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VfGH vom 11.10.2017, E1320/2017

VfGH vom 11.10.2017, E1320/2017

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Abweisung des Antrags einer Staatsangehörigen von Ghana auf Erteilung eines Aufenthaltstitels, auf Zulassung der Inlandsantragstellung sowie auf Absehen vom Nachweis von Deutschkenntnissen mangels Berücksichtigung der besonderen Beziehung zwischen einem neugeborenen Kind und seiner Mutter

Spruch

I.Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II.Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführerin, eine 1985 geborene Staatsangehörige von Ghana, reiste mit einem für den Zeitraum von bis gültigen Visum C in das österreichische Bundesgebiet ein. Am heiratete sie einen österreichischen Staatsbürger, den sie 2012 in Ghana kennengelernt hatte. Am wurde das gemeinsame Kind geboren, dem die österreichische Staatsbürgerschaft zukommt.

2.Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Weiz vom wurde der – am zunächst durch ihren Rechtsvertreter und nach Belehrung (§19 Abs 1 Niederlassungs- und AufenthaltsgesetzNAG) am sodann persönlich eingebrachte – Antrag der Beschwerdeführerin auf Erteilung des Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" (§8 Abs 1 Z 8 iVm § 47 NAG), auf Zulassung der Inlandsantragstellung (§21 Abs 3 NAG) sowie auf Absehen vom Nachweis von Deutschkenntnissen bei Stellung eines Erstantrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels (§21a Abs 5 NAG) abgewiesen. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung vom Landesverwaltungsgericht Steiermark mit Erkenntnis vom abgewiesen.

3.Der Verfassungsgerichthof hob in der Folge die Entscheidung des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark wegen Verletzung von Art 8 EMRK auf (). Begründend wurde insbesondere ausgeführt, dass das Landesverwaltungsgericht Steiermark bei der Interessenabwägung eine Auseinandersetzung mit den Folgen, die eine durch die Abweisung des Antrages der Beschwerdeführerin drohende Ausreise – wenn auch für die Dauer des Abwartens eines Niederlassungsverfahrens – und die damit verbundene Trennung von ihrem Ehemann und ihrem Kind, das die österreichische Staatsangehörigkeit besitzt, mit sich brächten, unterlassen hat. Das Landesverwaltungsgericht Steiermark habe somit die besondere Beziehung zwischen einem neugeborenen Kind und seiner Mutter bei seiner Abwägungsentscheidung nicht berücksichtigt. Das Verwaltungsgericht hätte ermitteln und bei seiner Abwägungsentscheidung berücksichtigen müssen, welche konkreten Auswirkungen eine Ausreise der Beschwerdeführerin auf das Kindeswohl habe.

Mit dem – im zweiten Rechtsgang – erlassenen Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark vom wurde die Beschwerde gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Weiz vom abermals abgewiesen.

3.1. Das Landesverwaltungsgericht begründet in Bezug auf die Inlandsantragstellung gemäß § 21 Abs 3 NAG seine Entscheidung insbesondere damit, dass im Rahmen der dort normierten Interessenabwägung Feststellungen zum gegenwärtigen Privat- und Familienleben nur begrenzt getroffen hätten werden können, weil die Beschwerdeführerin ihrer Mitwirkungspflicht (gemäß § 29 NAG) nicht nachgekommen sei. Mit Schreiben vom sei die Beschwerdeführerin ersucht worden, ein Vorbringen zu den Folgen, die mit der Trennung von ihrem Ehemann und ihrem Kind während einer Auslandsantragstellung und dem Abwarten des Niederlassungsverfahrens verbunden seien, zu erstatten und darzulegen, ob der Ehemann der Beschwerdeführerin und Vater des Kindes die alleinige Obsorge für das Kind, dessen Pflege und Betreuung während der Abwesenheit der Beschwerdeführerin übernehmen könnte. Die Beschwerdeführerin habe mit Schriftsatz vom durch ihren Rechtsvertreter mitgeteilt, dass die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom , E2617/2015, der Beschwerde vor dem Landesverwaltungsgericht zugrunde gelegt werden müsse und daher eine Beantwortung der aufgetragenen Fragen obsolet sei.

In dem angeführten Erkenntnis heißt es wörtlich:

"[…] Das Landesverwaltungsgericht Steiermark hat bei der Interessenabwägung eine Auseinandersetzung mit den Folgen, die eine durch die Abweisung des Antrages der Beschwerdeführerin drohende Ausreise – wenn auch für die Dauer des Abwartens eines Niederlassungsverfahrens – und die damit verbundene Trennung von ihrem Ehemann und ihrem Kind, das die österreichische Staatsangehörigkeit besitzt, mit sich brächten, unterlassen und beschränkt sich auf die bloße Feststellung, dass der Ehemann der Beschwerdeführerin und der gemeinsame – im Zeitpunkt der Entscheidung des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark nur 4 Monate alte – Sohn nicht gezwungen wären, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn der Beschwerdeführerin kein Aufenthaltsrecht gewährt werde. Das Landesverwaltungsgericht Steiermark versäumt es hinsichtlich der damit getroffenen Annahme, der Vater könne die alleinige Obsorge für das gemeinsame neugeborene Kind übernehmen, eine konkrete und fallbezogene Begründung aufzunehmen. Das Verwaltungsgericht hätte in dieser Hinsicht ermitteln und bei seiner Abwägungsentscheidung berücksichtigen müssen, welche konkreten Auswirkungen eine Ausreise der Beschwerdeführerin auf das Kindeswohl hat, insbesondere, ob nicht in der konkreten Situation – angesichts der besonderen Bedürfnisse eines Kindes in der ersten Lebensphase – eine Trennung der Mutter von ihrem Kind faktisch auch das Kind zum Verlassen des Bundesgebietes zwingt (dieser Wertung folgt im Übrigen auch der EuGH in seiner Entscheidung vom , Rs. C-34/09, Gerardo Ruiz Zambrano, Rz 43, wenn er festhält, dass einer einem Drittstaat angehörenden Person in dem Mitgliedstaat des Wohnsitzes ihrer minderjährigen Kinder, die diesem Mitgliedstaat angehören und denen sie Unterhalt gewährt, der Aufenthalt und eine Arbeitserlaubnis nicht verweigert werden dürfen; vgl. idS ; , U2241/12; , E426/2015)."

Auf Grund des Vorbringens der Beschwerdeführerin sei es nicht möglich, in Entsprechung dieses Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vom Feststellungen dahingehend zu treffen, welche konkreten Auswirkungen die Ausreise der Beschwerdeführerin für die Dauer des Abwartens eines Niederlassungsverfahrens und die damit verbundene Trennung von ihrem Ehemann und ihrem Kind, welches die österreichische Staatsbürgerschaft besitze, mit sich brächten. Diesbezüglich gehe das Landesverwaltungsgericht davon aus, dass der Ehemann der Beschwerdeführerin, welcher Pensionist sei, während einer durch die Antragstellung bedingten Abwesenheit der Beschwerdeführerin die alleinige Obsorge für das gemeinsame Kind sowie dessen Pflege und Betreuung übernehmen könnte. Feststellungen zum gegenwärtigen Privat- und Familienleben iSd Art 8 EMRK seien mangels Mitwirkung der Beschwerdeführerin nur begrenzt möglich gewesen.

3.2.In Bezug auf die Nachsicht vom Nachweis von Deutschkenntnissen gehe es – so das belangte Landesverwaltungsgericht – nicht darum, ob Ehegatte oder Sohn der Beschwerdeführerin gezwungen wären, das Unionsgebiet zu verlassen, sondern lediglich darum, dass die Beschwerdeführerin minimale Sprachkenntnisse erlerne, um sich in Österreich integrieren zu können. Es sei daher von einem zwingenden Abweisungsgrund bzw. Erteilungshindernis auszugehen. § 21a Abs 1 NAG gebiete keine Interessenabwägung.

3.3.In Bezug auf den Nachweis, über entsprechende Mittel zur Bestreitung des Unterhalts zu verfügen, stützt sich das Landesverwaltungsgericht ebenfalls auf die fehlende Mitwirkungspflicht der Beschwerdeführerin und begründet, dass nicht festgestellt werden könne, ob die Beschwerdeführerin über ausreichende finanzielle Mittel verfüge oder nicht.

Insgesamt – so das Landesverwaltungsgericht abschließend – sei nach Abwägung aller Umstände die Nichterteilung des beantragten Aufenthaltstitels auch unter Berücksichtigung des Art 8 EMRK verhältnismäßig.

4.Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK behauptet wird.

5.Das Landesverwaltungsgericht Steiermark und die Bezirkshauptmannschaft Weiz legten die Bezug habenden Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, nahmen jedoch jeweils von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand.

II.Rechtslage

Die maßgeblichen Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich (Niederlassungs- und AufenthaltsgesetzNAG), BGBl I 100/2005 idF BGBl I 70/2015, lauten wie folgt:

"Allgemeine Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel

§11. (1) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nicht erteilt werden, wenn

1. gegen ihn ein aufrechtes Einreiseverbot gemäß § 53 FPG oder ein aufrechtes Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG besteht;

2. gegen ihn eine Rückführungsentscheidung eines anderen EWR-Staates oder der Schweiz besteht;

3. gegen ihn eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung erlassen wurde und seit seiner Ausreise nicht bereits achtzehn Monate vergangen sind, sofern er nicht einen Antrag gemäß § 21 Abs 1 eingebracht hat, nachdem er seiner Ausreiseverpflichtung freiwillig nachgekommen ist;

4. eine Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder Aufenthaltsadoption (§30 Abs 1 oder 2) vorliegt;

5. eine Überschreitung der Dauer des erlaubten visumfreien oder visumpflichtigen Aufenthalts im Zusammenhang mit § 21 Abs 6 vorliegt oder

6. er in den letzten zwölf Monaten wegen Umgehung der Grenzkontrolle oder nicht rechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet rechtskräftig bestraft wurde.

(2) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nur erteilt werden, wenn

1. der Aufenthalt des Fremden nicht öffentlichen Interessen widerstreitet;

2. der Fremde einen Rechtsanspruch auf eine Unterkunft nachweist, die für eine vergleichbar große Familie als ortsüblich angesehen wird;

3. der Fremde über einen alle Risken abdeckenden Krankenversicherungsschutz verfügt und diese Versicherung in Österreich auch leistungspflichtig ist;

4. der Aufenthalt des Fremden zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte;

5. durch die Erteilung eines Aufenthaltstitels die Beziehungen der Republik Österreich zu einem anderen Staat oder einem anderen Völkerrechtssubjekt nicht wesentlich beeinträchtigt werden, und

6. der Fremde im Fall eines Verlängerungsantrages (§24) das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a rechtzeitig erfüllt hat.

(3) Ein Aufenthaltstitel kann trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß Abs 1 Z 3, 5 oder 6 sowie trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß Abs 2 Z 1 bis 6 erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische MenschenrechtskonventionEMRK), BGBl Nr 210/1958, geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen rechtswidrig war;

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;

4. der Grad der Integration;

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Drittstaatsangehörigen;

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit;

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Drittstaatsangehörigen in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren;

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(4) Der Aufenthalt eines Fremden widerstreitet dem öffentlichen Interesse (Abs2 Z 1), wenn

1. sein Aufenthalt die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden würde oder

2. der Fremde ein Naheverhältnis zu einer extremistischen oder terroristischen Gruppierung hat und im Hinblick auf deren bestehende Strukturen oder auf zu gewärtigende Entwicklungen in deren Umfeld extremistische oder terroristische Aktivitäten derselben nicht ausgeschlossen werden können.

(5) bis (7) […]

[…]

Verfahren bei Erstanträgen

§21. (1) Erstanträge sind vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen. Die Entscheidung ist im Ausland abzuwarten.

(2) Abweichend von Abs 1 sind zur Antragstellung im Inland berechtigt:

1. Familienangehörige von Österreichern, EWR-Bürgern und Schweizer Bürgern, die in Österreich dauernd wohnhaft sind und nicht ihr unionsrechtliches oder das ihnen auf Grund des Freizügigkeitsabkommens EG-Schweiz zukommende Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten in Anspruch genommen haben, nach rechtmäßiger Einreise und während ihres rechtmäßigen Aufenthalts;

2. Fremde bis längstens sechs Monate nach Ende ihrer rechtmäßigen Niederlassung im Bundesgebiet, wenn sie für diese Niederlassung keine Bewilligung oder Dokumentation nach diesem Bundesgesetz benötigt haben;

3. Fremde bis längstens sechs Monate nach Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft, oder der Staatsangehörigkeit der Schweiz oder eines EWR-Staates;

4. Kinder im Fall des § 23 Abs 4 binnen sechs Monaten nach der Geburt;

5.Fremde, die an sich zur visumfreien Einreise berechtigt sind, während ihres erlaubten visumfreien Aufenthalts;

6. Fremde, die eine Aufenthaltsbewilligung als Forscher (§67) beantragen, und deren Familienangehörige jeweils nach rechtmäßiger Einreise und während ihres rechtmäßigen Aufenthalts;

7. Drittstaatsangehörige, die einen Aufenthaltstitel 'Rot-Weiß-Rot – Karte' gemäß § 41 Abs 1 beantragen, während ihres rechtmäßigen Aufenthaltes im Bundesgebiet mit einem Visum gemäß § 24a FPG;

8. Drittstaatsangehörige, die einen Aufenthaltstitel 'Rot-Weiß-Rot – Karte' gemäß § 41 beantragen, während ihres rechtmäßigen Aufenthaltes im Bundesgebiet mit einer Bestätigung gemäß § 64 Abs 4;

9. Drittstaatsangehörige, die gemäß § 1 Abs 2 liti oder j AuslBG oder § 1 Z 5, 7 oder 9 AuslBVO vom Anwendungsbereich des AuslBG ausgenommen sind oder die unter § 1 Z 4 Personengruppenverordnung 2014 – PersGV 2014, BGBl II Nr 340/2013, fallen und die eine Aufenthaltsbewilligung 'Sonderfälle unselbständiger Erwerbstätigkeit' oder eine Aufenthaltsbewilligung 'Studierender' beantragen, nach rechtmäßiger Einreise und während ihres rechtmäßigen Aufenthalts und

10. Drittstaatsangehörige, die über ein österreichisches Reife-, Reifeprüfungs- oder Diplomprüfungszeugnis einer in- oder ausländischen Schule verfügen, nach rechtmäßiger Einreise und während ihres rechtmäßigen Aufenthalts.

(3) Abweichend von Abs 1 kann die Behörde auf begründeten Antrag die Antragstellung im Inland zulassen, wenn kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs 1 Z 1, 2 oder 4 vorliegt und die Ausreise des Fremden aus dem Bundesgebiet zum Zweck der Antragstellung nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar ist:

1. im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen (§2 Abs 1 Z 17) zur Wahrung des Kindeswohls oder

2. zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK (§11 Abs 3).

Die Stellung eines solchen Antrages ist nur bis zur Erlassung des Bescheides zulässig. Über diesen Umstand ist der Fremde zu belehren.

(4) Beabsichtigt die Behörde den Antrag nach Abs 3 zurück- oder abzuweisen, so hat die Behörde darüber im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.

(5) Der Bundesminister für Inneres ist ermächtigt, Staatsangehörige bestimmter Staaten durch Verordnung zur Inlandsantragsstellung zuzulassen, soweit Gegenseitigkeit gegeben ist oder dies im öffentlichen Interesse liegt.

(6) Eine Inlandsantragstellung nach Abs 2 Z 1, Z 4 bis 10, Abs 3 und 5 schafft kein über den erlaubten visumfreien oder visumpflichtigen Aufenthalt hinausgehendes Bleiberecht. Ebenso steht sie der Erlassung und Durchführung von Maßnahmen nach dem FPG nicht entgegen und kann daher in Verfahren nach dem FPG keine aufschiebende Wirkung entfalten.

Nachweis von Deutschkenntnissen

§21a. (1) Drittstaatsangehörige haben mit der Stellung eines Erstantrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 8 Abs 1 Z 2, 4, 5, 6 oder 8 Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen. Dieser Nachweis hat mittels eines allgemein anerkannten Sprachdiploms oder Kurszeugnisses einer durch Verordnung gemäß Abs 6 oder 7 bestimmten Einrichtung zu erfolgen, in welchem diese schriftlich bestätigt, dass der Drittstaatsangehörige über Kenntnisse der deutschen Sprache zumindest zur elementaren Sprachverwendung auf einfachstem Niveau verfügt. Das Sprachdiplom oder das Kurszeugnis darf zum Zeitpunkt der Vorlage nicht älter als ein Jahr sein.

(2) Abs 1 gilt auch für Drittstaatsangehörige, die einen Antrag auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 8 Abs 1 Z 2, 4, 5, 6 oder 8 im Zuge eines Verfahrens gemäß § 24 Abs 4 oder § 26 stellen.

(3) Der Nachweis gilt überdies als erbracht, wenn die Voraussetzungen zur Erfüllung des Moduls 1 oder 2 der Integrationsvereinbarung (§§14a und 14b) vorliegen.

(4) Abs 1 gilt nicht für Drittstaatsangehörige,

1. die zum Zeitpunkt der Antragstellung unmündig sind,

2. denen auf Grund ihres physischen oder psychischen Gesundheitszustandes die Erbringung des Nachweises nicht zugemutet werden kann; dies hat der Drittstaatsangehörige durch ein amtsärztliches Gutachten oder ein Gutachten eines Vertrauensarztes einer österreichischen Berufsvertretungsbehörde nachzuweisen, oder

3. die Familienangehörige von Inhabern eines Aufenthaltstitels gemäß §§41 Abs 1, 42 oder 45 Abs 1, letztere sofern der Zusammenführende ursprünglich einen Aufenthaltstitel 'Blaue Karte EU' innehatte, sind.

(5) Die Behörde kann auf begründeten Antrag eines Drittstaatsangehörigen von einem Nachweis nach Abs 1 absehen:

1. im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen (§2 Abs 1 Z 17) zur Wahrung des Kindeswohls, oder

2. zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK (§11 Abs 3).

Die Stellung eines solchen Antrages ist nur bis zur Erlassung des Bescheides zulässig. Über diesen Umstand ist der Drittstaatsangehörige zu belehren; § 13 Abs 3 AVG gilt.

(6) und (7) […]

[…]

Mitwirkung des Fremden

§29. (1) Der Fremde hat am Verfahren mitzuwirken.

(2) Gelingt es dem Fremden nicht, ein behauptetes Verwandtschaftsverhältnis, auf das er sich nach diesem Bundesgesetz beruft, durch unbedenkliche Urkunden nachzuweisen, so hat ihm die Behörde auf sein Verlangen und auf seine Kosten die Vornahme einer DNA-Analyse zu ermöglichen. Der Fremde ist über diese Möglichkeit zu belehren. Das mangelnde Verlangen des Fremden auf Vornahme einer DNA-Analyse ist keine Weigerung des Fremden, an der Klärung des Sachverhaltes mitzuwirken und hat keine Auswirkung auf die Beweiswürdigung.

(3) Im weiteren Verfahren darf nur die Information über das Verwandtschaftsverhältnis verarbeitet werden; allenfalls darüber hinaus gehende Daten sind zu löschen.

(4) Gelingt es dem Fremden nicht, eine behauptete und auf Grund der bisher vorliegenden Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens zweifelhafte Minderjährigkeit, auf die er sich in einem Verfahren nach diesem Bundesgesetz beruft, durch unbedenkliche Urkunden oder sonstige geeignete und gleichwertige Bescheinigungsmittel nachzuweisen, kann die Behörde im Rahmen einer multifaktoriellen Untersuchungsmethodik zur Altersdiagnose (§2 Abs 1 Z 25 AsylG 2005) auch die Vornahme radiologischer Untersuchungen, insbesondere Röntgenuntersuchungen, anordnen. Jede Untersuchungsmethode hat mit dem geringst möglichen Eingriff zu erfolgen. Die Mitwirkung des Fremden an einer radiologischen Untersuchung ist nicht mit Zwangsmittel durchsetzbar. Bestehen nach der Altersdiagnose weiterhin begründete Zweifel, so ist zu Gunsten des Fremden von seiner Minderjährigkeit auszugehen.

[…]

Aufenthaltstitel 'Familienangehöriger' und 'Niederlassungsbewilligung – Angehöriger'

§47. (1) Zusammenführende im Sinne der Abs 2 bis 4 sind Österreicher oder EWR-Bürger oder Schweizer Bürger, die in Österreich dauernd wohnhaft sind und nicht ihr unionsrechtliches oder das ihnen auf Grund des Freizügigkeitsabkommens EG-Schweiz zukommende Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten in Anspruch genommen haben.

(2) Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige von Zusammenführenden sind, ist ein Aufenthaltstitel 'Familienangehöriger' zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen.

(3) Angehörigen von Zusammenführenden kann auf Antrag eine 'Niederlassungsbewilligung – Angehöriger' erteilt werden, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen und

1. Verwandte des Zusammenführenden, seines Ehegatten oder eingetragenen Partners in gerader aufsteigender Linie sind, sofern ihnen von diesen tatsächlich Unterhalt geleistet wird,

2. Lebenspartner sind, die das Bestehen einer dauerhaften Beziehung im Herkunftsstaat nachweisen und ihnen tatsächlich Unterhalt geleistet wird oder

3. sonstige Angehörige des Zusammenführenden sind,

a) die vom Zusammenführenden bereits im Herkunftsstaat Unterhalt bezogen haben,

b) die mit dem Zusammenführenden bereits im Herkunftsstaat in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben oder

c) bei denen schwerwiegende gesundheitliche Gründe die persönliche Pflege durch den Zusammenführenden zwingend erforderlich machen.

Unbeschadet eigener Unterhaltsmittel hat der Zusammenführende jedenfalls auch eine Haftungserklärung abzugeben.

(4) Angehörigen von Zusammenführenden, die eine 'Niederlassungsbewilligung – Angehöriger' besitzen (Abs3), kann ein Aufenthaltstitel 'Rot-Weiß-Rot – Karte plus' erteilt werden, wenn

1. sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen,

2. ein Quotenplatz vorhanden ist und

3. eine schriftliche Mitteilung der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice gemäß § 20e Abs 1 Z 1 AuslBG vorliegt.

(5) In den Fällen des Abs 4 ist von der Einholung einer schriftlichen Mitteilung der regionalen Geschäftsstelle oder eines Gutachtens der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice abzusehen, wenn der Antrag

1. wegen eines Formmangels oder Fehlens einer Voraussetzung gemäß §§19 bis 24 zurück- oder abzuweisen ist,

2. wegen des Mangels an einem Quotenplatz zurückzuweisen ist, oder

3. wegen zwingender Erteilungshindernisse gemäß § 11 Abs 1 abzuweisen ist.

Erwächst die negative Entscheidung der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice über die Zulassung im Fall des § 20e Abs 1 Z 1 AuslBG in Rechtskraft, ist das Verfahren ohne Weiteres einzustellen."

III.Erwägungen

1.Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:

Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

2.Ein derartiger Fehler ist dem belangten Verwaltungsgericht unterlaufen.

2.1.Gemäß § 11 Abs 3 NAG kann ein Aufenthaltstitel, gemäß § 21 Abs 3 Z 2 NAG die ausnahmsweise Inlandsantragstellung und gemäß § 21a Abs 5 Z 2 NAG eine Nachsicht vom Nachweis von Deutschkenntnissen erteilt bzw. zugelassen werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist bzw. die Ausreise des Fremden aus dem Bundesgebiet zum Zweck der Antragstellung nachweislich zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK nicht möglich oder nicht zumutbar ist.

2.2.Das Landesverwaltungsgericht Steiermark begründet seine – nunmehr im zweiten Rechtsgang nach Aufhebung der ersten Entscheidung durch den Verfassungsgerichtshof ergangene – Entscheidung im Wesentlichen damit, dass die Beschwerdeführerin ihrer Mitwirkungspflicht gemäß § 29 NAG nicht nachgekommen sei und daher Feststellungen zum gegenwärtigen Familienleben nur begrenzt hätten getroffen werden können. Es geht erneut bei seiner die Entscheidung tragenden Annahme davon aus, dass der Ehemann der Beschwerdeführerin, welcher Pensionist ist, "während einer durch die Antragstellung bedingten Abwesenheit der Beschwerdeführerin die alleinige Obsorge für das gemeinsame Kind sowie dessen Pflege und Betreuung übernehmen könnte".

Zu diesem Schluss kommt das Landesverwaltungsgericht (erneut) bloß deshalb, weil die Beschwerdeführerin ihrer Mitwirkungspflicht gemäß § 29 Abs 1 NAG in Gestalt der vom Landesverwaltungsgericht gestellten Fragen nicht nachgekommen sei, weshalb es dem Gericht – so wörtlich – nicht möglich sei, "Feststellungen dahingehend zu treffen, welche konkreten Auswirkungen die Ausreise der Beschwerdeführerin für die Dauer des Abwartens eines Niederlassungsverfahrens und die damit verbundene Trennung von ihrem Ehemann und ihrem Kind […] mit sich brächten."

Die Verwaltungsbehörde und das Verwaltungsgericht haben gemäß § 39 Abs 2 erster Satz AVG bei der Durchführung des Ermittlungsverfahrens von Amts wegen vorzugehen (vgl. idZVwGH , 2011/03/0124 mwH; zur Übertragung des Amtswegigkeitsprinzips auf die Verwaltungsgerichte vgl. ). Angesichts dieses Grundsatzes wäre das Landesverwaltungsgericht Steiermark verpflichtet gewesen, von Amts wegen bzw. auf Grundlage der Verfahrensakten sich mit den Auswirkungen der Trennung von Mutter und Kind auseinanderzusetzen. In jedem Fall kann der Umstand, dass die Beschwerdeführerin in ihrem Vorbringen lediglich auf das aufhebende Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , E2617/2015, verweist, nicht dazu führen, dass eine Auseinandersetzung mit den Folgen der Trennung von Mutter und Kind unterbleiben kann bzw. die Folgen als nicht gewichtig gewertet werden können.

Der Verfassungsgerichtshof verkennt nicht, dass die Verpflichtung zur Mitwirkung im Ermittlungsverfahren eine wesentliche Bedeutung hat; nichtsdestotrotz kann eine Verletzung dieser Verpflichtung nicht bewirken, dass das erkennende Landesverwaltungsgericht davon befreit wäre, von sich aus die für den Verbleib in Österreich sprechenden Gründe gegenüber den dagegen sprechenden Gründen abzuwägen. Beispielsweise zur Frage, welche Auswirkungen die – voraussichtlich nicht nur ganz kurze (im Fall der Auslandsantragstellung) – Trennung eines nunmehr zweijährigen Kindes von seiner Mutter hat; die Dauer derartiger Verfahren etc. kann zweifelsfrei – so das Wissen nicht notorisch ist – ermittelt werden, zumal das BVG über die Rechte von Kindern (BGBl I 4/2011), das in Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention erging, die Bedeutung des Wohles des Kindes hervorhebt.

Die vom Landesverwaltungsgericht Steiermark gezogene Schlussfolgerung ist verfassungswidrig, weil die von Art 8 EMRK verfassungsrechtlich gebotene Abwägung, mangels Vorliegens, Aufbereitung und Gewichtung, aller Gründe fehlt und diese folglich im Ergebnis gänzlich unterblieb.

IV.Ergebnis

1.Die Beschwerdeführerin ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.

2.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3.Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten sind Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

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ECLI:
ECLI:AT:VFGH:2017:E1320.2017
Schlagworte:
Fremdenrecht, Aufenthaltsrecht, Privat- und Familienleben, Mitwirkungspflicht der Parteien

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