VfGH vom 12.10.2016, E1349/2016
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Bestätigung einer Rückkehrentscheidung betr einen pakistanischen Staatsangehörigen; verfassungswidrige Interessenabwägung auf Grund fehlender Ermittlungen der konkreten Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung für die Beziehung des Beschwerdeführers zu seiner minderjährigen Tochter unter Außerachtlassung des Kindeswohles
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, insoweit damit auch die Spruchpunkte II. und III. des vor dem Bundesverwaltungsgericht bekämpften Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl bestätigt werden, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens verletzt worden. Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der 1991 geborene Beschwerdeführer, pakistanischer Staatsangehöriger, reiste spätestens 2012 nach Österreich ein und hält sich seither hier auf. Nach rechtskräftiger Abweisung seines ersten Antrages auf internationalen Schutz vom blieb auch ein Wiederaufnahmeantrag zu diesem ersten Verfahren erfolglos. Am wurde die Tochter des Beschwerdeführers, eine rumänische Staatsangehörige, in Österreich geboren. Daraufhin begründet der Beschwerdeführer seinen zweiten Antrag auf internationalen Schutz vom unter Aufrechterhaltung seiner bisherigen Fluchtgründe auch mit der Geburt seiner Tochter und damit, dass er mit der Kindesmutter, eine rumänische Staatsangehörige, seit eineinhalb Jahren zusammenlebe und diese heiraten wolle.
2. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diesen zweiten Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und subsidiär Schutzberechtigten wegen entschiedener Sache zurück, erteilte dem Beschwerdeführer auch keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, sondern erließ – explizit ohne Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise – eine Rückkehrentscheidung und sprach die Zulässigkeit einer Abschiebung nach Pakistan aus.
Die dagegen erhobene Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht wendete im Wesentlichen eine insbesondere durch die Geburt der Tochter veränderte – und von der belangten Behörde nicht hinreichend berücksichtigte – Sachlage (vor allem hinsichtlich des Privat- und Familienlebens und des Kindeswohles) ein. Die Mutter habe das Kleinkind, das die EU-Bürgschaft besitzt, verlassen; der Beschwerdeführer wolle gerne für seine Tochter sorgen, was ihm aber ohne Aufenthaltstitel und Arbeitsmarktzugang nicht möglich sei.
3. Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde gemäß "§28 Abs 1 VwGVG BGBL I 33/2013 idgF, § 68 Abs 1 AVG 1991, BGBlI Nr 51/1991 idgF, §§57 und 55, 10 AsylG 2005 BGBl I 100/2005 idgF iVm 9 BFA-VG BGBl I Nr 87/2012 idgF sowie §§52 Abs 2 Z 1 und Abs 9, 46 und 55, sowie 53 FPG 2005 BGBl I 100/2005 idgF" als unbegründet ab (Spruchpunkt A.) und sprach die Unzulässigkeit der Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art 133 Abs 4 B VG aus (Spruchpunkt B.). Eine mündliche Verhandlung konnte nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes gemäß "§21 Abs 7 BFA-VG, BGBl I Nr 68/2013 idgF" unterbleiben, da – auch unter Berücksichtigung der Beschwerdebehauptungen – der "Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint".
Hinsichtlich der Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hält das Bundesverwaltungsgericht im Kern unter Hinweis auf höchstgerichtliche Rechtsprechung fest, dass sich – auch in Anbetracht der dem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zugrunde gelegten, "nach wie vor Gültigkeit besitzen[den]" Länderfeststellungen – weder hinsichtlich Asyl noch subsidiärem Schutz neue zu berücksichtigende Aspekte ergeben hätten, sodass es sich um eine bereits entschiedene Sache handle.
Hinsichtlich der Aufenthaltsbeendigung geht das Bundesverwaltungsgericht nach Wiedergabe höchstgerichtlicher Rechtsprechung erkennbar von einem Familienleben zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Tochter aus, weist aber auf die Übertragung der Obsorge auf den Jugendwohlfahrtsträger aus Gründen des Kindeswohles (weil die Obsorge durch die leibliche Mutter bzw. deren Familie nicht gewährleistet war) mit Beschluss des Bezirksgerichtes Floridsdorf vom hin. Die Tochter lebe bei Pflegeeltern, weil die Mutter den Kontakt zum Kind und zum Jugendwohlfahrtsträger abgebrochen habe. Der – mit der Kindesmutter in keinem gemeinsamen Haushalt wohnende – Beschwerdeführer zahle keinen Unterhalt und leiste auch sonst keine finanziellen Zuwendungen, besuche seine Tochter aber einmal im Monat. Unter diesen Umständen könne der Beschwerdeführer weder aus Art 8 EMRK noch aus näher bezeichneter Rechtsprechung des EuGH ein Aufenthaltsrecht ableiten, zumal das Familienleben zur Tochter durch deren Geburt zu einer Zeit ungewissen Aufenthalts entstanden sei und es dem Beschwerdeführer frei stehe, "den Kontakt zur Tochter durch briefliche, telefonische, elektronische Kontakte oder durch gegenseitige Besuche aufrecht zu erhalten".
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich – im Umfang des Spruches über die Nicht-Erteilung eines Aufenthaltstitels und betreffend die Rückkehrentscheidung – die vorliegende, auf Art 144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht nach Art 8 EMRK auf Achtung des Privat- und Familienlebens, nach Art 1 BVG über die Rechte von Kindern, BGBl I 4/2011, auf Wohl des Kindes und nach Art 47 GRC auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
5. Im Wesentlichen wird eine verfassungswidrige Interessenabwägung moniert: Der Beschwerdeführer habe schon in der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht angegeben, sich um das Sorgerecht für seine Tochter bemühen zu wollen. Dafür benötige er aber ein Aufenthaltsrecht sowie Zugang zur Erwerbstätigkeit. Die angefochtene Entscheidung beraube ihn dieser Möglichkeit. Das Familienleben zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Tochter im Kleinkindalter sei im Falle einer Ausreise – anders als das Bundesverwaltungsgericht meint – gerade nicht aufrechtzuerhalten. Der Beschwerdeführer müsse infolge der angefochtenen Entscheidung das Bundesgebiet verlassen und sei deshalb entgegen dem Kindeswohl nicht mehr in der Lage, elterlichen Kontakt zu seinem Kind zu haben. Daher greife die Rückkehrentscheidung unzulässigerweise in das Familienleben des Beschwerdeführers und in das Wohl des Kindes ein. Vor diesem Hintergrund wäre das Bundesverwaltungsgericht auch verpflichtet gewesen, in einer mündlichen Verhandlung den Beschwerdeführer hinsichtlich seiner Kontakte zu seiner Tochter sowie seiner Absicht, das Sorgerecht zu beantragen, ebenso anzuhören, wie den Jugendwohlfahrtsträger und die Pflegeeltern der Tochter.
6. Das Bundesverwaltungsgericht legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, sah jedoch – ebenso wie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – von der Erstattung einer Äußerung ab.
II. Rechtslage
Die im vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:
1. Das Bundesgesetz, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfah-ren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von inter-nationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdi-gen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden (BFA Verfahrensgesetz – BFA-VG), BGBl I 87/2012, idF BGBl I 17/2016, lautet auszugsweise:
"2. Hauptstück
Zuständigkeiten
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl
§3. (1) Behörde im Inland nach diesem Bundesgesetz ist das Bundesamt mit bundesweiter Zuständigkeit.
(2) Dem Bundesamt obliegt
1. […]
2. die Gewährung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß dem AsylG 2005,
3. die Anordnung der Abschiebung, die Feststellung der Duldung und die Vollstreckung von Rückführungsentscheidungen von EWR-Staaten gemäß dem 7. Hauptstück des FPG,
4. die Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gemäß dem 8. Hauptstück des FPG,
5.-7. […]
(3) […]
Bundesverwaltungsgericht
§7. (1) Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet über
1. Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes,
2.-5. […]
(2) […]
3. Hauptstück
Allgemeine Verfahrensbestimmungen
Schutz des Privat- und Familienlebens
§9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§45 oder §§51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl I Nr 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
(4)-(6) […]
Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht
§21. (1)-(6a) […]
(7) Eine mündliche Verhandlung kann unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG."
2. Das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 – AsylG 2005), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 10/2016, lautet auszugsweise:
"2. Hauptstück
Status des Asylberechtigten und des subsidiär Schutzberechtigten
[…]
5. Abschnitt
Gemeinsame Bestimmungen
Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme
§10. (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn
1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§4 oder 4a zurückgewiesen wird,
2. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 zurückgewiesen wird,
3. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
4. einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder
5. einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird
und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird sowie in den Fällen der Z 1 bis 5 kein Fall der §§8 Abs 3a oder 9 Abs 2 vorliegt.
(2) Wird einem Fremden, der sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt, von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt, ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.
(3) Wird der Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§55, 56 oder 57 abgewiesen, so ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden. Wird ein solcher Antrag zurückgewiesen, gilt dies nur insoweit, als dass kein Fall des § 58 Abs 9 Z 1 bis 3 vorliegt.
[…]
7. Hauptstück:
Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen
1. Abschnitt:
Aufenthaltstitel
[…]
Aufenthaltstitel aus Gründen des Art 8 EMRK
§55. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine 'Aufenthaltsberechtigung plus' zu erteilen, wenn
1. dies gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist und
2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a NAG erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§5 Abs 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl I Nr 189/1955) erreicht wird.
(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs 1 Z 1 vor, ist eine 'Aufenthaltsberechtigung' zu erteilen.
[…]
2. Abschnitt:
Verfahren zur Erteilung von Aufenthaltstiteln
Antragstellung und amtswegiges Verfahren
§58. (1) […]
(2) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 ist von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs 1 bis 3 BFA VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird."
3. Das Bundesgesetz über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel (Fremdenpolizeigesetz 2005 – FPG), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 24/2016, lautet auszugsweise:
" 8. Hauptstück
Aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen Fremde
1. Abschnitt
Aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen Drittstaatsangehörige
Rückkehrentscheidung
§52. (1) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich
1. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält oder
2. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und das Rückkehrentscheidungsverfahren binnen sechs Wochen ab Ausreise eingeleitet wurde.
(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (§10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
1. dessen Antrag auf internationalen Schutz wegen Drittstaatsicherheit zurückgewiesen wird,
2. dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
3. ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder
4. ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird
und kein Fall der §§8 Abs 3a oder 9 Abs 2 AsylG 2005 vorliegt und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
(3) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§55, 56 oder 57 AsylG 2005 zurück- oder abgewiesen wird.
(4)-(7) […]
(8) Die Rückkehrentscheidung wird im Fall des § 16 Abs 4 BFA-VG oder mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland gemäß unionsrechtlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Im Falle einer Beschwerde gegen eine Rückkehrentscheidung ist § 28 Abs 2 Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl I Nr 33/2013 auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.
(9) Das Bundesamt hat mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei.
(10) Die Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 kann auch über andere als in Abs 9 festgestellte Staaten erfolgen.
(11) Der Umstand, dass in einem Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung deren Unzulässigkeit gemäß § 9 Abs 3 BFA-VG festgestellt wurde, hindert nicht daran, im Rahmen eines weiteren Verfahrens zur Erlassung einer solchen Entscheidung neuerlich eine Abwägung gemäß § 9 Abs 1 BFA-VG vorzunehmen, wenn der Fremde in der Zwischenzeit wieder ein Verhalten gesetzt hat,
das die Erlassung einer Rückkehrentscheidung rechtfertigen würde.
[…]
Frist für die freiwillige Ausreise
§55. (1) Mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 wird zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
(1a) Eine Frist für die freiwillige Ausreise besteht nicht für die Fälle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 AVG sowie wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß § 18 BFA-VG durchführbar wird."
III. Erwägungen
Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
1. § 10 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 – AsylG 2005), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 10/2016 (im Folgenden: AsylG), regelt u.a., welche Arten von Entscheidungen über Anträge auf internationalen Schutz mit einer Rückkehrentscheidung nach § 52 des Bundesgesetzes über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel (Fremdenpolizeigesetz 2005 – FPG), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 24/2016 (im Folgenden: FPG), zu verbinden sind. Die Bestimmung spricht zwar nicht von Zurückweisungen gemäß § 68 AVG wegen entschiedener Sache. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bildet § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 52 Abs 2 Z 2 FPG in der vorliegenden Konstellation jedoch auch dafür die Rechtsgrundlage, eine zurückweisende Entscheidung nach § 68 AVG mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden (vgl. ; , Ro 2015/21/0037; , Ra 2015/21/0174).
Gemäß § 9 Abs 1 des Bundesgesetzes, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden (BFA Verfahrensgesetz – BFA-VG), BGBl I 87/2012, idF BGBl I 17/2016 (im Folgenden: BFA-VG), ist die Erlassung einer in Art 8 EMRK eingreifenden Rückkehrentscheidung nur zulässig im Falle ihrer dringenden Erforderlichkeit zur Erreichung der in Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele, worüber gemäß § 9 Abs 3 BFA-VG zwingend begründet abzusprechen ist. Dabei sind nach § 9 Abs 2 BFA-VG unter anderem die Art, Dauer und Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des bisherigen Aufenthaltes, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts sowie das Wissen um den unsicheren Aufenthaltsstatus im Zeitpunkt des Entstehens eines Privat- und Familienlebens des Fremden zu berücksichtigen. Ist im Lichte der maßgeblichen Kriterien die Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens geboten, ist gemäß § 55 AsylG ein Aufenthaltstitel aus Gründen des Art 8 EMRK von Amts wegen oder auf begründeten Antrag zu erteilen. Eine entsprechende amtswegige Prüfpflicht für Fälle einer dauerhaften Unzulässigkeit von (Art8 EMRK verletzenden) Rückkehrentscheidungen sieht auch § 58 Abs 2 AsylG vor.
2. Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).
3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine Aufenthaltsbeendigung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art 8 EMRK ist eine Interessenabwä-gung vorzunehmen (vgl. die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergege-bene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).
3.2. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entsteht ein von Art 8 Abs 1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt (vgl. EGMR , Fall Berrehab , Appl. 10.730/84 [Z21]; , Fall Keegan , Appl. 16.969/90 [Z44]). Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (EGMR , Fall Gül , Appl. 23.218/94 [Z32], ÖJZ1996, 593). Das Zusammenleben zwischen einem Elternteil und dem Kind ist dabei keine unabdingbare Voraussetzung für das Vorhandensein eines Familienlebens iSv Art 8 Abs 1 EMRK (EGMR , Fall Boughanemi , Appl. 22.070/93 [Z33 und 35], ÖJZ1996, 834; VfSlg 16.777/2003; ).
Ferner ist es nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ein grundlegender Bestandteil des Familienlebens, dass sich Eltern und Kinder der Gesellschaft des jeweiligen anderen Teiles erfreuen können; die Familienbeziehung wird insbesondere nicht dadurch beendet, dass das Kind in staatliche Pflege genommen wird (vgl. VfSlg 16.777/2003 mit Hinweis auf EGMR , Fall Margareta und Roger Andersson , Appl. 61/1990/252/332 [Z72] mwN, ÖJZ1992, 552; zu den Voraussetzungen für ein [potentielles] Familienleben zwischen einem Kind und dessen Vater siehe auch EGMR , Fall Schneider , Appl. 17.080/07 [Z81] mwN, EuGRZ2011, 565).
Davon ausgehend kann eine unzureichende Berücksichtigung des Kindeswohles zur Fehlerhaftigkeit der Interessenabwägung und somit zu einer Verletzung des Art 8 EMRK führen (vgl. VfSlg 19.362/2011 mwN; mit Hinweis auf EGMR , Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer , Appl. 50.435/99, newsletter 2006, 26 = ÖJZ2006, 738 = EuGRZ2006, 562, sowie insbesondere EGMR , Fall Nunez , Appl. 55.597/09, newsletter 3/2011, 169).
3.3. Vor diesem Hintergrund geht das Bundesverwaltungsgericht zunächst zutreffend von einem Familienleben zwischen dem Beschwerdeführer und seiner minderjährigen Tochter aus, zumal der Vater – der Darstellung des Bundesverwaltungsgerichtes zufolge – zwar nicht mit seiner – mangels Versorgung durch die Mutter bei Pflegeeltern befindlichen – Tochter zusammenlebt, diese aber jedenfalls monatlich besucht. Das Bundesverwaltungsgericht bestreitet auch nicht, dass der Beschwerdeführer – wie er vorbringt – für seine Tochter zwar sorgen wolle, dies aber ohne Aufenthaltstitel und Arbeitsmarktzugang nicht könne.
Ausschlaggebend für das Ergebnis seiner – knappen und formelhaften – Interessenabwägung nach Art 8 EMRK erachtet das Bundesverwaltungsgericht in der Folge, dass die Obsorge für die Tochter nicht beim Beschwerdeführer liegt, dass es diesem frei steht, den Kontakt zur Tochter durch briefliche, telefonische, elektronische Kontakte oder durch gegenseitige Besuche aufrecht zu erhalten und dass "das Kind bei der Pflegefamilie in geordneten Verhältnissen aufwächst". Das Bundesverwaltungsgericht stellt hierfür aber keine näheren Ermittlungen oder Überlegungen an (und führt auch keine mündliche Verhandlung durch) zur Frage, welche konkreten Auswirkungen eine Aufenthaltsbeendigung des Vaters auf die Beziehung zur und das Wohl der Tochter haben würde.
3.4. Das Bundesverwaltungsgericht geht damit erkennbar – und im Widerspruch zu der oben geschilderten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (siehe Punkt 3.2.) – davon aus, dass im konkreten Fall der Schutz des durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Familienlebens stark gemindert ist, weil dem Beschwerdeführer die Obsorge für sein Kind nicht zukommt und der Kontakt zur Tochter auch vom Ausland aus aufrecht erhalten werden kann. Damit übersieht das Bundesverwaltungsgericht aber, dass die fehlende Obsorge durch den Beschwerdeführer nicht von der grundrechtlichen Verpflichtung entbindet, die konkreten Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung auf die Beziehung des Beschwerdeführers zu und das Wohl seiner Tochter zu ermitteln (allgemein zu dieser Verpflichtung VfSlg 19.362/2011 mwN; jüngst auch ), zumal aus einem – im Verwaltungsakt ersichtlichen – Schreiben des Magistrats der Stadt Wien, Magistratsabteilung 11, vom an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hervorgeht, dass der Kontakt zum Beschwerdeführer im Interesse des Kindes liegt. Auch wird mit dem formelhaften Verweis auf moderne Kommunikationsmittel in der vorliegenden Konstellation – die Tochter des Beschwerdeführers ist im Kleinkindalter – der Verpflichtung, die konkreten Auswirkungen der Aufenthaltsbeendigung des Beschwerdeführers insbesondere auf das Wohl des Kindes zu ermitteln, nicht entsprochen (siehe und , E426/2015).
Wenn das Bundesverwaltungsgericht schließlich vermeint, dass der Umstand, dass das Kind bei Pflegeeltern "gut" aufwächst, für die Verhältnismäßigkeit der Aufenthaltsbeendigung spricht, verkennt es, auf welchen Aspekt des Kindeswohles es im konkreten Fall ankommt. In der vorliegenden Konstellation geht es bei der Aufenthaltsbeendigung hinsichtlich des Vaters aus der Perspektive des Kindes vorwiegend nicht um das Verhältnis zu den Pflegeeltern, sondern darum, der Tochter allenfalls (neben den Pflegeeltern auch) regelmäßigen persönlichen Kontakt zum Vater und damit die Chance zu lassen, seine Beziehung zum (nach der Darstellung des Bundesverwaltungsgerichtes:) einzigen leiblichen Elternteil, zu dem noch Kontakt besteht, zu sichern.
4. Indem das Bundesverwaltungsgericht auf all diese Überlegungen in keiner Weise spezifisch für den konkreten Fall in seiner Interessensabwägung eingeht, sondern unter Außerachtlassen eines wesentlichen Aspektes des Kindeswohles (und des damit in Zusammenhang stehenden Parteivorbringens und Akteninhaltes) mit bloß abstrakt gehaltenen Hinweisen und ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung vom Überwiegen öffentlicher Interessen an der Aufenthaltsbeendigung des Beschwerdeführers ausgeht, hat es seiner Entscheidung einen nicht von Art 8 EMRK gedeckten Inhalt unterstellt.
IV. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung, insoweit damit auch Spruchpunkt II. (und der damit untrennbar zusammenhängende Spruchpunkt III.) des vor dem Bundesverwaltungsgericht bekämpften Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl bestätigt wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
2. Da das angefochtene Erkenntnis in seinem Spruch einheitlich die Abweisung der Beschwerde ausspricht, ist es insgesamt aufzuheben.
3. Bei diesem Ergebnis erübrigt es sich, auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen.
4. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe im Umfang des § 64 Abs 1 Z 1 lita ZPO genießt.
European Case Law Identifier
ECLI:AT:VFGH:2016:E1349.2016