VfGH vom 11.06.2015, E1286/2014
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Zurückweisung eines Folgeantrags wegen entschiedener Sache infolge Unterlassung jeglicher Ermittlungstätigkeit hinsichtlich einer Änderung der Sach- und Rechtslage seit der Stellung des Folgeantrags
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer stellte erstmals am einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes (BAA) vom abgewiesen. In diesem Bescheid ging das BAA unter Zugrundelegung von Gutachten davon aus, dass der Beschwerdeführer entgegen seinen Angaben nicht aus Simbabwe, sondern aus Nigeria stamme. Der Bescheid wurde am durch Hinterlegung im Akt zugestellt und erwuchs mangels Erhebung eines Rechtsmittels nach Ablauf der Rechtsmittelfrist am in Rechtskraft.
2. Am stellte der Beschwerdeführer einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser wurde mit Bescheid des BAA vom wegen entschiedener Sache nach § 68 Abs 1 AVG zurückgewiesen und der Beschwerdeführer aus dem Bundesgebiet ausgewiesen.
3. Gegen den Bescheid vom erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an den Asylgerichtshof. Dieser Beschwerde wurde mit Beschluss des Asylgerichtshofes vom aufschiebende Wirkung zuerkannt.
4. Mit Erledigung vom forderte das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerdeführer auf, "zwischenzeitlich allfällig entstandene Aspekte seiner Integration im Hinblick auf sein Privat- und Familienleben" darzulegen. Der Beschwerdeführer kam dieser Aufforderung mit Schriftsatz vom nach. Er brachte vor, dass er seit Jänner 2010 in Österreich und zwar mittlerweile in der Wohnung einer befreundeten Familie lebe. Er sei geachtetes Mitglied einer Kirchengemeinde und lerne auch kontinuierlich die deutsche Sprache. Seine übrigen Ausführungen bezogen sich auf die aktuelle Lage in Nigeria, überwiegend aber auf die aktuelle Situation in Simbabwe.
5. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht "[d]ie Beschwerde gegen den Spruchpunkt I. […] gemäß § 68 AVG idgF als unbegründet [ab]". "Betreffend Spruchpunkt II." wurde das Verfahren gemäß § 75 Abs 20 AsylG 2005 zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zurückverwiesen.
6. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die auf Art 144 B VG gestützte Beschwerde. Die im angefochtenen Erkenntnis zum Ausdruck kommende Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichtes, der zufolge keine Änderung der entscheidungsrelevanten Sach- und Rechtslage anzunehmen sei und somit (weiterhin) von einer res iudicata auszugehen sei, erweise sich als nicht zutreffend. Die Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichtes sei nicht schlüssig und der entscheidungsrelevante Sachverhalt sei nur unzureichend ermittelt worden. Aus diesen Gründen sei der Beschwerdeführer in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit von Fremden untereinander verletzt. Das Bundesverwaltungsgericht habe dem Beschwerdeführer in gesetzwidriger Weise eine Sachentscheidung verweigert und ihn dadurch in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt. Schließlich wird in der Beschwerde vorgebracht, dass der Beschwerdeführer in Österreich gesellschaftlich und sozial integriert sei, keine Bindungen zu seinem Heimatstaat mehr aufweise, aktuell dem Beschwerdeführer keine Verstöße gegen die öffentliche Ordnung vorzuwerfen seien und die Dauer des bisherigen Aufenthalts des Beschwerdeführers im Bundesgebiet durch "überlange Verzögerungen" begründet sei, die den Behörden zuzurechnen seien. Aus diesen Gründen hätte das Bundesverwaltungsgericht aussprechen müssen, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei. Durch die Zurückverweisung an das BFA nach § 75 Abs 20 AsylG 2005 sei der Beschwerdeführer daher in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.
7. Das Bundesverwaltungsgericht legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs 1 leg. cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
3. Ein solcher – in die Verfassungssphäre reichender – Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Zur rechtlichen Beurteilung der Abweisung der Beschwerde führt das Bundesverwaltungsgericht Folgendes wörtlich aus:
"Gemäß § 68 Abs 1 AVG sind Anbringen von Beteiligten, die außer den Fällen der §§69 und 71 die Abänderung eines der Berufung nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, dann, wenn die Behörde nicht den Anlass zu einer Verfügung gemäß den Abs 2 bis 4 findet, wegen entschiedener Sache zurückzuweisen.
Zunächst ist auszuführen, dass § 68 AVG eine verfahrensrechtliche bundesgesetzliche Bestimmung ist, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat, sodass gem. § 17 VwGVG diese Norm auch im gegenständlichen Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht sinngemäß anzuwenden ist.
'Prozessgegenstand' der Berufungsentscheidung ist die Verwaltungssache, die zunächst der Behörde erster Rechtsstufe vorlag. Hat die Unterbehörde nur prozessual entschieden, dann darf die Berufungsbehörde nicht in merito entscheiden (). Hat die Unterbehörde in ihrem Bescheid über den eigentlichen Gegenstand des Verfahrens gar nicht abgesprochen, sondern lediglich eine verfahrensrechtliche Entscheidung (hier: Zurückweisung eines Antrages wegen entschiedener Sache im Sinne des § 68 Abs 1 AVG) getroffen, dann ist es der Berufungsbehörde verwehrt, erstmals –unter Übergehen einer Instanz – den eigentlichen Verfahrensgegenstand einer meritorischen Erledigung zuzuführen. Vielmehr bildet in solchen Fällen nur die betreffende verfahrensrechtliche Frage (hier: Frage der Rechtmäßigkeit der auf § 68 Abs 1 AVG gestützten Zurückweisung des Antrages) die in Betracht kommende Sache des Berufungsverfahrens im Sinne des § 66 Abs 4 AVG." (Zitat ohne die Hervorhebungen im Original)
3.2. Infolge dieser Rechtsauffassung kam das Bundesverwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis zum Schluss, dass es lediglich für den Zeitpunkt der zurückweisenden Entscheidung des BAA zu prüfen habe, ob ein "neuer Sachverhalt" vorliege:
"Somit lag zum relevanten Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung folglich kein neuer Sachverhalt vor und begehrte der Beschwerdeführer die Auseinandersetzung mit seinen bereits im vorangegangenen, rechtskräftig beendeten Asylverfahren geltend gemachten bzw. vorhandenen Fluchtgründen. Durch den Grundsatz 'ne bis in idem' soll jedoch gerade eine solche nochmalige Auseinandersetzung mit einer bereits entschiedenen Sache, abgesehen von den Fällen der §§68 Abs 2 und 4, 69 und 71 AVG bzw. im Beschwerdeverfahren der §§32, 33 VwGVG nicht erfolgen.
Zu den Ausführungen zur aktuellen Lage in Nigeria im Schriftsatz vom ist nochmals zu betonen, dass Prozessgegenstand in gegenständlichem Beschwerdeverfahren die Rechtmäßigkeit der prozessualen Entscheidung des Bundesasylamtes ist, sodass die Frage, ob res iudicata vorliegt, nach dem Sachverhalt, der dem Bundesasylamt zum Zeitpunkt seiner Entscheidung (Februar 2011) vorgelegen hat, zu beurteilen ist. Allfällige nachfolgende Lageänderungen haben dabei unberücksichtigt zu bleiben."
3.3. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom , G5/2014, ausgesprochen hat, hat das Verwaltungsgericht in jenen Fällen, in denen der Sachentscheidung der Verwaltungsbehörde res iudicata entgegenstand oder sonstige Prozessvoraussetzungen fehlten, keine prozessuale, sondern eine meritorische und (grundsätzlich auch) reformatorische Entscheidung in Form eines Erkenntnisses zu treffen. § 28 VwGVG gebietet dem Verwaltungsgericht – bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art 130 Abs 4 B VG –, die Zurückweisung des verfahrenseinleitenden Antrages zum Inhalt seiner Sachentscheidung zu machen, wenn im verwaltungsgerichtlichen Verfahren hervorkommt, dass es schon bei Bescheiderlassung durch die belangte Behörde an einer Prozessvoraussetzung mangelte. § 17 VwGVG trifft Vorkehrungen für die von den Verwaltungsgerichten anzuwendenden Verfahrensregeln, ist aber nicht als Einschränkung der den Verwaltungsgerichten durch Art 130 Abs 4 B VG und § 28 VwGVG eingeräumten Befugnis und Pflicht zu verstehen, grundsätzlich eine reformatorische Entscheidung zu erlassen ().
3.4. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde die Beschwerde gegen einen den Antrag des Beschwerdeführers im Sinne des § 68 Abs 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückweisenden Bescheid als unbegründet abgewiesen.
Das angefochtene Erkenntnis ist so zu werten, als ob das Verwaltungsgericht ein mit dem erstinstanzlichen Bescheid übereinstimmendes neues Erkenntnis erlassen hätte (vgl. zB VfSlg 5970/1969, 6016/1969, 6486/1971, 8084/1977, 8098/1977, 13.258/1992 zur Rechtslage vor der Einführung der Verwaltungsgerichte). Gegenstand des angefochtenen Erkenntnisses ist somit die Zurückweisung eines Antrages wegen entschiedener Sache.
3.5. Formell rechtskräftige Bescheide können außer in den Fällen der §§69 und 71 AVG 1991 nur unter der Voraussetzung der Abs 2 bis 4 des § 68 leg. cit. aufgehoben, abgeändert oder für nichtig erklärt werden. Soweit diese Voraussetzungen nicht zutreffen, sind die Behörden und Verwaltungsgerichte an Bescheide, allenfalls auch ungeachtet der Gesetzwidrigkeit ihres Inhaltes, gebunden und ist ein dennoch gestellter Antrag wegen entschiedener Sache zurückzuweisen (vgl. VfSlg 10.240/1984, 19.269/2010; ). Die Wirkung der Rechtskraft eines Bescheides erstreckt sich jedoch nicht auf nach Erlassung des Bescheides geänderte Sachverhalte, es sei denn, dass sich das neue Parteibegehren von dem mit rechtskräftigem Bescheid abgewiesenen Begehren nur dadurch unterscheidet, dass es in für die rechtliche Beurteilung der Hauptsache unwesentlichen Nebenumständen modifiziert worden ist ( und die dort zitierte Vorjudikatur). Es können daher nur solche Änderungen des Sachverhaltes zu einer neuen Sachentscheidung führen, die für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen den Schluss zulassen, dass nunmehr bei Bedachtnahme auf die damals als maßgebend erachteten Erwägungen eine andere Beurteilung jener Umstände, die seinerzeit den Grund für die negative Sachentscheidung gebildet haben, nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten können (VwSlg. 7762 A/1970, s. auch VfSlg 12.514/1990, 19.269/2010).
3.6. Das Bundesverwaltungsgericht hätte daher zu prüfen gehabt, ob und inwieweit sich die Sach- und Rechtslage seit der Stellung des Folgeantrages am geändert hat. Im angefochtenen Erkenntnis hat es jedoch ausgesprochen, dass Prozessgegenstand die Rechtmäßigkeit der prozessualen Entscheidung des BAA sei, sodass die Frage, "ob res iudicata vorliege, nach dem Sachverhalt, der dem Bundesasylamt zum Zeitpunkt seiner Entscheidung (Februar 2011) vorgelegen habe, zu beurteilen [sei]". Allfällige "nachfolgende Lageänderungen" müssten dabei unberücksichtigt bleiben (s. die wörtliche Wiedergabe aus der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses, oben 3.2 ). Da das Bundesverwaltungsgericht somit jegliche Ermittlungstätigkeit in einem wesentlichen Punkt unterlassen hat, ist das angefochtene Erkenntnis mit Willkür belastet.
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.
2. Das angefochtene Erkenntnis ist aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.
European Case Law Identifier
ECLI:AT:VFGH:2015:E1286.2014