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OGH vom 27.07.2010, 10ObS92/10t

OGH vom 27.07.2010, 10ObS92/10t

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Hon. Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und VPr. Susanne Höller (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Günther W*****, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich Hillegeist Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 10 Rs 80/08w 49, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits und Sozialgerichts Wien vom , GZ 10 Cgs 207/05m 45, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision der beklagten Partei wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der am geborene Kläger hat den Beruf eines Tapezierers erlernt. In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag () hat er überwiegend als angelernter Maurer gearbeitet; er verfügt auch über die wesentlichen Kenntnisse eines Maurers. Die Anforderungen in diesem Beruf übersteigen die dem Kläger verbliebene Leistungsfähigkeit (der Kläger kann keine körperlich schweren Arbeiten mehr verrichten).

Das Erstgericht erkannte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt schuldig, dem Kläger ab die Invaliditätspension in der gesetzlichen Höhe zu gewähren. Es traf nähere Feststellungen zu den Anforderungen in den Berufen eines Baumarktfachberaters in Baumärkten (Fachmarktberater) und eines Baustoffefachverkäufers (Verkäufer im Baustoffefachhandel, Baustoffehändler). Den erstgenannten Beruf schloss es als möglichen Verweisungsberuf aus, weil es dabei aufgrund durchzuführender körperlicher Schwerarbeiten zur Überschreitung des Leistungskalküls komme; außerdem komme es dabei nicht zu einer substanziellen Verwertung der handwerklichen Berufsqualifikation eines Maurerfacharbeiters. Der zweitgenannte Verweisungsberuf scheide aus, weil zwischen dem handwerklichen Lehrberuf Maurer und dem kaufmännischen Fachkraftberuf Baustoffefachverkäufer (Lehrberuf Einzelhandel Baustoffhandel) keine berufsqualifikatorische und berufliche Verwandtschaft bestehe. Da sich für den als Maurer berufstätig gewesenen Kläger am Arbeitsmarkt keine kalkülsentsprechenden verwandten Berufe fänden, seien die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Invaliditätspension gegeben.

Das Berufungsgericht gab der aus den Berufungsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens, der unrichtigen Beweiswürdigung und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung erhobenen Berufung der beklagten Partei in nichtöffentlicher Sitzung nicht Folge und bestätigte das Ersturteil mit der Maßgabe, dass es das auf Zuerkennung der Invaliditätspension ab gerichtete Klagebegehren als dem Grunde nach zu Recht bestehend erkannte; der beklagten Partei wurde die Erbringung einer vorläufigen Zahlung von 600 EUR monatlich ab aufgetragen.

Den Ausführungen unter dem Berufungsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen Beweiswürdigung entgegnete es, dass das Oberlandesgericht Wien am zu 8 Rs 5/09b ein gemeinschaftliches Gutachten der beiden berufskundlichen Sachverständigen Dr. E***** und Dr. K***** eingeholt habe, das zu den Anforderungen an Verkaufsberater in Selbstbedienungsbaumärkten einerseits und in Kombi Märkten andererseits Stellung genommen habe. Daraus ergebe sich im Wesentlichen, dass bei Verkaufsberatern in Selbstbedienungs Baumärkten phasenweise schwere Hebe und Tragebelastungen vorkämen, bei den Bauprodukte Fachberatern in Kombi Märkten jedoch nicht. Das letztgenannte Berufsbild gehe im Wesentlichen mit den erstinstanzlichen Feststellungen zum Baustoffefachverkäufer konform. Bei Verkaufsberatern in Kombi Märkten müsse eine Eignung für qualifiziertere Fachberatungs und Verkaufsfähigkeit bestehen, weshalb eine gute Kontaktfähigkeit und eine gute Kommunikationsfähigkeit erforderlich seien. Weiters sei festzuhalten, dass auch das Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz ein berufskundliches Sachverständigengutachten des Sachverständigen Dr. H***** eingeholt habe, das im Wesentlichen zu denselben Ergebnissen komme wie das gemeinschaftliche Gutachten von Dr. E***** und Dr. K*****. Daraus ergebe sich im Übrigen deutlicher, dass für die Tätigkeit von Baumarkt-Fachberatern, auch in Kombi Märkten, Maurer gerne aufgenommen würden. Hervorgehoben werde aber auch das Erfordernis der Kommunikationsfähigkeit im Sinne einer im oberen Durchschnittsbereich liegenden Kontaktfähigkeit.

Ausgehend von diesen Erhebungen hege der Berufungssenat keine Bedenken gegen die erstgerichtliche Beweiswürdigung, die dem Gutachten des Sachverständigen Dr. E***** gefolgt sei, insoweit, als bei Verkaufsberatern in Selbstbedienungs-Baumärkten das Leistungskalkül mittelschwer überschritten werde und daher für den Kläger eine Verweisbarkeit auf diesen Beruf ausgeschlossen sei. Soweit dies auch für den Verkaufsberater in Kombi Märkten gelten solle, könne den Ausführungen des Sachverständigen Dr. E***** nicht gefolgt werden; diesbezüglich bestünden grundsätzliche Bedenken des Senats, die aber aus rechtlichen Gründen nicht zum Tragen kämen. Eine Nahebeziehung des angelernten und ausgeübten Berufs zum möglichen Verweisungsberuf eines Bauprodukte-Fachberaters in Kombi Baumärkten sei nämlich nicht gegeben, weil hier eine umfassende, komplexere und individuellere Fachberatung gefordert werde als im „klassischen“ Selbstbedienungsbaumarkt. Auch wenn Fachwissen als Maurer mitverwertet werden könne, würden die praktischen und theoretischen Kenntnisse des Handwerkers gegenüber der Beratungs und Verkaufstätigkeit so weit in den Hintergrund treten, dass von einer berufsschutzerhaltenden Teiltätigkeit nicht mehr gesprochen werden könne. Die Eignung für anspruchsvollere und komplexere Beratungs und Verkaufsgespräche unter umfangreicher, wenn auch standardisierter PC Tätigkeit, sei nicht Teil des Berufsbildes des gelernten Maurers.

Da für den Kläger keine berufsschutzerhaltenden Verweisungstätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt mehr bestünden, sei er invalid gemäß § 255 Abs 1 ASVG.

Die Revision sei zulässig, weil die bisherige höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Verweisbarkeit gelernter Maurer auf Fachmarktberater nicht zwischen Beratern in Selbstbedienungsmärkten und solchen in Kombi Märkten differenziert habe und offen sei, ob die Tätigkeit eines Bauprodukt Fachberaters in Kombi Märkten noch eine den Berufsschutz eines Maurers erhaltende Teiltätigkeit sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im klagsabweisenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die klagende Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit zulässig; sie ist auch im Sinne einer Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen berechtigt.

Das Revisionsvorbringen der beklagten Partei geht zusammengefasst dahin, dass es das Berufungsgericht unterlassen habe, von Amts wegen eine Berufungsverhandlung anzuberaumen, um die in der Berufungsentscheidung (bei der Behandlung der Mängel und der Tatsachenrüge der Berufung) mitberücksichtigten weiteren berufskundlichen Sachverständigengutachten mit den Parteien im Beisein der Sachverständigen zu erörtern. Dieser Mangel werde hilfsweise als ein die Nichtigkeit des Berufungsurteils wegen Verletzung des Parteiengehörs (§ 477 Abs 1 Z 4 ZPO) bewirkender Mangel gerügt, weil das Berufungsgericht an Akteninhalte angeknüpft habe, die nicht verfahrensgegenständlich geworden seien. Infolge verfehlter Rechtsansicht hätten es die Vorinstanzen unterlassen, im Hinblick auf die Unzulänglichkeit der eingeholten Gutachten ein weiteres Gutachten aus dem Fachgebiet der Berufskunde einzuholen. In seiner rechtlichen Beurteilung habe das Berufungsgericht die Möglichkeit umfassender Verwertung der Fähigkeiten und Kenntnisse eines Maurers in der Verweisungstätigkeit eines Fachberaters im Kombi Markt unrichtig eingeschätzt und weiche dabei von der gefestigten höchstgerichtlichen Rechtsprechung ab. Es treffe auch nicht zu, dass der Sachverständige Dr. H***** zu denselben Ergebnissen komme wie das gemeinsame Gutachten Dris. E***** und Dris. K*****. Unter Berücksichtigung seiner geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit und seines Berufsschutzes als Maurer sei der Kläger in der Lage, die berufsschutzerhaltende Tätigkeit eines Baustofffachverkäufers (Bauprodukteberaters) in Kombimärkten auszuüben.

Dazu wurde erwogen:

1. Das Berufungsgericht, das in nichtöffentlicher Sitzung entschieden hat, hat seiner Entscheidung (bei der Behandlung der Mängel und der Tatsachenrüge, letztlich auch der Rechtsrüge) Beweisergebnisse aus anderen Verfahren zugrunde gelegt, zu denen die Parteien nicht Stellung nehmen konnten. Insoweit ist das Verfahren vor dem Berufungsgericht mangelhaft geblieben (4 Ob 26/02f). Die eventualiter ins Spiel gebrachte Nichtigkeit nach § 477 Abs 1 Z 4 ZPO liegt dagegen nicht vor ( E. Kodek in Rechberger , ZPO 3 § 477 Rz 7; vgl RIS Justiz RS0006002).

Die Verwertung derjenigen Ergebnisse anderer Verfahren, die das Berufungsgericht seiner Entscheidung zugrunde legen will, setzt nach § 281a Z 2 ZPO die Zustimmung der Parteien voraus. Fehlt diese Zustimmung, können nur diejenigen Beweisergebnisse verwertet werden, die aus dem gegenständlichen Verfahren stammen. Nur auf diese Weise kann gewährleistet werden, dass die Parteien auch die Möglichkeit haben, zu den Beweisergebnissen Stellung zu nehmen.

2. In diesem Sinn ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben und dem Berufungsgericht die neuerliche Entscheidung über die Berufung nach Verfahrensergänzung aufzutragen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.