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OGH vom 13.09.2018, 10ObS96/18t

OGH vom 13.09.2018, 10ObS96/18t

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr.

Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Rolf Gleißner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Jan R*****, Slowakei, vertreten durch Dr. Karl-Heinz Götz und Dr. Rudolf Tobler jun, Rechtsanwälte in Neusiedl am See, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Integritätsabgeltung, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 10 Rs 46/18k-67, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Der Kläger wurde bei einem Arbeitsunfall am schwer verletzt.

Das Erstgericht verpflichtete die beklagte Allgemeine Unfallversicherungsanstalt zur Zahlung einer Integritätsabgeltung auf Basis eines Integritätsschadens von (unstrittig) 100 %.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Es sprach aus, dass das Klagebegehren, die Beklagte sei schuldig, dem Kläger eine Integritätsabgeltung von 118.440 EUR samt 4 % Zinsen seit aufgrund des Arbeitsunfalls vom zu zahlen, dem Grunde nach im Ausmaß von 100 vH der am geltenden doppelten Höchstbemessungsgrundlage gemäß § 178 Abs 2 ASVG (unter Berücksichtigung der Anpassung gemäß § 213a Abs 3 ASVG) zu Recht bestehe, und verpflichtete die Beklagte zu einer vorläufigen Zahlung von 118.440 EUR.

Rechtliche Beurteilung

Die Beklagte zeigt in ihrer außerordentlichen Revision keine erhebliche Rechtsfrage auf.

1. Der Anspruch auf Integritätsabgeltung (§ 213a ASVG) setzt voraus, dass der Arbeitsunfall durch eine grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht wurde. Die grobe Fahrlässigkeit muss im Hinblick auf die Verletzung von Arbeitnehmerschutzvorschriften, nicht jedoch hinsichtlich der Herbeiführung des Unfalls gegeben sein. Es ist daher lediglich zu prüfen, ob die Verletzung bestimmter Arbeitnehmerschutzvorschriften im Einzelfall grob fahrlässig erfolgte (RISJustiz RS0106718; 10 ObS 104/14p, SSVNF 28/68).

2. Grobe Fahrlässigkeit iSd §§ 213a und 334 Abs 1 ASVG ist dem Begriff der auffallenden Sorglosigkeit iSd § 1324 ABGB gleichzusetzen (RISJustiz RS0030510). Diese ist anzunehmen, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht – also konkret zu einer Pflicht von Unfallverhütung durch den für die Einhaltung der Arbeitnehmerschutzvorschriften verantwortlichen Arbeitgeber (diesem Gleichgestellten) – vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich vorhersehbar war (10 ObS 104/04p, SSVNF 28/68 mwN; RISJustiz RS0030644). Für ein grobes Verschulden sprechen beispielsweise eine besondere Gefahrensituation aufgrund schwieriger Bedingungen (2 Ob 73/17z mwN) sowie die unterlassene Reaktion des Arbeitgebers, der vom Arbeitnehmer auf die bestehende Gefahrensituation aufmerksam gemacht worden war (10 ObS 104/14p, SSVNF 28/68 mwN).

3. Die Annahme eines groben Verschuldens begründet angesichts der Unfallsituation keine vom Obersten Gerichtshof zu korrigierende Fehlbeurteilung. Der Kläger stand in ca 4,5 m Höhe ungesichert auf einer Leiter, die an einen mit Hilfe eines Krans anzuhebenden ca 2.000 kg schweren Schalungstisch angelehnt war. Er sollte die Anschlagmittel (Ketten) des Krans anhängen. Der Kranführer, der den Schalungstisch nicht sehen konnte, senkte das Tragmittel mit den vier Ketten zunächst zu tief ab und zog es dann wieder hoch. Das Tragmittel verhakte sich beim Schalungstisch, der dadurch einseitig angehoben wurde. Der Kläger verlor das Gleichgewicht und stürzte von der Leiter. Vier oder fünf Wochen zuvor wäre es bei einer vergleichbaren Situation beinahe zu einem Unfall des Klägers gekommen. Der Kläger konnte einen Sturz dadurch vermeiden, dass er Richtung Krankette sprang und sich dort anhielt. Als er sich beim Polier über die Herbeiführung dieser Gefahr beschwerte, unternahm dieser nichts, um die Gefahrensituation zu evaluieren, sondern meinte zum Kläger, dieser solle das nächste Mal besser aufpassen. Der Kläger und die weiteren auf der Baustelle tätigen Arbeiter erhielten keine Anweisungen über Zeichen für die Einweisung von Kränen. Es wurde nie erörtert, ob der Anschläger (Kläger) selbst den Kranführer einweisen soll und wer diese Funktion bei fehlendem Sichtkontakt zwischen Anschläger und Kranführer übernehmen sollte. Mangels koordinierender Anordnungen durch den Polier sah sich am Unfalltag von den Arbeitskollegen des Klägers niemand als Einweiser zuständig, obwohl zwei Kollegen sowohl zum Kranführer als auch zum Kläger Sichtkontakt hatten. So übernahm der Kläger selbst als Anschläger durch Rufe und Handzeichen die Funktion des Einweisers, obwohl er keinen Sichtkontakt zum Kranführer hatte, wenn er nicht auf der Leiter stand. Die unklare Einweisungssituation führte dazu, dass der Kranführer das Tragmittel zu früh hochzog.

4. Entgegen der Meinung der Revisionswerberin ist der Unfall somit nicht lediglich auf eine kurzfristige Fehlleistung des ausgebildeten Kranführers zurückzuführen. Entscheidend waren fehlende Instruktionen zum Einweisungsvorgang in einer gefährlichen Situation, die durch das ungesicherte Arbeiten in ca 4,5 m Höhe und die eingeschränkte Sicht des Kranführers auf Transportgut und Einweiser begründet wurde. § 19 Abs 2 der Arbeitsmittelverordnung (AMVO), BGBl II 2000/164, verpflichtete den Arbeitgeber des Klägers, den Einsatz des Krans ordnungsgemäß zu planen und so zu überwachen und durchzuführen, dass die Sicherheit der Arbeitnehmer gewährleistet war, und für die Einhaltung der in § 19 Abs 1 AMVO vorgeschriebenen und hier vorhandenen Betriebsanweisung zu sorgen. Auf die grob fahrlässige Verletzung dieser Arbeitnehmerschutzvorschrift durch den dem Arbeitgeber gleichgestellten (§ 333 Abs 4 ASVG) Polier gründet sich die Beurteilung des Berufungsgerichts.

5. Nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs in Sozialrechtssachen stehen für Leistungen nach den Sozialversicherungsgesetzen keine Verzugszinsen zu (RIS-Justiz RS0031997; RS0031982; 10 ObS 357/02a). Das Urteil des Berufungsgerichts widerspricht diesem Grundsatz nicht, wie die Revisionswerberin meint. In seinem Grundurteil (§ 89 ASGG) hat das Berufungsgericht weder Zinsen zugesprochen noch deren Berechtigung bejaht, sondern im Einklang mit der Rechtsprechung (RIS-Justiz RS0115845 [T1]; RS0109917 [T2]) den Hundertsatz der in Betracht kommenden Bemessungsgrundlage (unter Berücksichtigung der Anpassung gemäß § 213a Abs 3 ASVG) festgesetzt und der Beklagten eine – der Höhe nach nicht bestrittene – vorläufige Zahlung aufgetragen.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2018:010OBS00096.18T.0913.000

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