VfGH vom 10.03.2020, E1791/2019
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat und Familienlebens durch eine Rückkehrentscheidung betreffend einen afghanischen Staatsangehörigen mangels ausreichender Auseinandersetzung mit der zu erwartenden Geburt des Kindes des Beschwerdeführers
Spruch
I.1.Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan und gegen die Feststellung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wird, in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt worden.
Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.
2.Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
II.Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I.Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1.Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und stellte nach seiner Einreise ins Bundesgebiet am einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Vater des Beschwerdeführers sei auf Grund seiner Tätigkeit für die afghanische Regierung von den Taliban umgebracht worden. Die Taliban hätten die Familie des Beschwerdeführers bedroht, den Beschwerdeführer mit einem Auto angefahren und hätten deren Haus in Brand gesetzt, weshalb der Beschwerdeführer geflohen sei.
2.Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan ab. Es erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist. Des Weiteren räumte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung ein.
3.Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung – mit Erkenntnis vom ab. Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass dem Beschwerdeführer hinsichtlich seines Fluchtvorbringens keine Glaubwürdigkeit zukomme. Dem Beschwerdeführer könne als jungem und alleinstehenden Mann im erwerbsfähigen Alter eine Rückkehr in die Städte Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat als innerstaatliche Schutzalternative zugemutet werden. In Bezug auf die Erlassung der Rückkehrentscheidung und die damit zusammenhängenden Aussprüche führt das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen Folgendes aus:
Der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet gründe sich nur auf einen – im Ergebnis unberechtigten – Antrag auf internationalen Schutz. Zu den im Bundesgebiet lebenden (aufenthaltsberechtigten) Geschwistern des Beschwerdeführers bestehe kein Abhängigkeitsverhältnis. Der Beschwerdeführer sei nach islamischen Ritus mit einer afghanischen Staatsangehörigen verheiratet, welche zum Entscheidungszeitpunkt ein Kind vom Beschwerdeführer erwarte. Da der Beschwerdeführer erst seit kurzem mit seiner Lebensgefährtin in einem gemeinsamen Haushalt wohne, gehe das Bundesverwaltungsgericht noch nicht von einer verfestigten Beziehung aus. Betreffend das noch ungeborene Kind sei festzuhalten, dass noch kein schützenwertes Familienleben vorliege, zumal Kinder erst vom Moment ihrer Geburt an Teil der Familie werden würden.
4.Gegen diese Entscheidung richtet sich vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten, verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der Entscheidung beantragt wird. Im Wesentlichen wendet sich die Beschwerde gegen die Erlassung der Rückkehrentscheidung: Das Bundesverwaltungsgericht habe es verabsäumt, bei seiner Interessenabwägung das Kindeswohl zu berücksichtigen. Insbesondere hätte es die Auswirkungen einer dauerhaften Trennung des Beschwerdeführers auf sein (damals noch ungeborenes) Kind und seine Lebensgefährtin sowie eine mögliche Fortsetzung des Familienlebens im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers überprüfen müssen.
5.Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen.
II.Erwägungen
1.Die – zulässige – Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan und gegen die Feststellung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise richtet, begründet.
2.Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).
3.Dem Bundesverwaltungsgericht ist bei der gemäß Art 8 Abs 2 EMRK gebotenen Abwägung ein solcher in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen:
3.1.Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine Aufenthaltsbeendigung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art 8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte). Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind die Auswirkungen der Entscheidung und die Konsequenzen einer Außerlandesbringung des Beschwerdeführers auf das Familienleben und auf das Kindeswohl etwaiger Kinder des Betroffenen zu erörtern (vgl hiezu ; zur Bedeutung der mit einer Trennung des Beschwerdeführers von seinem Kind verbundenen Auswirkungen VfSlg 19.362/2011). Einer mit der Ausweisung verbundenen Trennung von Familienmitgliedern kommt eine entscheidungswesentliche Bedeutung zu (vgl VfSlg 18.388/2008, 18.389/2008, 18.392/2008). Die Intensität der privaten und familiären Bindungen im Inland ist dabei zu berücksichtigen (VfSlg 18.748/2009). Einer mit der Ausweisung verbundenen Trennung des Beschwerdeführers von einer Lebensgefährtin ist ebenfalls entscheidungswesentliche Bedeutung beizumessen (VfSlg 18.393/2008).
3.2.Vor diesem Hintergrund erweist sich die Interessenabwägung nach Art 8 Abs 2 EMRK, die das Bundesverwaltungsgericht vornimmt, als unzureichend:
3.2.1.Betreffend das ungeborene Kind des Beschwerdeführers geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass noch kein schützenwertes Familienleben vorliege. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist jedoch auch auf den Umstand Bedacht zu nehmen, dass die Lebensgefährtin des Beschwerdeführers schwanger ist (vgl VfSlg 18.223/2007, 18.393/2008, 19.776/2013; ; , E3079/2018).
3.2.2.Im Zeitpunkt der Erlassung der gegenständlichen Rückkehrentscheidung war es absehbar, dass der Beschwerdeführer demnächst Vater eines Kindes werden würde. Davon ausgehend hätte das Bundesverwaltungsgericht eingehend begründen müssen, weshalb die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und die damit verbundene Trennung des Beschwerdeführers von seinem Kind im öffentlichen Interesse geboten ist.
3.2.3.Indem das Bundesverwaltungsgericht diesen Umstand bei seiner Interessenabwägung nicht berücksichtigt hat, hat es – ungeachtet des Umstandes, dass das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich der Beschwerdeführer seines unsicheren Aufenthalts bewusst war (vgl zur Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, wonach dieser Umstand zwar zu berücksichtigten ist, einen Eingriff in das Recht aus Art 8 EMRK aber nicht ausschließt etwa VfSlg 18.223/2007) – diese mit einem in die Verfassungssphäre reichenden Mangel belastet.
4.Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigte Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten und gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:
Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs 2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.
Die Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.
Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde, soweit sie sich gegen die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und gegen die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten richtet, abzusehen.
III.Ergebnis
1.Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan und gegen die Feststellung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) verletzt worden.
2.Die Entscheidung ist daher insoweit aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3.Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen.
4.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
5.Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:VFGH:2020:E1791.2019 |
Schlagworte: | Asylrecht, Privat- und Familienleben, Rückkehrentscheidung, Entscheidungsbegründung |
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