OGH vom 30.09.2020, 15Os28/20m

OGH vom 30.09.2020, 15Os28/20m

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. MichelKwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in Gegenwart der Dr. Ondreasova als Schriftführerin in der Strafsache gegen M***** S***** und andere Angeklagte wegen des Verbrechens der schweren gemeinschaftlichen Gewalt nach § 274 Abs 1 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Schöffengericht vom , GZ 36 Hv 51/19f106, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurden nachgenannte Angeklagte gemäß § 259 Z 3 StPO vom wider sie erhobenen Vorwurf freigesprochen, sie hätten am in I***** im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit weiteren, zumindest sieben nicht identifizierten Mittätern, und zwar M***** S*****, P***** K*****, A***** L*****, F***** G*****, S***** Gu*****, M***** St*****, H***** P*****, E***** M*****, R***** Pü***** und A***** F***** jeweils als Anhänger des FC W***** I*****, und G***** Ki*****, F***** E*****, R***** Fi*****, D***** H*****, A***** He*****, H***** Kr*****, E***** Me*****, R***** Sc*****, D***** Sch*****, A***** Z*****, M***** W*****, S***** Sw*****und G***** L***** jeweils als Anhänger des FK A***** W*****, wissentlich an einer Zusammenkunft vieler Menschen („zumindest 50 Personen“), die darauf abzielte, dass durch ihre vereinten Kräfte schwere Körperverletzungen (§ 84 StGB) begangen werden, teilgenommen, wobei es tatsächlich zu solchen Gewalttaten, nämlich zu versuchten schweren Körperverletzungen nach § 15, 84 Abs 4 StGB gekommen ist, indem sie sich im Vorfeld zu einem Fußball-Bundesligaspiel des FC W***** I***** und des FK A***** W***** über den Aufenthalt der jeweils anderen Anhängerschaft informierten, wobei sich die Angeklagten M***** S*****, P***** K*****, A***** L*****, F***** G*****, S***** Gu*****, M***** St*****, H***** P*****, E***** M*****, R***** Pü***** und A***** F***** als Anhänger des FC W***** I***** vereinbarungsgemäß in einem Lokal trafen, sich gemeinsam in einer Gruppe mit weiteren, nicht identifizierten Personen in die Innenstadt begaben, weil sie wussten, dass es dort zu einem Aufeinandertreffen mit den Anhängern des FK A***** W***** kommen werde, sich teilweise mit Sturmmasken und Kapuzen vermummt dem Lokal „T*****“ näherten, in welchem die Angeklagten F***** E*****, R***** Fi*****, D***** H*****, A***** H*****, H***** Kr*****, E***** M*****, R***** Sc*****, D***** Sch*****, A***** Z*****, M***** W*****, S***** Sw*****, G***** Ki*****, G***** L***** und weitere, unbekannte Anhänger des FK A***** W***** verabredungsgemäß und in Erwartung des Eintreffens der weiteren Angeklagten aufhielten, sich dort ebenfalls maskierten, Handschuhe überzogen und Kampfstellungen einnahmen, wobei es in weiterer Folge zwischen den insgesamt zumindest 50 Personen vereinbarungsgemäß zu gegenseitigen Faustschlägen und Fußtritten auch gegen bereits am Boden liegende Personen kam, gläserne Aschenbecher, Metalleimer, Blumentröge, Tische und hölzerne Stühle, Gläser und Getränkedosen wuchtig und auch in Kopfhöhe und aus kurzer Distanz aufeinander geworfen wurden und mit einem Regenschirm auf einen Kontrahenten eingeschlagen wurde.

Das Erstgericht ging im Wesentlichen davon aus (US 5 ff), dass am in I***** Anhänger des FC W***** I***** und Anhänger des FK A***** W***** vor dem Lokal „T*****“ aufeinander trafen. Es hatten sich jeweils 15 bis höchstens 20 Anhänger des I***** und des W***** Fußballvereins zusammengeschlossen, um mit den Fans des jeweils gegnerischen Vereins zu raufen. Die beiden Gruppen wollten ihre Kräfte nicht vereinen, um Außenstehende zu attackieren oder um Sachbeschädigungen zu begehen, es ging ausschließlich darum, ihre Kräfte in einer wechselseitigen Schlägerei zu messen. Nach der Überzeugung des Gerichts kam es zu einer Schlägerei mit „tumultuösen“ Szenen, bei welchen die Fangruppen aufeinander zustürmten, sich schlugen, traten und mit Gegenständen warfen. Adressaten der Tätlichkeiten waren nur die gegnerischen Fans, keine Außenstehenden (US 8).

Eine Feststellung des Inhalts, dass einer der Angeklagten bei dieser Schlägerei jemand anderen vorsätzlich oder fahrlässig am Körper verletzte oder jemanden angriff (oder dazu beitrug) und es dabei auch nur ernstlich für möglich hielt und sich damit abfand, den Gegner am Körper zu verletzen, wurde vom Erstgericht abgelehnt (US 6, 9 und 13). Ebensowenig sah es sich zur Feststellung in der Lage, dass ein Teilnehmer der Schlägerei durch diese schwer verletzt wurde oder durch die gegnerische Einwirkung eine länger als 24 Tage andauernde Gesundheitsschädigung oder Berufsunfähigkeit davontrug (US 7 ff). Dass F***** G***** seine (leichte) Verletzung und M***** St***** seine (schwere) Verletzung – wie von ihnen behauptet (ON 20 S 3; ON 93 S 11) – nicht durch einen Gegner bei der Schlägerei erlitten hatten, erachtete es als nicht widerlegbar (US 8, 9 und 13). Die (leichte) Verletzung des P***** K***** konnte es keinem der Angeklagten als Verursacher zuordnen (US 8, 9, 13). Eine Konstatierung des Inhalts, dass einer der Angeklagten (allein oder im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit jemand anderem) bei dieser Schlägerei eine fremde Sache beschädigt hatte, vermochte es gleichfalls nicht zu treffen (US 7 und 13).

Ausgehend davon, dass eine „Zusammenkunft vieler Menschen“ bei einem Zusammenschluss von 15 Personen nicht vorliege, und „die Fans“ die Kräfte der beiden Gruppen nicht vereinen wollten, um durch die vereinten Kräfte schwere Körperverletzungen gegen Außenstehende oder schwere Sachbeschädigung zu begehen, erachteten die Tatrichter Konstatierungen darüber als entbehrlich, welcher der Angeklagten konkret an der Schlägerei teilnahm (US 12).

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 5 und 9 lit a StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft, die – soweit deutlich und bestimmt dargestellt – einen Schuldspruch sämtlicher Angeklagter nach § 274 Abs 1 StGB oder zumindest einen solchen der Angeklagten M***** S*****, G***** Ki***** und M***** W***** jeweils wegen § 15, 83 Abs 1 StGB anstrebt. Sie verfehlt ihr Ziel:

Die Mängelrüge (Z 5) behauptet eine Unvollständigkeit der Beweiswürdigung (Z 5 zweiter Fall) zur Urteilsaussage, wonach nicht feststeht, dass einer der Angeklagten bei der Schlägerei jemanden am Körper verletzte oder jemanden angriff (oder dazu beitrug) und es dabei auch nur ernstlich für möglich hielt und sich damit abfand, den Gegner am Körper zu verletzen (US 6, 9 und 13).

Die Bekundung des Angeklagten M***** S*****, wonach er „einen Stuhl geworfen“ habe, weil zuvor „jemand den Stuhl“ auf ihn „geworfen“ habe, er habe mit dem Stuhl „auch jemanden getroffen“ (ON 93 S 8), stand den Negativfeststellungen zum Verletzungsvorsatz (auch dieses Angeklagten) nicht in erörterungsbedürftiger Weise entgegen (RIS-Justiz RS0098646 [T8]).

Mit der eigenständigen Bewertung von Sequenzen des in der Hauptverhandlung mehrfach vorgeführten (ON 105 S 12) und im Urteil angesichts tumultöser Szenen und minderer Qualität erkennbar (US 7–12) als nur bedingt aussagekräftig eingestuften Videomaterials wird kein aus § 281 Abs 1 Z 5 zweiter Fall StPO beachtliches Urteilsdefizit aufgezeigt. Vielmehr wird bloß der von den Tatrichtern dem Bildmaterial zuerkannte Beweiswert (US 9) in Bezug auf
– von der Anklagebehörde den Angeklagten S*****, Ki***** und W***** zugeordnete und als gezielte und wuchtige Angriffe gegen andere Teilnehmer beurteilte – Tätlichkeiten mit dem Ziel kritisiert, daraus andere, für den Anklagestandpunkt günstigere Rückschlüsse plausibel zu machen (RIS-Justiz RS0099455, RS0099438). Zu einer ausdrücklichen Auseinandersetzung mit sämtlichen Details einzelner Videosequenzen war das Schöffengericht mit Blick auf das Gebot zu gedrängter Darstellung der Entscheidungsgründe (§ 270 Abs 2 Z 5 StPO) nicht verhalten (RIS-Justiz RS0106642).

Es ist auch kein Widerspruch (Z 5 dritter Fall) darin zu erblicken, dass das Erstgericht einerseits von „tumultuösen“ Szenen ausging, bei welchen die Fangruppen aufeinander zustürmten, (zu)schlugen, traten und mit Gegenständen warfen (US 8), und andererseits eine Feststellung des Inhalts ablehnte, dass (gerade) einer der hier Angeklagten bei dieser Schlägerei jemanden am Körper verletzte, jemanden angriff (oder dazu beitrug) und es dabei auch nur ernstlich für möglich hielt und sich damit abfand, einen Gegner am Körper zu verletzen (US 6, 9 und 13).

Bei der Bekämpfung eines Freispruchs aus § 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO bringt es das Gebot deutlicher und bestimmter Bezeichnung der nichtigkeitsbegründenden Tatumstände (§ 285a Z 2 StPO) mit sich, dass Feststellungen und strafbare Handlungen, denen jene (bei richtiger Rechtsanwendung) zu subsumieren seien, deutlich und bestimmt genannt werden müssen (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 585). Hinsichtlich jener Tatbestandsmerkmale, zu denen das Urteil keine Konstatierungen enthält, sind unter Berufung auf derartige Feststellungen indizierende und in der Hauptverhandlung vorgekommene Verfahrensergebnisse Feststellungsmängel (§ 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO) geltend zu machen; gegen missliebige Feststellungen (einschließlich sog Negativfeststellungen; vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 593) können hingegen nur Begründungsmngel (§ 281 Abs 1 Z 5 StPO) eingewendet werden (RIS-Justiz RS0118580 [T24]).

Die Rechtsrüge (Z 9 lit a) hält der Rechtsauffassung des Schöffengerichts (US 12), wonach bei gegeneinander tätlich auftretenden Gruppen von je 15 Personen keine vereinten Kräfte einer Zusammenkunft vieler Menschen anzunehmen sind (vgl dazu Plöchl in WK2 StGB § 274 Rz 4 f) rechtspolitische Erwägungen zum Gefahrenpotential der von Gruppen ausgehenden Gewalt entgegen. Sie vernachlässigt allerdings die im Urteil ausdrücklich getroffenen (aus Z 5 unbeanstandet gebliebenen) Feststellungen, wonach die beiden Gruppen von je 15 bis höchstens 20 Anhängerngegeneinander raufen und ihre Kräfte nicht vereinen wollten (US 6 und 12), mit anderen Worten ein also jeweils gegen die gegnerische Gruppe gegeben sein sollte, in beiden Gruppen der aber wurde.

Weshalb trotz dieser Konstatierungen der Tatbestand von schwerer Gewalt iSd § 274 Abs 1 StGB erfüllt sein soll, erklärt die bloß auf das Fehlen einer Absicht zur Gewaltanwendung gegen Außenstehende rekurrierende Beschwerde nicht.

Das weitere Vorbringen vernachlässigt die (aus Z 5 nicht erfolgreich bekämpfte) Konstatierung, wonach nicht feststeht, dass einer der Angeklagten bei der Schlägerei jemanden angriff (oder dazu beitrug) und dabei auch nur ernstlich für möglich hielt, den Gegner am Körper zu verletzen, und sich damit abfand (US 6, 9 und 13).

Indem die Beschwerde unter eigenständiger Würdigung von Verfahrensergebnissen bloß andere, für eine Verurteilung von allen Angeklagten (nach § 274 Abs 1 StGB) oder zumindest der Angeklagten S*****, Ki***** und W***** (nach § 15, 83 Abs 1 StGB) günstigere Schlüsse als die vom Erstgericht gezogenen einfordert, orientiert sie sich nicht am Urteilssachverhalt (RIS-Justiz RS0099810), sondern argumentiert bloß nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehenen Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld.

Auf das Feststellungsmängel behauptende Vorbringen war mit Blick auf die erwähnten, einem Schuldspruch nach § 274 Abs 1 oder § 15, 83 Abs 1 StGB entgegenstehenden und nicht erfolgreich bekämpften Feststellungen nicht weiter einzugehen.

Die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft war daher bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO).

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2020:0150OS00028.20M.0930.000

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