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OGH vom 01.10.2015, 10ObS95/15s

OGH vom 01.10.2015, 10ObS95/15s

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, den Hofrat Univ. Prof. Dr. Neumayr und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Zeitler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Schönhofer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J*****, vertreten durch Dr. Peter Wagner, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist Straße 1, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 8 Rs 32/15g 46, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Der 1931 geborene Kläger ist auf beiden Augen blind. Zugleich ist er hörbehindert. Bei Verwendung des bereits vorhandenen Knochenleitungshörers („Hörbrille“) kann er aber Umgangssprache verstehen, sofern es im Raum ruhig ist und sein Gesprächspartner nicht weiter als einen Meter entfernt ist. Die Anschaffungskosten des Knochenleitungshörers wurden von der Krankenkasse bezahlt. Ohne Verwendung des Knochenleitungshörers ist der Kläger gänzlich taub und hört und versteht nichts.

Das Erstgericht erkannte dem Kläger im Hinblick auf seine Blindheit aufgrund diagnosebezogener Einstufung das Pflegegeld der Stufe 4 (§ 4a Abs 5 BPGG) zu und wies das darüber hinausgehende Klagebegehren ab. Rechtlich ging es davon aus, die Zuerkennung des Pflegegelds der Stufe 5 würde einen monatlichen Pflegebedarf von mehr als 180 Stunden und zusätzlich einen außergewöhnlichen Pflegebedarf voraussetzen (§ 4 Abs 2 BPGG) oder Taubblindheit (§ 4a Abs 6 BPGG). Als taubblind gelten Blinde, deren Hörvermögen so hochgradig eingeschränkt ist, dass eine verbale und akustische Kommunikation mit der Umwelt nicht möglich ist (§ 4a Abs 6 BPGG). Das Beweisverfahren habe beim Kläger einen Pflegebedarf von nicht mehr als 180 Stunden ergeben. Auch die Voraussetzungen der Taubblindheit iSd § 4a Abs 6 BPGG lägen beim Kläger nicht vor, weil ihm bei Verwendung eines Hilfsmittels, nämlich des bereits vorhandenen Knochenleitungshörers, eine verbale und akustische Kommunikation möglich sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision des Klägers ist mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

1. Im Sozialversicherungsrecht besteht der allgemeine Grundsatz, dass ein Versicherter die Interessen des Sozialversicherungsträgers und damit auch die der anderen Versicherten in zumutbarer Weise zu wahren hat.

2. Eine besondere Form der Mitwirkungspflicht betrifft die Frage, inwieweit der Betroffene durch die Verwendung von Hilfsmitteln iSd § 3 EinstV dazu beitragen muss, einen Pflegebedarf zu vermeiden oder zu verringern ( Greifeneder/Liebhart , Pflegegeld 3 Rz 592).

3.1 Nach § 3 Abs 1 EinstV zum BPGG ist ein Pflegebedarf insoweit nicht anzunehmen, als die notwendigen Verrichtungen vom Betroffenen durch die Verwendung einfacher Hilfsmittel selbständig vorgenommen werden können oder könnten und ihm der Gebrauch dieser Hilfsmittel mit Rücksicht auf seinen physischen und psychischen Zustand zumutbar ist.

3.2 Die Verwendung anderer Hilfsmittel ist zu berücksichtigen, wenn diese vorhanden sind oder deren Eignung zur Gänze oder zumindest überwiegend durch den Entscheidungsträger oder einen öffentlichen Kostenträger sichergestellt ist (§ 3 Abs 2 EinstV). Auch die Berücksichtigung anderer Hilfsmittel setzt aber voraus, dass deren Gebrauch im Hinblick auf den physischen und psychischen Zustand dem Pflegebedürftigen zumutbar ist ( Greifeneder/Liebhart , Pflegegeld 3 Rz 599).

4. Der Revisionswerber wendet sich vor allem gegen die Zumutbarkeit der Verwendung des Knochenleitungshörers als anderes Hilfsmittel iSd § 3 Abs 2 EinstV. In kleinen Räumen wie beispielsweise in einem WC oder auch im Freien bei Tragen eines Hutes bzw bei stärkeren Windgeräuschen trete ein nahezu unerträgliches Pfeifen des Geräts auf, das es unverwendbar mache.

Die Ansicht des Berufungsgerichts, die Verwendung des Knochenleitungshörers sei dem Kläger dennoch zumutbar, weil er in ruhiger Umgebung etwa in seiner Wohnung Wünsche und Beschwerden äußern und auf Botschaften reagieren könne, weshalb ihm eine verbale Kommunikation mit seiner Umwelt möglich sei (siehe § 4a Abs 6 BPGG), stellt jedenfalls keine vom Obersten Gerichtshof im Einzelfall aufzugreifende Fehlbeurteilung dar.

5. Zu dem von den Vorinstanzen erzielten Ergebnis steht auch die Entscheidung 9 Rs 50/15m des Oberlandesgerichts Wien nicht in Widerspruch, weil der dort zugrundeliegende Sachverhalt anders gelagert ist (so geringe Resthörfähigkeit, dass selbst bei Verstärkung mit Hörgeräten Gesprochenes akustisch nur dann verstanden wird, wenn ein Abstand von höchstens 30 cm zum Ohr eingehalten wird und das Gesprochene mehrmals wiederholt wird und zwar so lange, bis ein Verstehen erfolgt).

6. Mit dem Vorbringen, die beim Kläger immer wieder auftretenden Schwindelanfälle hingen mit dem Tragen des Knochenleitungshörers zusammen, entfernt sich die Revision vom festgestellten Sachverhalt.

Die Revision war daher zurückzuweisen.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:OGH0002:2015:010OBS00095.15S.1001.000