VfGH vom 24.11.2015, E1363/2015
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz und Feststellung der Zuständigkeit Ungarns sowie Anordnung der Außerlandesbringung mangels Heranziehung und Würdigung aktuellen Berichtsmaterials hinsichtlich der neu entstandenen Situation für Asylwerber in Ungarn
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz. Ausweislich einer Eurodac-Registerauskunft war er zuvor in Ungarn erkennungsdienstlich behandelt worden und hatte dort am einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
Am richtete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein auf Art 18 Abs 1 litb der Verordnung (EU) Nr 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin III-VO) gestütztes Ersuchen auf Wiederaufnahme des Beschwerdeführers an Ungarn. Mit Schreiben vom erklärten sich die ungarischen Behörden zur Wiederaufnahme bereit.
2. Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – ohne in die Sache einzutreten – den Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurück und sprach aus, dass Ungarn zur Prüfung des Antrages zuständig sei. Gleichzeitig wurde die Außerlandesbringung des Beschwerdeführers angeordnet und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Ungarn zulässig sei.
3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Beschwerdeführers wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom ab. Begründend führte es im Wesentlichen aus, dass auf Grund der ungarischen Rechtslage und/oder Vollzugspraxis keine systematischen Verletzungen von Rechten gemäß der EMRK erfolgen würden und diesbezüglich auch keine maßgebliche Wahrscheinlichkeit im Sinne eines "real risk" bestehen würde.
Zur Inhaftierung von Asylwerbern in Ungarn führte das Bundesverwaltungsgericht u.a. Folgendes aus:
"In dem Zusammenhang ist auch auszuführen, dass die oftmals geübte Kritik, dass es kein effektives Rechtsmittel gegen eine Inhaftierung gebe, insofern zu kurz greift, als nach den Feststellungen eine amtswegige Haftüberprüfung, zunächst nach 3 Tagen und dann alle 60 Tage, eingerichtet ist, sodass eine gerichtliche Überprüfung der verhängten Haft sehr wohl existiert.
Auch kann – wie sich aus den Feststellungen zur asylrechtlichen Haft ergibt – keine quasi 'flächendeckende' Inhaftierung von Asylwerbern abgeleitet werden. Wenn demgegenüber in der Beschwerde auf den Beschluss des VG Berlin vom hingewiesen wird, in dem notorisch ins Treffen geführt wird, dass 'regelmäßig nahezu alle' Dublin-Rückkehrer inhaftiert werden würden, so ist dem entgegenzuhalten, dass die ungarischen Bestimmungen zur asylrechtlichen Haft Tatbestandsvoraussetzungen normieren, die im Wesentlichen ein von den Antragstellern zu vertretendes Verzögern des Verfahrens hintanhalten sollen. Wenn sich hieraus ergibt, dass ein besonderer Teil der Antragsteller, konkret die Dublin-Rückkehrer häufig diese Tatbestandsvoraussetzungen erfüllen, so begegnet dies allein noch keinen grundsätzlichen Bedenken. Der Umstand, dass ein Asylwerber nach einer Dublin-Rückstellung in Haft genommen werden könnte, reicht alleine nicht aus, eine Überstellung nach der Dublin Verordnung für unzulässig zu erklären (vgl. ZI. 2005/20/0095)."
4. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, gemäß Art 144 B VG erhobene Beschwerde, in der die Verletzung näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
Begründend führt der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, dass das vom Bundesverwaltungsgericht zur Beurteilung der Situation von Asylwerbern in Ungarn herangezogene Berichtsmaterial nicht hinreichend aktuell gewesen sei.
5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Äußerung Abstand genommen und auf die Begründung in der angefochtenen Entscheidung verwiesen.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs 1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Die Entscheidung, einen Fremden auszuweisen oder in anderer Form außer Landes zu schaffen, kann die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK bzw. der GRC begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (vgl. VfSlg 13.837/1994, 14.119/1995, 14.998/1997).
3.2. Dies gilt – bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art 3 Abs 2 zweiter und dritter Satz Dublin III-VO – auch dann, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union gemäß Dublin III-VO für die Prüfung eines im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gestellten Asylantrages zuständig ist. Insofern muss geprüft werden, ob es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung mit sich bringen. Daraus ergibt sich die Verpflichtung, den zur Beurteilung der Verpflichtung zum Selbsteintritt wesentlichen Sachverhalt festzustellen und zu würdigen (vgl. VfSlg 19.264/2010, 19.794/2013, 19.878/2014).
3.3. Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverwaltungsgericht bereits zum Zeitpunkt seiner Entscheidung im Mai 2015 in entscheidungswesentlichen Punkten nähere Ermittlungen unterlassen, obwohl bereits Informationen leicht zugänglich waren, die nachher zur vorläufigen Maßnahme des EGMR vom im Fall Al Balkhi gegen Österreich (Appl. 44.181/15) führten:
3.3.1. Das Bundesverwaltungsgericht geht anhand der getroffenen Feststellungen davon aus, dass eine "flächendeckende" Inhaftierungspraxis in Ungarn nicht ersichtlich sei, und beruft sich auf Länderberichte, die mit Mitte Juli 2014 oder einem davor gelegenen Zeitpunkt datiert sind. Zwar sind diese Berichte um Auskünfte des Verbindungsbeamten in Ungarn des Bundesministeriums für Inneres mit Stand März 2015 ergänzt, jedoch finden sich diese weder in den Verwaltungs- und Gerichtsakten noch in der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (zum Erfordernis der Nachvollziehbarkeit verwendeter Quellen vgl. mwH).
Auch unterlässt das Bundesverwaltungsgericht die Berücksichtigung ihm gegenüber erwähnter Einschätzungen, insbesondere des UNHCR, dessen Wertungen im Kontext der Prüfung des Art 3 Abs 2 zweiter und dritter Satz Dublin III-VO maßgebliches Gewicht beizumessen ist (, Halaf, Rz 44). Mit Auskunft vom teilte UNHCR etwa dem Verwaltungsgericht Düsseldorf mit, dass – ausgenommen Familien und vulnerable Personen – praktisch alle Dublin-Rückkehrer in Haft genommen würden. Eine regelmäßige Inhaftierung von Dublin-Rückkehrern bescheinigte auch die Nichtregierungsorganisation Pro Asyl in Kooperation mit dem Hungarian Helsinki Committee (Auskunft an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom ).
Schließlich ist aus der zitierten Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes () für die vom Bundesverwaltungsgericht eingenommene Position nichts zu gewinnen. Auch in diesem Zusammenhang wäre eine Auseinandersetzung mit oben angeführten Einschätzungen des UNHCR erforderlich gewesen, wonach die ungarische Vollzugspraxis schon zu diesem Zeitpunkt nicht transparent gewesen sei und eine einzelfallbezogene Begründung der Haftanordnung regelmäßig fehle.
3.3.2. Dass die Entwicklung der Flüchtlingsströme nach Europa zu einer Überlastung auch des ungarischen Asylsystems führen und dies auf Grund einer zunehmend ablehnenden Haltung des ungarischen Staates gegenüber Asylwerbern letztlich in einer systematischen Verletzung der Menschenrechte münden könnte (vgl. , N.S. sowie die danach ergangene vorläufige Maßnahme EGMR , Fall Al Balkhi, Appl. 44.181/15), war bereits im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes in Betracht zu ziehen (vgl. auch den Bericht des Hungarian Helsinki Committee "Hungarian Government reveals plans to breach EU asylum law and to subject asylum-seekers to massive detention and immediate deportation" vom ).
3.4. In Zusammenschau der beschriebenen Entwicklungen geht der Verfassungsgerichtshof von einer bereits zum Entscheidungszeitpunkt deutlich veränderten Sachlage im ungarischen Asylsystem aus, der zufolge das Bundesverwaltungsgericht Berichtsmaterial heranziehen und würdigen hätte müssen, das die für Asylwerber in Ungarn neu entstandene Situation berücksichtigt hätte (vgl. VfSlg 19.878/2014). Da die tatsächlich einbezogenen Berichte diesen Anforderungen nicht gerecht werden, hat das Bundesverwaltungsgericht das Erkenntnis mit Willkür belastet.
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.
2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.
European Case Law Identifier
ECLI:AT:VFGH:2015:E1363.2015