OGH vom 20.11.2018, 10ObS88/18s
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann, sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas und Mag. Michael Mutz (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei E*****, vertreten durch Dr. Manuela SchipflingerKlocker, Rechtsanwältin in Dornbirn, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84–86, vertreten durch Dr. EvaMaria BachmannLang und Dr. Christian Bachmann, Rechtsanwälte in Wien, wegen Feststellung von Schwerarbeitszeiten, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 25 Rs 30/18z40, mit dem das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 36 Cgs 311/16h33, aufgehoben wurde, beschlossen und zu Recht erkannt:
Spruch
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst zu Recht erkannt, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die klagende Partei hat die Kosten des Rechtsmittelverfahrens selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der am geborene, 110 kg schwere Kläger betrieb von bis als selbständiger Einzelunternehmer eine Tankstelle. Dabei war er auch als Gefahrengutlenker zum Transport und zur Auslieferung von Heizöl sowie Diesel im Nahverkehr und als Tankwart tätig. Er arbeitete von Montag bis Freitag jeweils von 7:30 bis 18:00 Uhr und an manchen Tagen auch bis 18:30 Uhr. Am Samstag arbeitete er von 7:30 Uhr bis 14:00 Uhr, am Sonntag nicht.
Der Kläger stellte Diesel und Heizöle mit einem von ihm gelenkten Lkw an seine Kunden zu. Um das Transportgut in die jeweilige Lagerstätte zu befördern, musste er einen rund 40 m langen Schlauch mindestens 4 bis maximal 10 mal pro Tag herausziehen und in der Folge wieder aufrollen. Für den Ausziehvorgang benötigte er 3 bis 4 min. Dann schloss er den Schlauch am Hausanschluss an, überwachte den Einfüllvorgang im Keller, ging wieder nach oben zum Lkw und überprüfte die Dichtheit aller Anschlüsse. Nach Ende des Abfüllvorgangs, der je nach Menge des gelieferten Brennstoffs zwischen 20 bis 35 min dauerte, hatte der Kläger den Schlauch abzuhängen und zum Lkw zu tragen, was wiederum 4 bis 5 min dauerte. Das Aufrollen des Schlauchs selbst funktionierte hydraulisch und dauerte 2 bis 3 min. Wenn der Kläger das Heizöl/den Diesel beim Kunden abgeladen hatte und sein Tankwagen leer war, fuhr er zur Tankstelle zurück, um dort neu zu befüllen. Während dieses etwa 35 min dauernden Vorgangs musste er nur die Zuleitungen an und abschließen sowie überwachen. Hebe- und Haltearbeiten waren nicht notwendig. Der Kläger musste im Durchschnitt 2 mal pro Woche zwei Kanister heben und ein bzw ausladen. Ein Kanister wog 20 kg. 2 x pro Woche musste er auch ein 50 bis 55 kg wiegendes Fass in sein Auto heben und beim Kunden wieder ausladen. Ein und Ausladen erforderte 6 bis 7 min.
Der Kläger verrichtete täglich ca zwei Stunden Büroarbeit. An fünf Tagen die Woche hatte er von 18:00 Uhr bis 22:00 Uhr Bereitschaftsdienst. Der Kläger musste seine Wohnung verlassen, um Kunden zu helfen, wenn dies notwendig war. Dafür musste er hin und zurück jeweils 36 Stufen überwinden und verbrauchte dabei insgesamt 18 Arbeitskilokalorien. Wie oft er dies tun musste, ist nicht feststellbar.
Ohne das Überwinden der Stufen verbrauchte der Kläger durchschnittlich bei einem 11,5 StundenTag 1.556 Arbeitskilokalorien pro Arbeitstag.
Die beklagte Sozialversicherungsanstalt für gewerbliche Wirtschaft stellt mit Bescheid vom fest, dass von bis keine Schwerarbeitszeiten vorliegen.
Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Feststellung der Zeiten von bis als Schwerarbeitszeiten. Dabei strebt er die individuelle, sein Alter von 62 Jahren und sein Körpergewicht von 110 kg berücksichtigende Berechnung des Kalorienverbrauchs an.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Kläger habe im relevanten Zeitraum nicht zumindest an 15 Tagen im Monat mindestens 2.000 Arbeitskilokalorien pro Tag verbraucht.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge und hob das Urteil des Erstgerichts zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Für die Beurteilung von Schwerarbeitszeiten sei nach der Rechtsprechung auf die konkrete Ausgestaltung der vom Versicherten im relevanten Zeitraum verrichteten Tätigkeit abzustellen. Somit sei auf individuelle Umstände einzugehen. Die vom Hauptverband angebotene Berufsliste sei ein reiner Verwaltungsbehelf ohne rechtlichen Charakter und für die Gerichte nicht bindend. Die zu 10 ObS 140/10a geäußerten Bedenken des Obersten Gerichtshofs an der Eignung des, in der Praxis nicht feststellbaren individuellen Kalorienverbrauchs als sachliches Kriterium für das Vorliegen von Schwerarbeit habe der Verfassungsgerichtshof nicht geteilt. Aus seiner Entscheidung lasse sich dennoch ableiten, dass auf individuelle Umstände – konkrete körperliche Eigenschaft und Alter – abzustellen sei, wenn die durch das Abstellen auf typisierte Berufstätigkeiten abstellende Durchschnittsbetrachtung zu keinem objektiv richtigen Ergebnis führe. Im konkreten Fall habe der (berufskundige) Sachverständige die Tätigkeit des Klägers während eines durchschnittlichen 11,5 StundenArbeitstags nach der Körperstellung und Art der Arbeit beurteilt, es jedoch abgelehnt, den konkreten tatsächlichen Kalorienverbrauch des Klägers aufgrund körperlicher bzw medizinischer Konstitution zu berücksichtigen, weil dies nicht in sein Fachgebiet falle und von der Schwerarbeitsverordnung nicht gefordert werde. Diese auch vom Erstgericht vertretene Ansicht sei nicht zu teilen. Es müsse daher versucht werden, in einem geeigneten Gutachten auf die jeweiligen individuellen körperlichen Eigenschaften des Klägers (Alter, Gewicht) Bedacht zu nehmen. Die von der Schwerarbeitsverordnung auch geforderte pauschale oder durchschnittliche Betrachtungsweise werde ohne weiters dadurch gewährt, dass das jeweils beim Kläger gegebene Körpergewicht und sein jeweiliges Lebensalter in solche Abschnitte zusammengefasst werden könnten, in denen diese Parameter keine wesentliche Auswirkungen auf den TagesArbeitsenergiesatz des Klägers gehabt hätten.
Die Revision sei zuzulassen, weil sich diese Ansicht des Berufungsgerichts nicht auf die höchstgerichtliche Judikatur stützen könne.
Rechtliche Beurteilung
Der – beantwortete – Rekurs der Beklagten ist zulässig und im Sinne einer Wiederherstellung des die Klage abweisenden Urteils des Erstgerichts in der Sache auch berechtigt.
1.1 Als Tätigkeiten, die unter körperlich oder psychisch besonders belastenden Bedingungen erbracht werden, gelten alle Tätigkeiten, die geleistet werden als schwere körperliche Arbeit, die dann vorliegt, wenn bei einer achtstündigen Arbeitszeit von Männern mindestens 8.374 Arbeitskilojoule (2.000 Arbeitskilokalorien) und von Frauen mindestens 5.862 Arbeitskilojoule (1.400 Arbeitskilokalorien) verbraucht werden (§ 1 Abs 1 Z 4 Schwerarbeitsverordnung, BGBl II 2006/104 idF BGBl II 2013/201).
1.2 Ob eine bestimmte Tätigkeit als schwere körperliche Arbeit iSd § 1 Abs 1 Z 4 gilt, ist nach § 3 SchwerarbeitsV nach den in der Anlage zu dieser Verordnung festgeschriebenen Grundsätzen festzustellen.
1.3 Nach Punkt 2.2 dieser Anlage (Einstufung von beruflichen Tätigkeiten als schwere körperliche Arbeit) erfolgte die Einstufung von beruflichen Tätigkeiten als „energetische Schwerarbeit“ nach folgenden Grundsätzen: Die ArbeitsenergieumsatzRichtwerte werden nach arbeitsmedizinischen Standards ermittelt. Auf dieser Grundlage werden Tätigkeitsbeschreibungen mit ihren Joule- Verbrauchswerten erstellt und hinsichtlich ihrer Dimensionen umgerechnet. Schließlich wird geprüft, ob durch die mit einem bestimmten Beruf verbundenen Tätigkeiten (Tätigkeitsbilder) die vorgegebene Kilojoulegrenze pro Tag erreicht oder überschritten wird.
2.1 Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die in der SchwerarbeitsV gewählte „Energieumsatzmethode“, bei der der Kalorienverbrauch der betreffenden Tätigkeit aus einer Zusammenschau der einzelnen Durchschnittsbelastungen sachverständig ermittelt wird, bestehen nach dem – bereits vom Berufungsgericht zitierten – Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom , G 20/11 ua, V 13/11 ua, nicht. Nach diesem Erkenntnis spricht gerade die Tatsache, dass die täglichen Arbeitsabläufe der Vergangenheit nicht einmal annähernd dargestellt werden könnten, für die Heranziehung einer Durchschnittsbetrachtung. Es ist nämlich in der Praxis unmöglich, bei der Beurteilung des Arbeitskalorienverbrauchs bei jeder einzelnen Person die subjektive Beschaffenheit (zB Körpergewicht) und sonstige Faktoren (zB Arbeitsgeschwindigkeit, Geschicklichkeit, Arbeitsbedingungen) mit der Arbeitsleistung in Relation zu setzen. Die Berücksichtigung von zusätzlichen Einflussfaktoren wird durch die besonderen Tatbestände sichergestellt. Bei ungewöhnlichen Fallkonstellationen ist ein spezielles Gutachten einzuholen.
2.2 Ungeachtet der abstrakten Vorgaben, die von einer Durchschnittsbetrachtung ausgehen, ist im Einzelfall der Beweis eines darüber hinausgehenden Kalorienverbrauchs zulässig (VfGH G 20/11). So können die Versicherten nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nachweisen, dass sie aufgrund einer längeren, die gesetzliche Normalarbeitszeit von acht Stunden pro Arbeitstag übersteigenden täglichen Arbeitszeit oder aufgrund der besonderen Schwere der Tätigkeit auch bei kürzeren Arbeitszeiten den geforderten Arbeitskilojoule oder Arbeitskilokalorienverbrauch erreichen (RISJustiz RS0129751; RS0129750 zu längeren Arbeitszeiten).
2.3 Dieser im Einzelfall zulässige Nachweis beruht auf objektiven Kriterien wie tatsächliche Arbeitszeit und Schwere der Tätigkeit und bedeutet keine Individualisierung nach körperlicher Konstitution (Alter und Körpergewicht), wie sie der Kläger hier erreichen möchte. Gerade die auf die körperliche Konstitution abstellende Ermittlung des individuellen Kalorienverbrauchs führt zu einer Ungleichbehandlung: größere, schwere Menschen (mit unter Umständen eingeschränkter Kondition) würden aufgrund ihres erhöhten Kalorienverbrauchs gegenüber kleineren, leichtgewichtigeren („fitteren“) Personen bevorzugt. Die Ermittlung des – in manchen Fällen stark schwankenden – Körpergewichts über einen langjährigen Zeitraum widerspricht zudem dem Ziel des Gesetzgebers, die Beurteilung von Schwerarbeit durch allgemeine Richtlinien und Orientierungen zu vereinfachen und in der Praxis für den Regelfall damit überhaupt zu ermöglichen.
3. Im vorliegenden Fall wurde, wie vom Obersten Gerichtshof gefordert (10 ObS 117/16b, SSVNF 30/82 = DRdA 2017, 400/43 [Bell] mwN), die konkrete Ausgestaltung der vom Kläger im maßgebenden Zeitraum verrichteten Tätigkeit festgestellt. Der berufskundige Sachverständige berücksichtigte in seinem Gutachten die konkrete Tätigkeitsbeschreibung durch den Kläger und ermittelte auf dieser Basis nach Körperstellung und Art der Arbeit sowie Arbeitspausen bzw Leerzeiten den durchschnittlichen Arbeitskilokalorienverbrauch, ohne den konkreten tatsächlichen Kalorienverbrauch aufgrund körperlicher Konstitution zu ermitteln. Das Erstgericht hat den durchschnittlichen Kilokalorienverbrauch auf Basis dieses Gutachtens festgestellt. Seine – Faktoren wie Körpergewicht und Alter des Klägers nicht einbeziehende – Beurteilung ist zulässig. Nach dem festgestellten Sachverhalt ist dem Kläger der im Einzelfall zulässige Nachweis, dass er aufgrund seiner konkreten Tätigkeit die in § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsV geforderten Grenzwerte erreicht hat, nicht gelungen. Die vom Berufungsgericht aufgetragene Ergänzung des Verfahrens durch Einholung eines, auf die individuellen körperlichen Eigenschaften des Klägers (Alter, Gewicht) abstellendes (medizinisches) Gutachten hat aus den dargelegten Erwägungen nicht zu erfolgen.
4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Anhaltspunkte für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit bestehen nicht.
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2018:010OBS00088.18S.1120.000 |
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