesenheit von Wien; verfassungskonforme Interpretation der geprüften Bestimmung des Wr MindestsicherungsG möglich
Spruch
I. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Das Land Wien ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
1.1. Die Beschwerdeführerin leidet nach der Aktenlage an chronischer Polyarthritis und ist aus diesem Grund arbeitsunfähig. Sie bezieht Leistungen der Mindestsicherung zur Deckung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes. Mit Schreiben vom teilte die Beschwerdeführerin dem Magistrat der Stadt Wien mit, dass sie sich von 12. Mai bis für einen (privaten) Kuraufenthalt zur Behandlung ihrer Erkrankung nicht in Wien aufhalten werde. Diese Kur sei ein Geburtstagsgeschenk ihrer Eltern gewesen.
1.2. Mit Bescheiden vom stellte der Magistrat der Stadt Wien daraufhin die Leistungen der Mindestsicherung mit ein und verfügte die Rückforderung der zu Unrecht empfangenen Leistungen für die Zeit von 12. bis . Begründend führte der Magistrat aus, dass die Beschwerdeführerin ihren Lebensmittelpunkt nicht in Wien habe bzw. sich nicht tatsächlich in Wien aufhalte und damit die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Leistungen der Mindestsicherung in diesem Zeitraum nicht erfülle.
1.3. Die Beschwerdeführerin erhob daraufhin Beschwerde an das Verwaltungsgericht Wien (VwG Wien) gegen den Bescheid, mit dem die Einstellung der Mindestsicherung angeordnet wurde. Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am wies das VwG Wien die Beschwerde mit Erkenntnis vom ab. Das VwG Wien stellte fest, dass die Beschwerdeführerin die Behörde entsprechend ihrer Meldepflicht gemäß § 21 Abs 1 WMG über ihre geplante Abwesenheit in der Zeit von 12. Mai bis informiert habe und dass die Behörde in der Folge davon habe ausgehen müssen, dass für diesen Zeitraum mangels eines Aufenthaltes iSv § 4 Abs 1 Z 2 iVm § 7 WMG die Leistungen der Mindestsicherung zu Recht eingestellt worden seien.
1.4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, sowie in Rechten wegen der Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
2. Aus Anlass dieser Beschwerde leitete der Verfassungsgerichtshof gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 litb B VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Wortfolge ", sich tatsächlich in Wien aufhält" in § 4 Abs 1 WMG ein. Mit Erkenntnis vom heutigen Tage, G352/2015, hob der Verfassungsgerichtshof die genannte Wortfolge nicht als verfassungswidrig auf.
3. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:
3.1. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998 und 16.488/2002) nur vorliegen, wenn die angefochtene Entscheidung auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn das Verwaltungsgericht der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat.
3.1.1. Wie sich aus dem Erkenntnis vom heutigen Tage, G352/2015, ergibt, ist § 4 Abs 1 WMG nicht verfassungswidrig. Die Bestimmung ist vielmehr einer verfassungskonformen Interpretation dahin zugänglich, dass der Anspruch auf Mindestsicherung zwar (jedenfalls teilweise) verloren gehen kann, wenn die Mindestsicherung genießende Person länger als zwei Wochen von Wien abwesend ist. Für diesen Fall geht der Landesgesetzgeber von der Vermutung aus, dass zumindest für den Lebensunterhalt der betreffenden Person anderweitig vorgesorgt wird.
3.1.2. Das VwG Wien hat dem Gesetz allerdings insoweit einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt, als es die Leistungen der Mindestsicherung für den gesamten Zeitraum der Abwesenheit der Beschwerdeführerin ohne nähere Prüfung zur Gänze eingestellt hat. Das VwG Wien hätte – wie sich im Gesetzesprüfungsverfahren G352/2015 herausgestellt hat – in sinngemäßer Anwendung des § 17 Abs 2 und 3 WMG auf die Frage des allfälligen Fortbestands des Wohnbedarfs während der nur vorübergehenden Abwesenheit der Beschwerdeführerin sowie auf den allfälligen fortdauernden Bedarf nach Taschengeld in diesem Zeitraum Bedacht nehmen und prüfen müssen, ob wegen eines Fortbestandes dieses Bedarfes die Grundleistung für den Wohnbedarf bzw. ein Taschengeld nach den genannten Gesetzesstellen auch während der Abwesenheit aus Wien zustehen.
3.2. Die Beschwerdeführerin ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
4. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.
5. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.
European Case Law Identifier
ECLI:AT:VFGH:2015:E1864.2014
Fundstelle(n):
NAAAE-24827