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OGH vom 13.07.2017, 12Os6/17z

OGH vom 13.07.2017, 12Os6/17z

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé, Dr. Oshidari, Dr. MichelKwapinski und Dr. Brenner in Gegenwart des Richteramtsanwärters Limberger, LL.M., als Schriftführer in der Strafsache gegen Goran U***** wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom , GZ 24 Hv 48/16a69, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld werden zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Goran U*****von der wider ihn erhobenen Anklage, er habe im Zeitraum 2013 bis Mitte April 2016 in W***** in mehrfachen Angriffen mit seiner am geborenen, somit unmündigen Stieftochter Lisa H*****

I./ den Beischlaf und dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen unternommen, indem er ihr in wiederholten Angriffen einen Finger in die Scheide einführte, mit seinem erigierten Penis an ihre Scheide ansetzte und einzudringen versuchte sowie in zumindest einem Angriff mit seinem Penis in den Anus des Opfers einzudringen versuchte, wodurch das Opfer am Anus verletzt wurde;

II./ außer dem Fall des § 206 StGB geschlechtliche Handlungen dadurch vorgenommen bzw an sich vornehmen lassen, indem er

1./ in wiederholten Angriffen die Scheide des Opfers betastete, wobei er sich während dieser Handlungen teilweise selbst befriedigte;

2./ in wiederholten Angriffen die Hand des Opfers zu seinem Penis führte und es sodann veranlasste, dass dieses Handverkehr an ihm durchführte;

III./ durch die unter Punkt I./ und II./ angeführten Straftaten geschlechtliche Handlungen mit bzw von seiner Stieftochter Lisa H***** vorgenommen bzw von dieser an sich vornehmen lassen, um sich geschlechtlich zu erregen und zu befriedigen;

gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.

Rechtliche Beurteilung

Gegen den Freispruch erhebt die Staatsanwaltschaft eine auf § 281 Abs 1 Z 5 und Z 9 lit a StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde und eine Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld (ON 72).

Der Erledigung der Mängelrüge (Z 5) sind zunächst folgende wesentliche Grundsätze

voranzustellen:

Eine Überprüfung der tatrichterlichen Beweiswürdigung, wie sie nur die im einzelrichterlichen Verfahren vorgesehene Berufung wegen Schuld ermöglicht, ist im Verfahren vor den Kollegialgerichten nicht vorgesehen (§ 283 Abs 1 StPO). Das Gericht ist gemäß § 270 Abs 2 Z 5 StPO verpflichtet, die schriftliche Urteilsbegründung in gedrängter Darstellung abzufassen und darin mit Bestimmtheit anzugeben, welche

entscheidenden Tatsachen als erwiesen oder als nicht erwiesen angenommen wurden und aus welchen Gründen dies geschah, ohne dagegen sprechende wesentliche Umstände mit Stillschweigen zu übergehen. Es ist weder gehalten, den vollständigen Inhalt sämtlicher Aussagen und Verfahrensergebnisse in extenso zu erörtern und darauf zu untersuchen, inwieweit sie für oder gegen diese oder jene Geschehensvariante sprechen, noch muss es sich mit den Beweisresultaten in Richtung aller denkbaren Schlussfolgerungen und mit jedem gegen seine Beweiswürdigung möglichen, im Rahmen der Nichtigkeitsbeschwerde dann konkret erhobenen Einwand im Voraus auseinandersetzen (RIS-Justiz RS0106295, RS0098377 [insbes T 7, T 16]; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 428). Es hat die Beweismittel nicht nur einzeln, sondern (vor allem) in ihrem inneren Zusammenhang sorgfältig zu prüfen und nicht nach starren Beweisregeln, sondern nach seiner freien, aus der gewissenhaften Prüfung aller für und wider vorgebrachten Beweismittel gewonnenen Überzeugung zu entscheiden (§ 258 Abs 2 StPO; vgl RIS-Justiz RS0106642 [T2]). Dass aus den formell einwandfreien Prämissen auch für den Angeklagten aus Sicht der Rechtsmittelwerberin

ungünstigere Schlussfolgerungen möglich wären, die Erkenntnisrichter sich aber dennoch (mit logisch und empirisch einwandfreier Begründung) für eine für den Angeklagten günstigere Variante entschieden haben, ist als Akt freier Beweiswürdigung mit Mängelrüge nicht bekämpfbar (RIS-Justiz RS0098400, RS0098362).

Bezugspunkt der Mängelrüge (Z 5) ist ausschließlich der Ausspruch des Schöffengerichts über

entscheidende Tatsachen, also – soweit hier von Interesse – über schuld- oder subsumtionsrelevante Tatumstände (RIS-Justiz RS0106268). Die

entscheidenden Tatsachen sind von den

erheblichen Tatsachen zu unterscheiden; damit sind Verfahrensergebnisse gemeint, welche die Eignung haben, die dem Gericht durch die Gesamtheit der übrigen Beweisergebnisse vermittelte Einschätzung vom Vorliegen oder Nichtvorliegen einer

entscheidenden Tatsache maßgebend zu beeinflussen. Mit ihnen muss sich die Beweiswürdigung bei sonstiger Unvollständigkeit (Z 5 zweiter Fall) auseinandersetzen.

Bereits der eingangs der Mängelrüge erhobene pauschale Vorwurf einer Würdigung der Beweismittel „zu Lasten des Opfers“ und des Sachverständigengutachtens „zu Gunsten des Angeklagten“ zeigt deren, eine die Beweiswürdigung nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren unzulässigen Schuldberufung bekämpfende Zielrichtung.

Dem Einwand der Unvollständigkeit (Z 5 zweiter Fall) zuwider hat sich das Erstgericht mit der von Lisa H***** beschriebenen, im Analbereich gelegenen Verletzung und mit den Ergebnissen des gynäkologischen Sachverständigengutachtens (ON 43, ON 68 S 4 ff) auseinandergesetzt, ohne dazu verhalten gewesen zu sein, sämtliche Details der Expertise wiederzugeben (US 13 f).

Mit der Behauptung, die Tatrichter hätten eine Aussagediskrepanz zwischen dem Angeklagten und der Zeugin Magdalena H***** zur Existenz eines Trainingsgeräts des Angeklagten im Schlafzimmer „zu Ungunsten des Opfers“ gewürdigt (US 12), wird keine Unvollständigkeit in der Bedeutung des geltend gemachten Nichtigkeitsgrundes dargetan, sondern in unzulässiger Weise die Beweiswürdigung bekämpft. Dass Goran U*****das Vorhandensein dieses Geräts leugnete, haben die Tatrichter der Rüge zuwider sehr wohl berücksichtigt (US 16). Weshalb es eine zumindest erhebliche und nur solcherart erörterungspflichtige Tatsache betreffen sollte, dass er die von Barbara H***** bekundete Verwendung des Wortes „Tittis“ durch Lisa H***** (ON 68 S 91 iVm US 15) in Abrede stellte, sagt die Beschwerde nicht.

Auch soweit die Nichtigkeitswerberin aus den divergierenden Angaben zur Existenz von Fruchtbarkeitsstreifen im Wege eigenständiger Beweiswerterwägungen andere Schlüsse zieht als das Erstgericht (US 13), überschreitet sie den gesetzlichen Anfechtungsrahmen des geltend gemachten formellen Nichtigkeitsgrundes.

Entgegen der Rüge befasste sich das Schöffengericht auch mit den Depositionen der Lehrerinnen zu einer allfälligen Lügenhaftigkeit von Lisa H***** (US 12 zweiter Absatz).

Der Rüge zuwider haben die Tatricher sowohl die von der Lehrerin Jutta Un***** aufgrund des Verhaltens des Tatopfers und des von ihm gewonnenen persönlichen Eindrucks erstattete Gefährdungsmeldung an den Jugendwohlfahrtsträger (ON 4 S 9 f iVm US 6) als auch die Angaben der Genannten (ON 68 S 16 ff) bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Kindesmutter Magdalena H***** (vgl RIS-Justiz RS0119422) berücksichtigt (US 10).

Der geltend gemachten Widersprüchlichkeit (Z 5 dritter Fall) zuwider kann die Urteilsannahme, die Zeugin Lisa H***** hätte lieber bei ihrem leiblichen Vater leben wollen (US 4 letzter Absatz), frei von Verstößen gegen die Denkgesetze neben der weiteren Konstatierung bestehen, die Zeugin habe am vor dem Bezirksgericht Hernals angegeben, sich – in der Obsorgefrage – nicht entscheiden zu können und niemanden kränken zu wollen (US 4).

Die Angaben der Zeugin Barbara H*****, ihr Enkelkind Lisa H***** habe im Kindesalter Puppen „Bauch an Bauch“ aufeinandergelegt (ON 68 S 92), musste als weder entscheidungswesentlich noch erheblich nicht eigens erörtert werden.

Die Rechtsrüge (Z 9 lit a) moniert fehlende Feststellungen dazu, dass Lisa H***** im Alter von acht Jahren beim Spielen mit Puppen Geschlechtsverkehr nachstellte, zu den ohnedies gewürdigten Ergebnissen der gynäkologischen Untersuchung, und dazu, dass sich im gemeinsamen Haushalt Feuchttücher und Fruchtbarkeitsstreifen befanden sowie in der ersten Wohnung im Schlafzimmer ein Trainingsgerät aufgestellt war, erklärt aber nicht, weshalb diese Umstände nicht nur – soweit erheblich – zu erörtern, sondern auch als entscheidende Tatsachen ausdrücklich zu konstatieren gewesen wären.

Die gesetzmäßige Geltendmachung eines Feststellungsmangels setzt voraus, dass unter Hinweis auf einen nicht durch Feststellungen geklärten, aber indizierten Sachverhalt eine vom Erstgericht nicht gezogene rechtliche Konsequenz angestrebt wird, weil dieses – fallaktuell – ein Tatbestandsmerkmal bei der rechtlichen Beurteilung nicht in Anschlag gebracht hat (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 600). Vorliegend wurde aber der in Rede stehende Sachverhalt durch (Negativ-)Feststellungen zu den dem Angeklagten vorgeworfenen Tathandlungen (US 6) hinreichend geklärt.

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher – ebenso wie die im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehene (§§ 294 Abs 4, 296 Abs 2 StPO) Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld – bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO).

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2017:0120OS00006.17Z.0713.000
Schlagworte:
Strafrecht

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