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OGH vom 07.06.2022, 15Os32/22b

OGH vom 07.06.2022, 15Os32/22b

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel-Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in Gegenwart der Mag. Marko, BA, BA, als Schriftführerin in der Strafsache gegen DI Dr. * M* und andere wegen des Verbrechens der terroristischen Vereinigung nach § 278b Abs 2 StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 22 HR 44/20x des Landesgerichts für Strafsachen Graz (AZ 16 St 52/19t der Staatsanwaltschaft Graz), über den Antrag der Gemeinnützigen Privatstiftung * auf Erneuerung des Verfahrens in Bezug auf den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Beschwerdegericht vom , AZ 8 Bs 303/21a ua, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Text

Gründe:

[1] Die Staatsanwaltschaft Graz führt zu AZ 16 St 52/19t gegen DI Dr. * M* und andere (darunter auch „Verantwortliche der Gemeinnützigen Privatstiftung *“) ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Verbrechens der terroristischen Vereinigung nach § 278b Abs 2 StGB und weiterer strafbarer Handlungen.

[2] In einem am eingebrachten Einspruch wegen Rechtsverletzung (§ 106 Abs 1 StPO) behauptete die Erneuerungswerberin im Zusammenhang mit Äußerungen des Generaldirektors für die Öffentliche Sicherheit anlässlich einer Pressekonferenz am eine Verletzung der Unschuldsvermutung durch die Medienarbeit der Staatsanwaltschaft Graz.

[3] Das Landesgericht für Strafsachen Graz wies diesen Einspruch mit Beschluss vom (ON 1362) zurück. Bei der kritisierten Pressekonferenz handle es sich weder um eine Ermittlungs- oder Zwangsmaßnahme im Sinne der StPO noch habe die Einspruchswerberin die Verletzung eines subjektiven Rechts konkret aufzeigen können.

[4] Der dagegen erhobenen Beschwerde der Gemeinnützigen Privatstiftung * gab das Oberlandesgericht Graz als Beschwerdegericht mit Beschluss vom , AZ 8 Bs 303/21a ua, mit der wesentlichen Begründung nicht Folge, die StPO räume den Verfahrensbeteiligten kein subjektives Recht auf eine bestimmte Pressearbeit der Staatsanwaltschaft ein.

Rechtliche Beurteilung

[5] Dagegen richtet sich der Antrag der Gemeinnützigen Privatstiftung * auf Erneuerung des Verfahrens (§ 363a StPO analog; vgl RIS-Justiz RS0122228), mit dem eine Verletzung des Art 6 Abs 1 und Abs 2 MRK sowie des Art 13 MRK geltend gemacht wird.

[6] Das Oberlandesgericht habe die Frage, ob § 35b StAG iVm §§ 19 Abs 3, 515 StPO subjektive Rechte nach der StPO normiere, welche mittels Einspruch wegen Rechtsverletzung geltend gemacht werden könnten, unrichtig gelöst. Damit würden der Erneuerungswerberin „angemessene Mitwirkungsrechte“ nach Art 6 Abs 1 MRK verwehrt. Die Unschuldsvermutung sei deshalb verletzt, weil das Oberlandesgericht die diesbezüglich geschehene Rechtsverletzung nicht festgestellt und damit prolongiert habe. Eine Verletzung des Art 13 MRK sei darin zu erblicken, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts dazu führe, dass gegen die von der Erneuerungswerberin geltend gemachte Grundrechtsverletzung kein effektives Rechtsmittel zur Verfügung stünde.

[7] Der Erneuerungsantrag erweist sich als offenbar unbegründet (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO).

[8] Gemäß Art 6 Abs 2 MRK gilt jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig. Diese Maxime gilt für Richter, Verwaltungsbehörden und Gesetzgeber, aber auch für Ermittlungsbeamte und Medien (EGMR , 44418/07, Poncelet/Belgien; Grabenwarter/Pabel, EMRK7 § 24 Rn 142 ff; Meyer-Ladewig/Nettesheim/Raumer, EMRK4 Art 6 Rz 84, 211 ff).

[9] Damit die in der Konvention gewährleisteten Rechte in den Mitgliedstaaten effektiv geschützt werden, hat jedermann, der eine Verletzung dieser Rechte durch einen dem Staat zurechenbaren Hoheitsakt der Exekutive, Judikative oder Legislative behauptet, das Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz (Art 13 MRK). Diese muss kein Gericht iSd Art 5 und Art 6 MRK sein, jedoch muss nach ihren Kompetenzen, ihrer Organisation und den von ihr einzuhaltenden Verfahrensgarantien sichergestellt sein, dass eine Beschwerde wirksam ist.

[10] Nach § 106 Abs 1 StPO steht Einspruch an das Gericht jeder Person zu, die behauptet, im Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft in einem subjektiven Recht verletzt zu sein, weil ihr die Ausübung eines Rechts nach diesem Gesetz verweigert (Z 1) oder eine Ermittlungs- oder Zwangsmaßnahme unter Verstoß gegen Bestimmungen dieses Gesetzes angeordnet oder durchgeführt wurde (Z 2).

[11] „Ermitteln“ (§ 91 Abs 2 StPO) als dem Zweck der Sachverhaltsklärung dienender Gegenstand des Ermittlungsverfahrens (Abs 1 leg cit) ist jede Tätigkeit (der Kriminalpolizei, der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts), die der Gewinnung, Sicherstellung, Auswertung oder Verarbeitung einer Information zur Aufklärung des Verdachts einer Straftat dient und als Erkundigung oder als Beweisaufnahme durchgeführt wird.

[12] Leitung im Ermittlungsverfahren (§ 101 Abs 1 erster Satz StPO) bedeutet Überordnung in der Führung und ist die Befugnis, also gleichermaßen Recht und Pflicht, Anordnungen und „einzelne Aufträge“ für die Entscheidung über die Stoffsammlung nach rechtlichen Kriterien zu erteilen. Die Staatsanwaltschaft kann den Gang der Ermittlungen aktiv beeinflussen, die Ermittlungstätigkeit der Kriminalpolizei durch Anordnungen in eine bestimmte Richtung lenken, der Kriminalpolizei Rechtsfragen beantworten bzw unrichtige Rechtsansichten aufzeigen; weiters ist sie dafür verantwortlich, dass Beschuldigte ihre prozessualen Rechte ausüben können und solcherart die Ermittlungsergebnisse vollständig und fehlerfrei sind (Fabrizy/Kirchbacher StPO14 § 101 Rz 1; Flora, WKStPO § 101 Rz 5 f, 8; Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 7.82; Artner in LiKStPO § 101 Rz 1; K. Tauschmann in Schmölzer/Mühlbacher StPO1 § 101 Rz 3, 20 f).

[13] Wo das Prozessrecht nicht Vorschriften des Organisations- oder Standesrechts konkrete Bedeutung „nach diesem Gesetz“ verleiht, indem es darauf verweist, sind die Rechtsbereiche auseinanderzuhalten. Organisations- und Standesrecht kommen somit nur dann ins Spiel, soweit die StPO ihnen Bedeutung für das Prozessrecht zubilligt, also darauf verweist. Wer als Staatsanwalt in der Führungs- und Leitungsverantwortung wirksame Handlungen setzen kann, ergibt sich aufgrund (dynamischer) Verweisung durch §§ 19 Abs 3 und 20 Abs 2 StPO aus §§ 3 Abs 1, Abs 3; 4 Abs 1 zweiter Satz, Abs 2 StAG.

[14] Die Information der Medien (vgl § 1 Abs 1 Z 1 MedienG) dient weder der „Aufklärung einer Straftat“ noch der „Verfolgung verdächtiger Personen“ noch stellt sie eine damit zusammenhängende „Entscheidung“ (iSd § 1 Abs 1 StPO) dar; demnach ist sie nicht des Ermittlungsverfahrens (und dessen Leitung – Ratz, Aktuelle Rechtsprobleme des Ermittlungsverfahrens, ÖJZ 2021, 772 ff [774]), mag sie damit auch im Zusammenhang stehen. Vielmehr soll Öffentlichkeitsarbeit die Arbeitsweise von Strafverfolgungsbehörden „transparent und nachvollziehbar“ machen, „das Verständnis der Öffentlichkeit für die Rechtspflege fördern und das Vertrauen der Bevölkerung in die Einrichtungen der Justiz und ihrer Entscheidungen stärken“ (EBRV 181 BlgNR 25. GP S 20 [zu § 35b StAG]; vgl auch Erlass des Bundesministeriums für Justiz vom über die Zusammenarbeit mit Medien, BMJPr50000/0021Kom/2016).

[15] Im Übrigen sind gemäß § 11 Abs 1 Z 24 Geo Medienangelegenheiten und sonstige Öffentlichkeitsarbeit , Medienstellen demnach – von §§ 106 f StPO nicht umfasste – Einrichtungen der Justizverwaltung und ressortieren (entgegen den Ausführungen des Erneuerungswerbers) in jenen Bereich der Gesetzesvollziehung, die ihrem Inhalt nach das Funktionieren der Gerichtsbarkeit sicherstellen soll (RIS-Justiz RS0109257; vgl Markel, WK-StPO Vor §§ 29–42 Rz 5).

[16] Dazu kommt, dass die Aufgabe eines Mediensprechers einer Staatsanwaltschaft allein in einer Informationserteilung iSd § 35b Abs 1 StAG (der sich nur auf die Information der Medien durch die Staatsanwaltschaften bezieht und Medienarbeit durch die Kriminalpolizei selbst nicht ausschließt) liegt und keine Leitungs- und Kontrollbefugnis gegenüber der kriminalpolizeilichen Medienarbeit beinhaltet.

[17] Soweit sich der Erneuerungswerber gegen eine von ihm geortete Verletzung der Unschuldsvermutung durch eine am erfolgte polizeiliche (der Exekutive zuzurechnende) Medieninformation wendet und in der Ablehnung einer darauf bezogenen, von ihm im Wege des § 106 Abs 1 StPO begehrten judiziellen Abhilfe eine Verletzung des Art 6 Abs 1, Abs 2 MRK und des Art 13 MRK erblickt, spricht er demnach von vornherein keine Ausübung von Befugnissen der Staatsanwaltschaft in Vollziehung der Strafprozessordnung als Leiterin des Ermittlungsverfahrens an. Nur gegen rechtsfehlerhafte Befugnisausübung dieser Art (§ 101 Abs 1 erster Satz StPO) aber steht Einspruch wegen Rechtsverletzung (arg „ Ermittlungsverfahren“) und damit Erneuerung des Verfahrens ohne Befassung des EGMR offen (RISJustiz RS0129012; Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 7.1062 f).

[18] Soweit der Antrag Spekulationen zu einem seiner Ansicht nach möglicherweise hergestellten Einvernehmen von „Vertretern der Exekutive“ mit der Staatsanwaltschaft vor der gegenständlichen Pressemitteilung anstellt, legt er eine Grundrechtsverletzung nicht deutlich und bestimmt dar (RISJustiz RS0122737 [T17]).

[19] Das Oberlandesgericht hat somit zu Recht von einer inhaltlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der vom Einspruchswerber behaupteten Vorgänge abgesehen (vgl zu allem 11 Os 109/21w, EvBl 2022/56, 443).

[20] Der Antrag auf Erneuerung war daher bereits bei nichtöffentlicher Beratung zurückzuweisen.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2022:0150OS00032.22B.0607.000

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