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VfGH vom 16.10.1986, b91/85

VfGH vom 16.10.1986, b91/85

Sammlungsnummer

11081

Leitsatz

VersammlungsG; StGG; MRK; im Auftrag und unter der Leitung eines Beamten der Sicherheitsdirektion für NÖ durchgeführte Amtshandlungen von Gendarmeriebeamten (als Organen der Sicherheitsdirektion); gesetzlich gedeckte Auflösung einer Versammlung in der Stopfenreuther Au (mit Hinweis auf Erk. VfSlg. 10955/1986); rechtliche Grundlage für die Anwendung von Körpergewalt gegen den Bf. (durch Organe der gemäß § 17 VersammlungsG zuständigen Sicherheitsdirektion); Bf. wurde unter Anwendung von Gewalt auf einen Damm hinaufgetragen und in der Folge auf der anderen Seite des Dammes wieder hinuntergestoßen; (behauptete) Mißhandlungen nicht erwiesen; nachhaltiger (passiver) Widerstand des Bf. - Anwendung der Körperkraft durch Hinauftragen und Hinabdrängen vom Damm von der Intention her auf Versammlungsauflösung, nicht aber gegen die Menschenwürde gerichtet; Vorgangsweise der Beamten an sich maßhaltend; kein Verstoß gegen Art 3 MRK

Spruch

Der Bf. ist am in der Stopfenreuther Au durch Anwendung körperlicher Gewalt gegen seine Person durch Organe der Sicherheitsdirektion für NÖ weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. In der auf Art 144 B-VG gestützten Beschwerde wird vorgebracht, der Bf. hätte am in der Stopfenreuther Au an der "Versammlung zahlreicher Menschen" teilgenommen, welche den Beginn der Vorarbeiten für das Donaukraftwerk Hainburg verhindern wollten.

Der Bf. sei am genannten Tag gemeinsam mit zwei Freunden und anderen Demonstranten in einer Mulde beim Hubertusdamm gesessen. Die Demonstrantengruppe von etwa hundert Personen sei von Gendarmeriebeamten umstellt worden, welche in der Folge begonnen hätten, nach und nach die sitzenden Manifestanten wegzuzerren, auf den Damm hinaufzubringen, um sie dann auf der anderen Seite hinunterzustoßen. Der Bf. sei einer der letzten gewesen, der weggetragen worden sei. Der Bf. sei von drei Gendarmeriebeamten so gepackt worden, daß er rechts und links bei den Schultern und Händen sowie durch den dritten Beamten bei den Füßen gehalten und auf den Damm hinaufgetragen worden sei. Der Bf. habe sich vollkommen passiv verhalten. Die Gendarmeriebeamten hätten auch in keiner Weise unnötig gewalttätig oder brutal gehandelt. Auf der Krone des Dammes hätten sich zwei Beamte der Wr. Polizei befunden. Ein Polizist habe den Bf. bei den Haaren oberhalb der Schläfe gepackt und mit der anderen Hand mit der Faust auf den Kopf geschlagen. Zu diesem Zeitpunkt sei der Bf. noch immer von den drei Gendarmeriebeamten gehalten worden. Der zweite Polizeibeamte habe den Bf. mit dem Fuß auf dessen Fuß getreten. Dann habe sich die Kette der auf der Krone des Dammes befindlichen Gendarmen geöffnet, und der Bf. sei von allen fünf Beamten auf einmal mit großem Schwung die letzte Stufe des Dammes hinuntergeworfen worden. Der Bf. sei durch die Luft geflogen und so unglücklich zu Sturz gekommen, daß sein linker Fuß verdreht worden sei und er sich dadurch eine Bänderzerrung zugezogen habe.

Der Bf. beantragt, der VfGH wolle erkennen, daß er durch die gesetzwidrige bzw. unverhältnismäßige Anwendung körperlichen Zwanges in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter sowie darauf, nicht unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden ist. Der Verstoß gegen das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird vom Bf. darin erblickt, daß die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf vom , 11 A/84, auf welche sich das Vorgehen der Exekutive am im Gebiet der Stopfenreuther Au gestützt habe, einerseits verfassungswidrig sei, und daß andererseits die in Beschwerde gezogenen Amtshandlungen sich außerhalb des räumlichen Geltungsbereiches dieser Verordnung abgespielt hätten. Die Verletzung des Art 3 MRK liegt nach Auffassung des Bf. darin, daß das Vorgehen der Beamten gegen ihn (Schlagen auf den Kopf, Treten auf den Fuß, schwungvolles Hinunterwerfen über den Hang) nicht maßhaltend gewesen sei, die Maßnahme sei nicht nur unverhältnismäßig, sondern überhaupt nicht notwendig gewesen.

Der Bf. beantragt daher, der VfGH wolle erkennen, daß er durch die geschilderte Anwendung körperlicher Gewalt gegen seine Person in den angeführten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt worden sei.

2. Die Sicherheitsdirektion für NÖ hat die Abweisung der Beschwerde beantragt und darauf hingewiesen, daß der Einsatz der Gendarmeriebeamten sowie der Beamten der Bundespolizeidirektion Wien (die, wie sich aus den Akten ergibt, vom Bundesminister für Inneres am der Sicherheitsdirektion für NÖ zur Dienstleistung zugeteilt worden waren) unter der Leitung der Sicherheitsdirektion für NÖ und zwar des Sicherheitsdirektors Hofrat Dr. S und seines Vertreters, OR Mag. W, erfolgt sei.

Die Versammlung im Bereich des Rodungsgebietes sei erstmals um 7.30 Uhr des sowie im Lauf des Vormittags mehrmals mittels Megaphons für aufgelöst erklärt worden. Die Demonstranten hätten jedoch der wiederholten Aufforderung, den Versammlungsort zu verlassen, keine Folge geleistet. Der Bf. gebe selbst zu, sich zusammen mit anderen Personen niedergesetzt zu haben und von Gendarmeriebeamten weggetragen worden zu sein. Dieser Schilderung sei zu entnehmen, daß der Bf. an Ort und Stelle verblieben sei und den Anordnungen der Behörde zumindest passiven Widerstand entgegensetzt habe. Es sei jedenfalls schon nach der eigenen Darstellung des Bf. als erwiesen anzunehmen, daß er der Aufforderung, den Versammlungsort zu verlassen, nicht Folge geleistet habe.

Die Sicherheitsdirektion stützt die Anwendung von Zwangsmitteln - nach erfolgter Auflösung der Versammlung - auf § 14 Abs 2 Versammlungsgesetz 1953. Unter den damals gegebenen Umständen (teils passiver, teils aktiver Widerstand großer Demonstrantengruppen, wiederholte Versuche von Demonstranten und Gruppen, in das Einsatzgebiet zurückzukehren, relativ begrenzte Fläche der Dammkrone, tumultartige Zustände), welche es praktisch unmöglich gemacht hätten, Amtshandlungen gezielt auf einzelne Demonstranten abzustellen, hätten sich die Zwangsmittel der Exekutive keineswegs als unangemessen dargestellt, sie seien vielmehr notwendig und maßhaltend vor sich gegangen.

II. Der VfGH hat über die - zulässige Beschwerde erwogen:

1. Die bekämpften Amtshandlungen wurden - worauf auch die Sicherheitsdirektion für NÖ und die Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf im verfassungsgerichtlichen Verfahren übereinstimmend hingewiesen haben - im Auftrag und unter der Leitung eines Beamten der Sicherheitsdirektion für NÖ durchgeführt. Sie sind somit dieser Behörde zuzurechnen (s. VfSlg. 8545/1979, S 313). Die einschreitenden Beamten vollzogen die hier bekämpften Maßnahmen für die Sicherheitsdirektion, als deren Hilfsorgan sie tätig wurden und deren Vollzugsgewalt sie im konkreten Fall gehandhabt haben (vgl. VfSlg. 8146/1977, S 157 sowie insbesondere VfSlg. 10916/1986).

Belangte Behörde ist hier daher die Sicherheitsdirektion für NÖ.

2. Es steht fest, daß am in der Stopfenreuther Au eine Versammlung stattgefunden hat (vgl. hiezu die auch hier maßgeblichen Ausführungen im Erk. des VfGH VfSlg. 10955/1986 und die dort zitierte Judikatur zum Versammlungsrecht), welche von der Behörde untersagt und für aufgelöst erklärt worden ist (im Vergleich zur Auflösung der Versammlung vom , welche den Gegenstand der Beschwerde zu B44/85 bildete, kommt hier noch hinzu, daß die Versammlung inzwischen auch bescheidmäßig untersagt worden war). Die Umstände, die zur Untersagung - deren Rechtmäßigkeit auch in der vorliegenden Beschwerde nicht in Zweifel gezogen wird - hinzuzutreten haben, um eine Versammlungsauflösung zu rechtfertigen (s. insbesondere VfSlg. 10443/1985), waren hier ebenfalls gegeben. Es wird in der Beschwerde nicht der geringste Zweifel daran gelassen und lag auch für die Behörde auf der Hand, daß die am in der Stopfenreuther Au versammelten Personen in der Absicht an der Versammlung teilnahmen, die Durchführung von Bauarbeiten zu verhindern. Ohne die Auflösung der Versammlung wären also zwei der in Art 11 Abs 2 MRK aufgezählten Schutzgüter (die Aufrechterhaltung der Ordnung und der Schutz der Rechte anderer) gefährdet gewesen.

Aus diesen Erwägungen folgt, daß die - gemäß § 17 Versammlungsgesetz 1953 zuständige (vgl. auch hiezu ) - Sicherheitsdirektion zum Einsatz physischer Gewalt zur Durchsetzung der Auflösung der Versammlung befugt war. Die Behauptung des Beschwerdeführers, die Anwendung von Körpergewalt gegen ihn sei ohne rechtliche Grundlage erfolgt, trifft somit nicht zu.

3. a) Zu der gegen den Bf. im besonderen gerichteten Gewaltanwendung von seiten der Exekutive hat der Bf. dem VfGH über dessen Aufforderung bekanntgegeben, daß H M, R H sowie H G aus eigener Wahrnehmung die Geschehnisse, die zur Verletzung des Bf. geführt hätten, sowie die in der Beschwerde wiedergegebenen Mißhandlungen bezeugen könnten; die Sicherheitsdirektion für NÖ hat zum Beweis dafür, daß die in der Beschwerde behaupteten Maßnahmen gegen den Bf. nicht gesetzt worden seien, den Oberstleutnant bei der Bundespolizeidirektion Wien G N als Zeuge namhaft gemacht.

Der VfGH hat daraufhin Beweis erhoben durch die Einvernahme der Zeugen M, H und N sowie des Bf. als Partei im Rechtshilfewege.

Die vernommenen Demonstranten haben übereinstimmend angegeben, die am Fuße des Dammes sitzenden Demonstranten seien von Exekutivbeamten auf den Damm gehoben und sodann vom Damm mit Gewalt "hinuntergedrängt" (Zeuge H), "hinuntergeworfen" worden (Zeuge M: "Ich bin nicht sehr weit geflogen, ich bin das letzte Stück hinuntergekollert"). Der Bf. hat bei seiner Vernehmung als Partei im wesentlichen sein diesbezügliches Beschwerdevorbringen (s. oben unter Punkt I.1.) wiederholt. Die mit dem Bf. bekannten bzw. befreundeten Zeugen M und H gaben an, vom Bf. in dem Augenblick getrennt worden zu sein, in welchem sie auf den Damm hinaufgetragen worden seien und den Bf. erst nach Abschluß der Amtshandlung am Boden sitzend verletzt vorgefunden zu haben. Darüber, in welcher Weise der Bf. auf den Damm hinaufgetragen wurde, ob und wie dort Beamte gegen ihn vorgegangen sind, und wie der Bf. auf der anderen Seite des Dammes wieder hinuntergestoßen worden ist, konnten die Zeugen keine Angaben machen.

b) Aufgrund des Beweisverfahrens steht fest, daß der Bf. von Organen der Sicherheitsdirektion für NÖ unter Anwendung von Gewalt auf den Damm hinaufgetragen und in der Folge auf der anderen Seite des Dammes wieder hinuntergestoßen worden ist.

Die vom Bf. behaupteten Mißhandlungen (Schlag auf den Kopf, Treten mit den Füßen, schwungvolles Hinunterwerfen über den Damm durch fünf Beamte) kann der VfGH jedoch aufgrund der oben dargestellten Beweislage nicht als erwiesen annehmen. Keiner der beiden vom Bf. zunächst als Augenzeugen hingestellten - mit dem Bf. überdies näher bekannten - Zeugen M und H - auf die Vernehmung des vermeintlichen dritten Augenzeugen G hat der Bf. verzichtet - konnte die Angaben des Bf. bestätigen. Dazu kommt, daß die Zeugen M und H, welche die ganze Zeit über zumindest in der Nähe des Bf. waren, selbst keine Mißhandlungen, wie sie der Bf. den Exekutivorganen anlastet, beobachtet haben; auch behaupten sie nicht, selbst mißhandelt worden zu sein. Auch die - bescheinigte - Fußverletzung des Bf. ist noch kein Nachweis dafür, daß der Bf. "mit großem Schwung" den Damm hinuntergeworfen wurde.

c) Durch den vom VfGH als erwiesen angenommenen Sachverhalt ist der Bf. aus folgenden Erwägungen nicht im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht nach Art 3 MRK verletzt worden:

Der Bf. hat sich nach seinem eigenen Vorbringen den behördlichen Anordnungen beharrlich widersetzt, indem er sich auf den Boden setzte und nicht wegging. Dieses Verhalten des Bf. zeigt deutlich, daß es für die Beamten sehr schwierig war, die Auflösung der Versammlung durchzusetzen. Angesichts des nachhaltigen (passiven) Widerstandes des Bf. (und offensichtlich vieler anderer Versammlungsteilnehmer) war die Anwendung von Körperkraft in der Form des Hinauftragens auf der einen Seite und des Hinabdrängens vom Damm auf der anderen Seite schon von der Intention her auf den Zweck der Amtshandlung (Auflösung der Versammlung), nicht aber gegen die Menschenwürde gerichtet.

In Anbetracht der gesamten Situation und der beharrlichen Haltung einer großen Anzahl von Manifestanten, der sich die Beamten gegenüber sahen, kann auch nicht in Abrede gestellt werden, daß die Vorgangsweise der Beamten an sich maßhaltend war, um so die Befolgung der behördlichen Anordnung zu erreichen. Dem Verhalten der Beamten lag hiebei - worauf wiederholend hinzuweisen ist - der Zweck der Amtshandlung, nicht aber eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Mißachtung der Versammlungsteilnehmer zugrunde (vgl. hiezu die ständige Rechtsprechung des VfGH zu Art 3 MRK im allgemeinen, zB VfSlg. 9385/1982, S 318, und die dort angeführte Vorjudikatur, sowie im gegebenen Zusammenhang insbesondere die ähnlichen Erwägungen über das Ziehen an den Haaren sowie heftiges Schieben und Stoßen bei beengter räumlicher Situation und passivem Widerstand des Bf. in VfSlg. 8580/1979, S 446).

Beizufügen bleibt, daß die obigen Erwägungen nicht in Widerspruch zu den Erk. VfSlg. 8145/1977 und 8146/1977 stehen, weil die dort festgestellten Verstöße gegen Art 3 MRK auf gänzlich anders gelagerten Sachverhalten beruhten (im Falle des Erk. VfSlg. 8145/1977 hatte der von Gendarmeriebeamten an der Hose ergriffene, schnell geschobene und heftig in einen Raum gestoßene Bf. keinen wie immer gearteten Widerstand geleistet und im Falle des Erk. VfSlg. 8146/1977 war der bereits von mehreren Gendarmeriebeamten erfaßte Bf. im Verlauf seiner Eskortierung an den Haaren gezogen worden).

4. Da der Bf. durch die bekämpfte Amtshandlung weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden ist, wird die Beschwerde abgewiesen.